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Die Regierungszeit von Mustafa Kemal Atat ü rk

1. Historischer Kontext: Beziehungen des Osmanischen Reiches und der

1.4. Die Regierungszeit von Mustafa Kemal Atat ü rk

gelte.188Diese Gesetzgebung wurde jedoch nach kurzer Zeit wieder aufgehoben.

Trotz ihrer Kurzlebigkeit beinhaltete sie wichtige Änderungen. So wurde die Familie als eine offizielle Institution anerkannt und das Heiratsalter der Mä d-chen von 9 auf 18 Jahre angehoben. Hier wurde zum ersten Mal die »Scheidung«

neu definiert und vom religiösen Verständnis des »tal.k« (Austreiben, Raus-werfen der Ehefrau) losgelöst. Zudem wurde die Polygamie beschränkt.189

Inspiriert durch die jungtürkische Revolution und den Fortschrittsgedanken entstanden zahlreiche soziale und politische Organisationen, darunter solche von Frauen, mit emanzipatorischen Zielen, die durch die Gründung von Ver-einen und Zeitschriften in dieÖffentlichkeit traten.190Insgesamt erschienen im Jahre 1908 in Istanbul 24 Wochen- und Monatszeitschriften von Frauen.191Die meisten waren jedoch kurzlebig und erschienen nicht länger als ein Jahr, weil im Jahre 1909 die Pressezensur wieder eingeführt wurde. Die meisten in diesem Zeitraum entstandenen Frauenzeitschriften waren eng mit der jungtürkischen Bewegung verbunden und wurden vom ITC unterstützt.192In dieser Epoche, die bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches dauerte, verstärkten sich dank der jungtürkischen Regierung die Modernisierungstendenzen.193 Während dieses Prozesses fanden zunehmend Frauen der gebildeten und elitären Schicht der Gesellschaft die Möglichkeit, sich für ihre Anliegen zu organisieren und den öffentlichen Raum mit ihren Zeitschriften, Aktionen und Vereinstätigkeiten zu betreten.

tional anerkannt und wandte sich nun der inländischen Rekonstruktion zu.196 Um dies zu tun, suchte die Türkei unter der Führung von Mustafa Kemal friedliche Beziehungen insbesondere mit den Nachbarländern. Diese Bezie-hungen basierten auf gegenseitiger Anerkennung als unabhängigen Staaten und auf reziproken Annäherungen. Im Juli 1932 wurde die Türkei in den Völkerbund aufgenommen.197Die türkische Republik wurde damit als gleichwertiger Staat in der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt, der die Bedingungen der Völkerbundssatzung erfüllte. Die Aufnahme der Türkei in den Völkerbund brachte auch eine Wende in den Beziehungen der Türkei mit verfeindeten Ländern mit sich. Beziehungen mit mehreren europäischen Ländern wurden hergestellt.198

Die Aufnahme der Türkei als Mitgliedsstaat in den Völkerbund verzögerte sich in den 1920er Jahren durch die Mosulfrage. Die ehemalige osmanische Provinz Mosul, auf die die Türkei bis in die 1930er Jahre hinein Anspruch hatte, wurde auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 unter britisches Mandat ge-stellt.199Neben der Mosulfrage steigerte auch der Vertrag von SHvres von 1920 die Enttäuschung der Türkeiüber den Völkerbund.200Gemäßdem Vertrag mussten die Meerengen des Bosporus sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten für Handel und Militär aus jedem Land offen sein.201Neben den Fragen der Min-derheiten, der Mandatsgebiete und der Meerengen war der türkische Staat in Bezug auf türkische Minderheiten in Griechenland und in Makedonien miss-trauisch gegenüber dem Völkerbund. Der Völkerbund ging auf diese Anliegen nicht ein.202Obwohl die türkischeÖffentlichkeit und der Staat den Völkerbund als ein Instrument der Entente-Mächte für die Weltherrschaft sahen und ihn als eine Fehlkonstruktion betrachteten, mussten sie davon ausgehen, dass der türkische Staat vom Völkerbund nicht isoliert bleiben dürfe. Die Türkei müsse Mitglied werden, um erstens die »Intrigen« der Entente-Mächte gegenüber der Türkei zu verhindern und zweitens an der Verbesserung des Völkerbundes als eines internationalen Friedensinstruments zu arbeiten.203

Bis zum Beitritt zum Völkerbund blieb die Türkei von Aktivitäten des Vö l-kerbundes nicht isoliert.204Im Jahre 1928 trat sie derPreparatory Commission for the Disarmament Conferencebei. Dieser Beitritt wurde durch die Vermittlung 196 GüÅlü, Yücel.Turkey’s Entrance into the League of Nations.In: Middle Eastern Studies 39

(2010) 1, S. 186–206, S. 191.

197 Ebd., S. 195.

198 Ebd., S. 199.

199 Kramer; Reinkowski,Die Türkei und Europa2008, S. 112.

200 GüÅlü,Turkey’s Entrance into the League of Nations2010, S. 187.

201 Ebd., S. 186.

202 Ebd., S. 189.

203 Ebd., S. 190.

204 Ebd., S. 194.

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der Balkanländer möglich, mit denen die Türkei gute Beziehungen pflegte und die die Abrüstungsfrage nicht ohne die Einbeziehung der Türkei in die Dis-kussionen abhandeln wollten. Kurz danach erhielt die Türkei einen Sitz im Advisory Committee on Traffic in Opiumund unterschrieb die International Opium Convention.Türkische Delegierte waren auch in derBriand Commission of Enquiry for European Unionund in derInternational Labour Organization vertreten.

Die Türkei konnte dank des Aufbaus von Beziehungen mit Nachbarländern und europäischen Ländern sowie mit der Sowjetunion verhindern, dass sie in den Zweiten Weltkrieg verwickelt wurde. Vor allem wirtschaftliche Beziehungen mit Deutschland wurden in den Jahren 1941 und 1942 intensiviert.205Obwohl die Türkei mit Nazi-Deutschland friedliche Beziehungen unterhielt, erklärte sie am 23. Februar 1945 Deutschland offiziell den Krieg, dies war aber mehr ein sym-bolischer Akt, um sich als Mitglied der Vereinten Nationen zu qualifizieren.206 Zur inländischen Rekonstruktion gehörte eine Modernisierungspolitik, die sich gänzlich nach westlichem Vorbild gestaltete. So wurde das Kalifat abge-schafft (1924) und im Jahr 1926 das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1912 übernommen.207Die neue Verfassung hob die Polygamie auf und erkannte die Familie als Institution an. Der Initiator für die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches war der damalige Justizminister Mahmut Esat Bozkurt (1892–

1943).208Bozkurt studierte und promovierte in den 1910er Jahren Rechtswis-senschaften an der Universität Freiburg im Üechtland und war Mitglied des Foyer Turcsin Lausanne.

Zu den Reformen gehörten die Einführung der Jahreszählung ab Christi Geburt, die internationalen Zeitzonen (1926) und das lateinische Alphabet (1928). Um die türkische Sprache von arabischen und persischen Elementen zu

»reinigen«, wurde im Jahr 1932 eine wissenschaftliche Institution, die Türkische Sprachgesellschaft (Türk Dil Kurumu), ins Leben gerufen, die die Schriftsprache von Grund auf veränderte.209Mit diesen Reformen versuchte die türkische

Re-205 C¸avdar, Tevfik.Türkiye’nin Demokrasi Tarihi (Die Demokratiegeschichte der Türkei). An-kara 1999–2000, S. 367f.

206 Zürcher,Turkey2007, S. 205.

207 Kieser, Hans L; Meier, Astrid et al.Türkische Rechtsrevolution, eine Geschichte transkul-tureller Interaktion (Einleitung).In: Hans L. Kieser/Astrid Meier/Walter Stoffel (Hrsg.).

Revolution islamischen Rechts. 80 Jahre Schweizerisches ZGB in der Türkei.Zürich 2008, S. 9–20, S. 9.

208 Kieser,Mahmut Bozkurt und die »Revolution des Rechts« in der jungen Republik Türkei 2008, S. 49.

209 Lewis, Geoffrey.The Turkish Language Reform. A Catastrophic Success.Oxford, New York 1999, S. 45.

gierung, mit der vorherigen osmanischen Ordnung vollständig zu brechen und eine neue Ordnung nach westlichem Vorbild zu erschaffen.210

Nach der Gründung der Republik führt die türkische Regierung die Homo-genisierungspolitik im Land weiter. Diese Politik erreichte radikalere Dimen-sionen.211So wurden Bewilligungen für die Ausübung bestimmter Berufe wie Medizin, Anwaltschaft etc. nur denjenigen erteilt, die türkisch-muslimisch waren, und es wurde beschlossen, dass bestimmte Berufe nur Türken ausüben durften. Diese arbeitsmarktrechtliche Politik löste weitere Auswanderungen der griechischen und armenischen Bevölkerung aus.

Im Zuge der Modernisierungspolitik brachte die türkische Regierung unter der Führung von Mustafa Kemal (Atatürk) wichtige Neuerungen für die recht-liche Situation der Frauen, nämlich die Abschaffung der Polygamie im Jahre 1926, die Einführung des eingeschränkten Wahlrechts für Frauen bei lokalen Wahlen im Jahre 1930 und die Gewährung der vollen Bürgerrechte für Frauen in der Verfassung von 1934. Im Jahre 1925 wurde das Hutgesetz eingeführt, welches das Tragen des Fes (Kopfbedeckung muslimischer Männer im Osmanischen Reich) verbot. Im Rahmen dieses Gesetzes wurde die Verschleierung von Staatsbediensteten anöffentlichen Orten verboten. Durch diese Kleiderreform sollte symbolisch mit der alten osmanischen Ordnung gebrochen werden. Ins-besondere die Verhüllung zeigte für Kemalisten die Rückschrittlichkeit der is-lamisch-osmanischen Vergangenheit. Mit ihrer Beseitigung sollte die westliche Orientierung und die kemalistische Revolution demonstriert werden.212 Die kemalistischen Reformen trugen kaum zur Veränderung der traditionellen Geschlechterrollen in der Türkei bei. Frauen der Oberschicht profitierten von den Reformen und machten Karriere. Prominent waren die Adoptivtöchter von Mustafa Kemal wie Ays¸e Afetinan, die Karriere als Historikerin machte, und Sabiha GökÅen, die eine militärische Ausbildung erhielt und Pilotin wurde. Sie wurden zum Sprachrohr der nationalistischen Politik und traten in der Ö f-fentlichkeit als Symbolfiguren der modernen türkischen Frauen auf.213

Der türkische Staat unternahm aber keine Maßnahmen, um die Situation der Frauen der Unterschicht zu verbessern.214 Frauen waren weiterhin auf einen 210 BilgiÅ, Esra Ercan. The Role of the Press in the Construction of National Identity

(1934–1937).Istanbul 2010, S. 35.

211 Aktar,Conversion of a »Country« into a »Fatherland«2010, S. 31f.

212 Göle, Nilüfer.Feminismus, Islamismus und Postmodernismus.In: Claudia Schöning-Ka-lender/Ayl.Neusel/Mechtild M. Jansen (Hrsg.).Feminismus, Islam, Nation. Frauenbewe-gungen im Maghreb, in Zentralasien und in der Türkei.Frankfurt Main 1997, S. 33–54, S. 89f.

213 Mojab, Shahrzad.Introduction: The Solitude of the Stateless: Kurdish Women at the Mar-gins of Feminist Knowledge.In: Shahrzad Mojab (Hrsg.).Women of a Non-State Nation. The Kurds.Calif. 2001, S. 1–24, S. 23f.

214 Berktay,Osmanlı’dan Cumhuriyet’e Feminizm2001, S. 354.

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zweitklassigen Bürgerstatus reduziert und traditionelle Ehrencodes hielten die Geschlechtersegregation in sozialen, wirtschaftlichen, Bildungs- und speziell sexuellen Bereichen aufrecht. Frauen wurden auch in ihrer Möglichkeit, unab-hängige Vereine mit emanzipatorischen Zielen zu gründen, im Rahmen des allgemeinen Verbots politischer Vereinsgründungen aus dem Jahre 1935 be-schränkt.215