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8. Ergebnisse: Vernetzte Versorgung in Praxen für KJPP mit Versorgungsstrukturen nach SPV Versorgungsstrukturen nach SPV

8.3 Die behandelten Patienten

8.3.2 Der Weg in die Praxis

92% der in die Projektstichprobe einbezogenen Patienten wurden nach den Vorgaben der SPV behandelt.

Es wurde den Eltern die Frage gestellt, auf wessen Initiative die Vorstellung ihres Kindes/Jugendlichen zurückging und welche Institutionen vor der Erstvorstellung in der Praxis für KJPP schon in Anspruch genommen worden waren.

In aller Regel waren die Eltern die treibende Kraft für die Vorstellung ihrer Kinder (Abb. 8.2).

37 % meldeten sich primär in der Praxis an. Die anderen 63 Prozent waren offensichtlich Empfehlungen von Kinder- und Hausärzten sowie von Lehrern gefolgt.

173 Patienten kamen direkt in die KJPP-SPV-Praxis. 314 Patienten hatten nach Mitteilung der Eltern/Sorgeberechtigten wegen derselben Symptomatik/Problem-stellung bereits bei andern Fachdiensten Hilfe gesucht.

Veranlassung der Vorstellung durch: (Anzahl der Patienten)

0 50 100 150 200 250 300 350 400

Sorgeberechtige Kinderarzt/Hausarzt Lehrer Jugendamt Patient selber Erz.-Beratung Kindergarten KJPP-Klinik/Ambulanz Psychotherapeut Jugenhilfeeinrichtung Facharzt für KJPP Nervenarzt/Psych. Kinderklinik anderer Facharzt Frühförderstelle andere

Abbildung 8.2: Veranlassung der Vorstellung

Die vor allem in der Kinderarztpraxis und in den therapeutischen Diensten der Ergotherapie, in der psychologischen Beratungsstelle, aber auch in der Institutsambulanz und Klinik für KJPP erfahrenen Behandlungsmaßnahmen wurden zu über 50% als

„hilfreich“ oder „sehr hilfreich“ bewertet (Abb. 8.3).

0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200

keine Kinderarzt Ergotherapeut Erziehungsberatung KJPP- Praxis/Ambulanz Logopäde Schulpsycholog. Dienst KJPP-Klinik Hausarzt KJ-PT Physiotherapeuten Sonderpädagog. Beratung Frühförderung Jugendhilfe Heim JuHi heilpäd. Tagesgruppe JuHi Tagesgruppe Schulamt Sozialhilfe Gesundheitsamt med. Reha

Nennungen bei 487 Patienten

sehr hilfreich hilfreich wenig hilfreich nicht hilfreich nicht einschätzbar

Abbildung 8.3: Inanspruchnahme und Effektivitätseinschätzung zuvor in Anspruch genommener Institutionen

Es kann damit angenommen werden, dass sich nur zum Teil solche Familien um eine erneute Abklärung und Behandlung der Problematik ihres Kindes bemühten, die frühere Hilfen als unzureichend bewertet hatten. Die registrierten Einschätzungen sprechen eher dafür, dass Eltern gerade aufgrund der vorausgegangenen Erfahrung, wirksame Hilfe für ihr Kind finden zu können, nunmehr mit dem Ziel einer weiterführenden Hilfe die Praxis für KJPP aufsuchten. Zumindest bei den zuvor in Kliniken und Institutsambulanzen der KJPP behandelten Patienten ist davon auszugehen, dass sich die Eltern der betroffenen Kinder/Jugendlichen nach den in solchen Institutionen stets zeitlich befristeten Therapienphasen die gezielte fachliche Unterstützung der kinder- und jugend-psychiatrischen Praxis wünschten.

6 % der Vorstellungen waren Notfallbehandlungen. Bei durchschnittlich 250 bis 300 pro Praxis behandelten Patienten pro Quartal bedeutet dieses, dass pro Woche 1 bis 2 Notfallpatienten zu versorgen waren. Als Notfälle gelten vor allem Patienten mit suizidalen, selbst- und fremdgefährdenden Verhaltensweisen, Opfer von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch, Patienten mit psychotischen Symptomen, intensiver Schulphobie und dekompensierten Essstörungen. Oft ergibt sich die Akuität einer schwerwiegenden Verhaltensproblematik aus Krisen im familiären Umfeld des Kindes. Der Versorgungsaufwand bei diesen Patienten ist erfahrungsgemäß groß, insbesondere was die organisatorische Flexibilität und schnelle Aktivierung und Einbeziehung praxisexterner komplementärer Institutionen (Klinik, Jugendhilfe, Schule) betrifft.

Nur 1,8% der ambulant vorgestellten Patienten wurden in eine kinder- und jugendpsychiatrische Klinik eingewiesen. Sie erschöpften oder sprengten aufgrund ihrer psychischen Symptomatik die familiären Versorgungsressourcen.

Das Ziel der „Ambulantisierung“ der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung scheint somit in der KJPP-Praxen mit Sozialpsychiatrievereinbarung (KJPP-SPV-Praxis) umgesetzt und erreicht werden zu können.

Bei den meisten der vorgestellten Patienten bestand die psychische Störung schon längerfristig. Über die Hälfte der Eltern berichteten, dass die Krankheitssymptomatik, die Verhaltens- oder Entwicklungsproblematik ihr Kind bereits seit mindestens 2 Jahren belastete. Bei 70 % der Patienten, die in den Praxen vorgestellt wurden, bestand die psychische Symptomatik nach dieser Einschätzung bereits länger als 1 Jahr (Abb. 8.4).

Die Frage, warum sich die Eltern erst nach einem längerfristigen Verlauf der bestehenden Problematik an die Praxis für KJPP wandten, kann unsere Studie nur aufwerfen, aber nicht beantworten. Lag es an Schwellenängsten bei den Sorgeberechtigten oder komplementären Helfern? War mit der Symptomatik z.T. die Verleugnungstendenz der Eltern gewachsen und musste evtl. ihre Leidensfähigkeit erst erschöpft werden, bis sie nach fachlicher Therapie fragten? Mussten sie, wie in 70% der Fälle, erst andere Helfer durch Empfehlung oder Druck zur Anmeldung beim Facharzt

für KJPP motivieren? Lagen Unwissen oder Vorurteile gegenüber dem psychiatrischen Fach, eventuell auch bei anderen Berufsgruppen, zugrunde?

Zeit zwischen Symptombegin und Vorstellung in den KJPP-SPV-Praxen

(Angabe in Prozent)

0 10 20 30 40 50 60

2-7 Tage

1-2 Wochen 2-4 Wochen 4-8 Wochen 2-4 Monate 4-6 Monate6-12 Monate12-24 Monate > 24 Monate Prozent

Abbildung 8.4: Beginn der Symptomatik

Auf eine ähnliche Problematik wiesen Remschmidt und Walter (1990) in ihrer Marburger Untersuchung zur kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahme hin.

In der von ihnen analysierten Modellregion fand sich eine erhebliche Differenz zwischen der Symptomprävalenz und dem Inanspruchnahme-verhalten von Beratungs- und Hilfsdiensten. Obwohl 12,7% einer Schülerstichprobe aufgrund der von ihren Eltern beschriebenen psychischen Problematik als therapie- oder beratungsbedürftig einzuschätzen waren, befanden sich nur 3,3% aller Schüler in Behandlung, davon nur die Hälfte in einer Einrichtung der KJPP. Die Autoren diskutierten neben der

Zugangsproblematik zu spezifischen Hilfediensten aufgrund von Unsicherheit und

„Schwellenängsten“ die Notwendigkeit einer erreichbaren und präventiv wirksamen Angebotsstruktur.

Der in unserer Untersuchung festzustellende lange Vorlauf der zur Vorstellung führenden Symptomatik dürfte die Vermutung bestätigen, dass es neben Art und Schwere einer Störung wesentlich „auch von dem Zusammenbruch von Problembewältigungs-strategien des Individuums, der Familie oder des sozialen Netzwerkes“ abhängt, ob und wann ein psychisch belastetes Kind „zum Patienten“ wird (Remschmidt und Walter, 1990).

Wartezeiten zwischen Anmeldung und Erstgespräch (Angaben in Prozent)

0 20 40 60 80 100 120

keine

1-2 Tage 2-7 Tage1-2 Wochen 2-4 Wochen 4-8 Wochen 2-4 Monate 4-6 Monate6-12 Monate als Untergruppen

als kumulierte Gruppe

Abbildung 8.5: Wartezeiten

Verglichen mit den längerfristig bestehenden Störungsbildern und Problemstellungen unserer Patienten nahmen sich die Wartezeiten zwischen Anmeldung und Ersttermin in der Praxis für KJPP relativ kurz aus. Die Notfallpatienten wurden durchgehend sofort versorgt. Über die Hälfte der Patienten mussten nicht länger als 1 bis 2 Monate warten.

Nach 4 – 6 Monaten Wartezeit waren so gut wie alle Patienten vorgestellt und untersucht worden (Abb. 8.5).

Das oft geäußerte Problem der noch längeren Wartelisten in den Praxen für KJPP könnte damit zusammenhängen, dass sich viele Patienten bzw. ihre Eltern bei verschiedenen Fachärzten auf die Wartelisten setzen lassen und dadurch, dass sie den ersten gewährten Termin wahrnehmen, ohne den anderen Fachkollegen abzusagen, die Wartelisten unbewusst weiter „aufblähen“. Die formale Zahl der angemeldeten Patienten in einer Praxis lässt deshalb nur schwer Hochrechnungen über die real auf Versorgung wartende Patientenzahl zu. In fachlich schlechter versorgten Gebieten ist die Anmeldungssituation allerdings deutlich angespannter als in Gebieten mit mehr KJPP-Praxen. In manchen Fällen verweist ein häufiges Absagen und Herauszögern von Vorstellungsterminen auf die besonders schwierige psychosoziale Situation oder Störung des Patienten und seines Umfeldes, die in der Statistik negativ auffällt, der Praxis aber nicht anzulasten wäre. Das Argument, Patienten mit kinder- und jugendpsychiatrischer Symptomatik müssten angesichts unzumutbarer Wartezeiten notgedrungen von anderen Ärzten, z.B. von Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin, oder im Rahmen der für 20 Behandlungsstunden ohne fachärztliche Vordiagnostik erlaubten, „psychisch-funktionellen Behandlung“ durch Ergotherapeuten behandelt werden, kann zumindest für die von uns untersuchten Versorgungsgebiete nicht aufrecht erhalten werden.