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8. Ergebnisse: Vernetzte Versorgung in Praxen für KJPP mit Versorgungsstrukturen nach SPV Versorgungsstrukturen nach SPV

8.3 Die behandelten Patienten

8.3.6 Besonderheiten der Entwicklung und der psychosozialen Situation der Patienten der Patienten

8.3.6.1 Frühkindliche Risiken und Entwicklungsstörungen

Bei ungefähr einem Fünftel der Patienten berichteten die Eltern über Komplikationen/Risikofaktoren, die in der Schwangerschaft mit ihrem Kind aufgetreten waren. Bei mehr als einem Viertel (27%) war es nach den Angaben der Eltern zu Komplikationen im Geburtsverlauf gekommen (Tab. 8.3).

Tabelle 8.3: Frühkindliche Risiken und Entwicklungsstörungen

Schwangerschaftskomplikationen 21,4 %

Geburtskomplikationen 27,1 %

Komplikationen im postpartalen Verlauf 12,6 %

Betreuungsmängel in der Kindheit 3,9 %

Störungen bei der Sauberkeitsentwicklung 13,0 % Störungen in der motorischen Entwicklung 21,2 % Störungen in der Sprachentwicklung 23,8 % schwere Krankheiten während der Kindheit 12,8 %

Mit einem Kontingenzkoeffizienten bzw. Cramer V von .70 (<=0.000) fand sich ein hoch signifikanter Zusammenhang zwischen mitgeteilten Schwangerschaftsbelastungen und Geburtskomplikationen. Die Bewertung dieser Befunde muss jedoch die Problematik einer mangelhaft konkreten Zuordnung von einzelnen Risikofaktoren zu einer möglichen Gefährdung der kindlichen Entwicklung berücksichtigen. Die

Wahrscheinlichkeit, mit welcher eine frühkindliche biologische Belastung das Auftreten einer Entwicklungsstörung zur Folge haben kann, wird wesentlich mitbestimmt von der individuellen Reaktion des Kindes auf eine solche Risikoerfahrung. Des Weiteren kommt den Auswirkungen psychosozialer Einflussfaktoren als einer zweiten Gruppe von Risikofaktoren erhebliche Bedeutung zu, die die Vulnerabilität eines Kindes wesentlich mit bestimmen. Auf die Bedeutung der Heterogenität der individuell durchaus unterschiedlichen Reaktionsfolgen auf organische und psychosoziale Belastungen verweisen beispielsweise Laucht et al. (1998), die feststellten, dass sich in der einschlägigen Literatur zwar zahlreiche Hinweise auf entwicklungshemmende Einflüsse durch perinatale Risikobelastungen finden lassen, dass aber die „zunächst retrospektiv beobachteten Zusammenhänge zwischen Risikofaktor und negativem Entwicklungsergebnis bei prospektiver Analyse weitaus weniger eindrucksvoll ausfielen und für eine gesicherte Störungsprognose weder hinreichend spezifisch noch hinreichend sensitiv waren“. Bei ihrer prospektiven Studie zur Auswirkung von Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sowie von frühen sozialen Risiken auf die kindliche Entwicklung bezogen sie daher die Auswirkung möglicher individueller Schutzfaktoren ein. Es ließen sich dadurch immerhin 10 bis 20% der Varianz der Entwicklungskennwerte in der Stichprobe der 362 viereinhalbjährigen Kinder aufklären.

Der Befund belegte die in einer Vielzahl anderer Studien festgestellte gemeinsame Bedeutsamkeit früher organischer und sozialer Belastungen für die kindliche Entwicklung und ihre Störungen im Vorschulalter. Prä- und perinatale Belastungsfaktoren zeigen eher schädliche Auswirkungen auf motorische und kognitive Funktionen. Psychosoziale Belastungsfaktoren führen dagegen eher zu einer Beeinflussung der sozio-emotionalen und kognitiven Entwicklung der Kinder. Die Annahme einer kausalen Bedeutung einzelner organischer Risikofaktoren war demgegenüber wesentlich weniger sicher feststellbar. „Die schädlichen Folgen frühkindlicher Belastungen treten offensichtlich nicht unausweichlich“ ein. Vielmehr belegen die Erkenntnisse der Untersuchung die Hypothese, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, „die an der Vermittlung von Risikoeffekten beteiligt sind und von denen es abhängt, welche Entwicklung ein Risikokind nimmt“. Protektive Faktoren gewinnen

nach der Vermutung der Autoren weniger in den ersten Lebensjahren als im Verlauf der kindlichen Entwicklung, „insbesondere mit dem Entstehen personaler Ressourcen“, an Einfluss (Laucht et al, 1998).

Die Eltern unserer Untersuchungsstichprobe berichteten nur in 3,9% der Fälle über Betreuungsmängel in der Kindheit. Allerdings zeigten sich bei der Gruppe von insgesamt 19 Kindern deutliche, statistisch auf hohem Signifikanzniveau (p<=0.000) zu sichernde Zusammenhänge zwischen sprachlichen und motorischen Entwicklungsstörungen und in der frühen Kindheit durchgemachten schweren Krankheiten, aber auch mit der Sauberkeitsentwicklung (Kontingenzen zwischen .536 und .475). Eine statistisch schwächere, aber immer noch bedeutsame Beziehung ließ sich auch zu Auffälligkeiten in Form von Trennungsangst, Kontakt- und Spielstörungen sowie hypermotorischem und aggressivem Verhalten während der Kindergartenbetreuung nachweisen. Da die subjektiven anamnestischen Angaben durch die Sorgeberechtigten zur frühen Lebensgeschichte üblicherweise mit erheblichen Unschärfen verbunden sind, ist angesichts entsprechender Erfahrung nicht auszuschließen, dass Betreuungsmängel und dadurch bedingte frühe Bindungsstörungen von den Eltern aus eigener Wahrnehmung heraus nur selten als solche bewusst registriert wurden. Das gilt z. B. für die Auswirkungen einer frühen Trennung des Kindes von seiner primären Bezugsperson infolge Ehescheidung oder einer schweren Krankheit, die zur Entwicklung einer nachhaltigen psychischen Symptomatik beitragen können. Vor diesem Hintergrund kommt den festgestellten statistischen Beziehungen klinisch nachvollziehbare Bedeutung zu.

Fast 24% der in unserer Untersuchung vorgestellten Kinder wiesen nach den Angaben ihrer Eltern Störungen der Sprachentwicklung auf. Gleichzeitig fand sich ein deutlicher statistischer Zusammenhang mit hochsignifikanten Kontingenzen (Cramer-V) von .404 und .435 (p <= 0.000) zwischen den berichteten prä- und perinatalen Komplikationen und den Störungen der Sprachentwicklung (Tab. 8.4 u. 8.5).

Überwiegend dürfte es sich dabei um Störungen der expressiven Sprache im Sinne einer Störung des Beginnes und der Art der Sprachproduktion gehandelt haben.

Tabelle 8.4: Zusammenhang von Schwangerschaftskomplikationen und Sprache

Wenn man davon ausgeht, dass sich eine Störung der Sprachentwicklung allgemein in einer Häufigkeit von 5 bis 15% aller Kinder (Noterdaeme et al., 1998) findet, waren die festgestellten Auffälligkeiten der Sprachentwicklung der in den Praxen für KJPP vorgestellten Kinder damit insgesamt mindestens doppelt so häufig. Zieht man die von Bishop (1979) und Amorosa (1992) mitgeteilten Hinweise heran, wonach gegenüber den Beeinträchtigungen der expressiven Sprachproduktion rezeptive Sprachverständnis-störungen häufig unterschätzt oder gar nicht erkannt werden, könnte der Prozentsatz der in unserer Stichprobe untersuchten sprachentwicklungsbeeinträchtigten Kinder noch größer ausfallen.

Tabelle 8.5: Zusammenhang von Geburtskomplikationen und Sprache

Kreuztabelle

Noterdaeme et al. (1998) stellten bei 100 Kindern, die sie in der Spezialambulanz für teilleistungs- und verhaltensgestörte Kinder der Heckscher Klinik in München-Solln untersuchten, bei 81 Patienten eine rezeptive Sprachentwicklungsstörung fest. Die Autoren diagnostizierten in ihrer Stichprobe gleichzeitig eine hohe Rate weiterer psychischer Auffälligkeiten. Bei der Hälfte der Kinder betrafen diese ein hyperkinetisches Syndrom oder eine emotionale Störung. Diese Ergebnisse standen in Übereinstimmung mit den Befunden anderer Untersuchungen zur Fragestellung der Kombination von umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Barthlen-Weis & Breuer-Schaumann, 1994). Beichtman et al. (1996) stellten fest, dass Kinder mit einer gemischten expressiven und rezeptiven Sprachentwicklungsstörung noch bis in das späte Kindesalter Verhaltensstörungen mit Aggressivität und Hyperaktivität zeigen.

Tabelle 8.6: Zusammenhang von Schwangerschaftskomplikationen und Motorik

Kreuztabelle

Mit Korrelationen von .467 bzw. .435 (p <= 0.000) fanden sich hohe korrelative Zusammenhänge zwischen Komplikationen im Verlauf von Schwangerschaft und Geburt mit Auffälligkeiten der motorischen Entwicklung des Kindes (Tab. 8.6 u. 8.7).

Für die Prognose motorischer Entwicklungsstörungen kommt nach den Ergebnissen der Studie von Laucht et al. (1998) neben organischen Risiken auch einer Reihe psychosozialer Belastungen eine nennenswerte Bedeutung zu. Nach den Befunden der

Autoren lassen sie vor allem das Risiko überdauernder leichter motorischer Beeinträchtigungen ansteigen.

Tabelle 8.7: Zusammenhang von Geburtskomplikationen und Motorik

Kreuztabelle Anzahl

281 55 0 336

89 42 2 133

5 7 9 21

375 104 11 490

nein ja

unbekannt ...im Geburtsverlauf

Gesamt

nein ja unbekannt

Motorik

Gesamt

Vergleicht man unsere Daten mit solchen aus den Jahren 1977/78 (Heubach &

Reinigen, 1983), finden sich Unterschiede. Damals waren 60% der Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter in der Motorik- und Sprachentwicklung als auffällig diagnostiziert worden. Hier könnten Fortschritte in der Perinatalmedizin zum Tragen gekommen sein.

Auch könnten Angebote der Risikosprechstunden der Kinder- und Jugendärzte sowie der Frühförderung und Sonderkindergärten dazu beigetragen haben, dass vorhandene Störungen früher erkannt und therapeutisch versorgt wurden.