• Keine Ergebnisse gefunden

8. Ergebnisse: Vernetzte Versorgung in Praxen für KJPP mit Versorgungsstrukturen nach SPV Versorgungsstrukturen nach SPV

8.3 Die behandelten Patienten

8.3.9 Psychopathologischer Befund

8.3.10.1 MAS Diagnose-Achse I - Klinisch-psychiatrische Syndrome

Diagnosehäufigkeiten nach ICD-10-Ziffern

0 10 20 30 40 50 60

Prozent der Patienten

F 1 Psych.u.Verhaltensstör.d.psychotrope Substanzen F 2 Schizophrenie, schizotype u.wahnhaf.Störungen F 3 Affektive Störungen

F 4 Neurotische, Belastungs- u. somatoforme Störungen F 5 Verhaltensauff.m.körperl.Störungen u.Faktoren F 6 Persönlicheits- und Verhaltensstörungen F 8 Entwicklungsstörungen

F 90 Hyperkinetische Störung F 91 Störung des Sozialverhaltens

F 92 Kombinierte Störung d.Sozialverhaltens u.d.Emotionen F 93 Emotionale Störungen des Kindesalters

F 94 Stör.soz.Funktionen mit Beginn i.d.Kindheit u. Jugend F 95 Ticstörungen

F 98 Enuresis, Enkopresis, Stottern u.a.

Abbildung 8.21: Diagnose-Achse I

Listet man die diagnostizierten klinisch-psychiatrischen Syndrome entsprechend dem Algorithmus der ICD-10-Diagnoseziffern auf, so ergibt sich der Eindruck, als ob neben der Hyperkinetischen Störung (F 90) andere Erkrankungen eine nur untergeordnete Rolle spielen würden (Abb. 8.21).

Diese Bewertung ist aber deutlich einzuschränken, da die Hauptdiagnose einer Hyperkinetischen Störung in vielen Fällen mit der Diagnose einer zweiten psychiatrischen Erkrankung kombiniert wurde (Abb. 8.22).

Die Diagnose der Hyperkinetischen Störung war in der untersuchten Stichprobe überhaupt diejenige unter allen Diagnosen, die am häufigsten mit weiteren Krankheitsdiagnosen verbunden wurde. Ingesamt erhielten 41% der Patienten mit einer Hyperkinetischen Störung mindestens eine weitere Krankheitsdiagnose auf der Diagnose-Achse I und/oder auf der krankheitswertige Entwicklungsstörungen kodierenden Diagnose-Achse II des MAS. Es bestätigte sich damit der häufige Befund einer nicht unerheblichen psychiatrischen Komorbidität des auch als ADHS/ADS bezeichneten Krankheitsbildes.

Es wäre die Frage zu stellen, ob man angesichts der deutlichen Differenzen zwischen der sozial störendes und impulsives Verhalten betonenden Diagnose der Hyperkinetischen Störung „F90.1“ und der dissoziales Verhalten einschließenden Kombinationsdiagnose „F 90+F91“ gegenüber der Diagnosenkombination „F 90+F4 bzw. F 90+F 93“ und ihren Untergruppen, die emotionale Auffälligkeiten akzentuieren, nicht ebenso berechtigt von einer „hyperkinetischen Störung der Emotionen“ oder einer

„emotionalen Störung mit Hyperkinese“ sprechen könnte.

Wagner et al. (2004) stellten bei einer ähnlich getroffenen Unterscheidung einer größeren klinischen Untersuchungsstichprobe von ambulant und stationär in der KJPP behandelten Kindern und Jugendlichen fest, dass Kinder mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens mit impulsiver Leitsymptomatik gegenüber Patienten mit zusätzlichen emotionalen oder gravierenden dissozialen Störungen deutlich bessere Behandlungseffekte zeigen. Dies war aus der Fähigkeit des Kindes abgeleitet worden, alterstypischen Entwicklungsaufgaben nachkommen zu können.

Die Autoren betonten den höheren Therapiebedarf für solche Patienten, die neben einer hyperkinetischen Störung eine emotionale Problematik oder gravierende Störungen des Sozialverhaltens zeigen. Die Behandlung sollte dann qualifizierte familientherapeutische Interventionen beinhalten, um dem belasteten psychosozialen Erleben dieser Kinder gerecht zu werden.

Die Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes und Jugendalter (Deutsche Gesellschaft für KJPP et al., 2003) weisen besonders darauf hin, dass das ADHS bzw. die Hyperkinetische Störung (ICD-10 F90), die bei mindestens 2% aller Kinder im Schulkindalter anzunehmen ist (Warnke & Lehmkuhl, 2003), ihrerseits als ein Risikofaktor für die Entstehung einer Reihe anderer, sowohl emotionaler Störungen als auch gravierender Störungen des Sozialverhaltens anzusehen ist.

Zweitdiagnosen zu F 90 Aufmerksamkeitsstörungen

(Angaben in Prozent)

0 2 4 6 8 10 12

F 4 + F 93 (neurot. + emotionale Störungen) F 91 + F 90.1 (Stör. + Hyperkin.Stör.d.Sozialverh.)

F 98 (sonst.Verhalt.u.emot.Stör.,Enuresis, Enkopresis, Stottern u.a.

F 94 Stör.soz.Funktionen m.Beginn i.d.Kindheit u.Jugend andere Störungen

Entwicklungsstörungen MAS Diagnose-Achse II

Abbildung 8.22: Zweitdiagnosen - Diagnose-Achse I

Darüber hinaus ist „das gleichzeitige Auftreten zweier oder mehrerer psychischer Erkrankungen zum gleichen Zeitpunkt (simultane Komorbidität) oder in der zeitlichen Aufeinanderfolge (sukzessive Komorbidität) in der KJPP häufig“, worauf ebenfalls Warnke und Lehmkuhl verweisen (2003). Dies gilt beispielsweise für das in einer Häufigkeit von bis zu 40% anzutreffende gemeinsame Bestehen von depressiven Störungen und Störungen des Sozialverhaltens.

In der Gruppe der primär als emotionale Krankheitsbilder eingeordneten Störungen, die bei mehr als 30% der Kinder unserer Untersuchung diagnostiziert wurden, standen die depressiven Anpassungsstörungen (ICD-10 F 43.2), gefolgt von „anderen Angststörungen“ (ICD-10 F 41), eindeutig im Vordergrund und stellten insgesamt die zweithäufigste Diagnosengruppe bei den untersuchten Kindern und Jugendlichen dar (Ab. 8.23).

Abbildung 8.23: Differenzialdiagnose der emotionalen Störungen

Nach den Ergebnissen eines Berichts über die gesundheitliche Situation der jungen Menschen in der Europäischen Union (Europäische Kommission, 2000) „beträgt die auf die Lebensdauer bezogene Prävalenz der schweren Depressionen 4% in der Altersgruppe der 12 -17-jährigen und 9% bei den 18-jährigen“.

Die administrative Prävalenz der emotionalen Störungen in der untersuchten Population erscheint zunächst formal niedrig zu sein. Sie sagt aber noch nichts über die praktischen Konsequenzen im Alltag einer KJPP-Praxis aus. Bei 250 Patienten pro Quartal und Praxis bedeuten sie, dass pro Monat z.B. 45 Patienten mit einer Form der depressiven (Anpassungs-)Störung, 8 Patienten mit Angst- und Panikstörungen, jeweils 1 bis 2 Patienten mit Phobien, Zwangserkrankungen und/oder posttraumatischen Belastungsreaktionen zu versorgen sind.

Fasst man die gestellten Diagnosen unter behandlungsrelevanten Gesichtspunkten zu Gruppen zusammen, ergibt sich, dass hyperkinetische Störungen und Störungen das Sozialverhaltens mit fast 50%iger Prävalenz an der Spitze stehen (Abb. 8.24).

Es wurden durchschnittlich 1,5 Diagnosen pro Patient auf MAS Diagnose-Achse I gestellt

F4 Neurot.Störungen + F 93 Emotionale Störungen

Abbildung 8.24: Gruppierung aller Diagnosen auf Diagnose-Achse I

Ein knappes Fünftel der ADHS/ADS Patienten zeigte Störungen des Sozialverhaltens im Sinn der ICD-10-Ziffer F 90.1. 5,3% wiesen nach den diagnostischen Kriterien gravierende Aufmerksamkeitsstörungen auf (ICD-10 F 90.8 und ICD-10 F 90.9). Bei insgesamt 2% der Patienten wurde keine psychiatrische Störung diagnostiziert.

Ein Vergleich dieser diagnostischen Ergebnisse mit den Daten, die Schydlo und Heubach (1992) bei ihrer Analyse der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung einer ländlichen Region vor 12 Jahren zusammenstellten, war vor allem deshalb nur eingeschränkt möglich, weil bei der inzwischen 10. Revision der ICD-Systematik durch die weitgehende Lösung von theoriegebundenen Bewertungen veränderte Zuordnungen vorgenommen worden waren. Hierzu gehörte die primäre Ausrichtung der diagnostischen Kategorien auf aktuelle Probleme und Schwierigkeiten des Patienten und nicht auf seine Persönlichkeit. Der seitdem verwendete Begriff der

„psychischen Störung“ sollte gegenüber der zuvor gebräuchlichen Bezeichnung

„psychische Krankheit“ den situativen Aspekt betonen und „keine Aussage über Fortdauer und Irreversibilität einer Störung machen“ (Remschmidt et al, 2001).

Schydlo und Heubach nahmen deutlich öfter Mehrfachdiagnosen (2,6 pro Patient) auf der Diagnose-Achse I des MAS vor, als dies die Fachärzte in der jetzigen Erhebung (1,3 pro Patient) taten. Damals lag der Anteil des „Hyperkinetischen Syndroms“ mit 36,7% um 11,3% niedriger als bei den jetzt ermittelten Diagnoseverteilungen. Allerdings ordneten die Autoren in 47% der Fälle die festgestellte Symptomatik der damals in Folge des Konzeptes der minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD) gebräuchlichen Diagnosegruppe der „spezifischen, nicht psychotischen psychischen Störungen nach Hirnschädigungen“ zu. In diese Kategorie, die sich im Klassifikationsschema der ICD-10 nicht mehr findet, dürften Kinder mit Störungen der Aufmerksamkeit und Impulskontrolle eingeordnet worden sein, deren Auffälligkeiten als durch organische Faktoren zumindest mitbedingt aufgefasst wurden. Diese Unterscheidung wird gegenwärtig vermutlich nur noch bedingt getroffen. Unter diesem Aspekt erscheint es wahrscheinlich, dass bereits in der damaligen Untersuchung die Auswirkungen von Störungen der Aufmerksamkeit, der Konzentration und der Impulskontrolle der

Hyperkinetischen Störung bzw. des ADHS/ADS als eine sehr häufige Ursache von