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MAS Diagnose-Achse VI – Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung

8. Ergebnisse: Vernetzte Versorgung in Praxen für KJPP mit Versorgungsstrukturen nach SPV Versorgungsstrukturen nach SPV

8.3 Die behandelten Patienten

8.3.9 Psychopathologischer Befund

8.3.10.6 MAS Diagnose-Achse VI – Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung

Auf der Diagnose-Achse VI des MAS können auf einer 8-stufigen Skala die Qualität der Beziehungen des Kindes/Jugendlichen zu seinen Familienangehörigen, zu Gleichaltrigen und Erwachsenen außerhalb der Familie, seine soziale Orientierungsfähigkeit sowie sein Interessen- und Freizeitverhaltens eingeschätzt werden.

Nur bei einem Fünftel der Patienten konnte man nach den vorgenommenen Bewertungen von einer „guten bis befriedigenden“ Integration in das soziale Umfeld sprechen. 23% zeigten Zeichen einer leichten, weitere 24,8% einer mäßigen sozialen Beeinträchtigung (Abb. 8.29).

0 5 10 15 20 25 30

hervorragend befriedigend leichtbeeinträchtigt mäßigbeeinträchtigt deutlichbeeinträchtigt durchgängigbeeinträchtigt schwerwiegendbeeinträchtigt brauchtbeträchtlicheBetreuung

Prozent der Patienten

Abbildung 8.29: Diagnose- Achse VI - psychosoziale Anpassung

Für einen kleinen Anteil (4,5%) wurde die Einschätzung einer durchgängigen und schwerwiegenden Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus vorgenommen.

8.4 Behandlung

In einem gemeinsam mit der Projektgruppe entwickelten Erfassungssystem (Matrix 1, s. Anlage 4) nahmen die ärztlichen Untersucher nach einer Gewichtung ihrer therapeutischen Handlungsentscheidungen eine Planung der von ihnen für notwendig erachteten Behandlungs- und Beratungsmaßnahmen vor (s. Kap. 7.2.5). Die geplanten Therapiemaßnahmen wurden genauso wie Kooperationserfordernisse mit anderen Fachdisziplinen und Institutionen aus den Befunden der Diagnose-Achsen unter einer jeweils 5-stufigen Gewichtung abgeleitet. Die Diagnose-Achse VI konnte unberücksichtigt bleiben, weil sie im wesentlichen der Abbildung der Folgen der auf den vorherigen Diagnose-Achsen diagnostizierten Störungen für die psychosoziale Adaptation des Kindes dient.

Die Prüfung der Frage, in wie weit die geplanten therapeutischen und beratenden Maßnahmen in dem eineinhalbjährigen Untersuchungszeitraum der Studie tatsächlich umgesetzt worden waren, wurde mit dem Instrument der Matrix 2 (s. Anlage 5) in festgelegten Intervallen vorgenommen. Die Matrix 2 zeigt eine ähnliche Struktur, erlaubt aber neben der Bewertung des qualitativen Vorgehens mittels der Darstellung des Zeitaufwandes (in Dezimalstellen) auch eine Beschreibung des quantitativen Ressourceneinsatzes der ärztlichen Praxen.

8.4.1 Behandlungsentscheidungen

In Abbildung 8.30 sind die zusammengefassten Therapieplanungen über alle behandelten Patienten dargestellt. Daraus ergibt sich, dass die wichtigsten therapeutischen Entscheidungen in erster Linie im Hinblick auf den erhobenen kinder- und jugendpsychiatrischen Befund bzw. aufgrund der diagnostischen Einordnung der Symptomatik auf der Diagnose-Achse I vorgenommen wurden.

Die Fachärzte hielten in 82 % der Fälle Therapien und Gespräche mit den Eltern in Form von Familientherapie und Elternberatung für angezeigt. In 50 % der Fälle wurden psychotherapeutische Einzelsitzungen mit den Kindern und Jugendlichen und in 14%

Gruppentherapien als erforderlich angesehen.

Neben der in 50% aus Erkenntnissen der Diagnose-Achse I abgeleiteten Therapieentscheidungen finden sich solche in 12,6% auch auf der Grundlage gravierender belastender psychosozialer Umstände (Diagnose-Achse V), mit denen die Patienten in der Wahrnehmung der Fachärzte konfrontiert waren. Diese interessanten Befunde sprechen dafür, dass die Therapeuten bei ihrer Behandlungsplanung von Anfang an nicht nur die primäre psychische Symptomatik, sondern genauso die ihnen erkennbaren, bedeutsamen psychosozialen Rahmenbedingungen der auf das Kind einwirkenden Lebens- und Erfahrungszusammenhänge in ihr Therapiekonzept einbezogen.

Dies war teilweise auch im Hinblick auf die festgestellten umschriebenen Entwicklungsstörungen der Fall. Diagnostische Bewertungen der Diagnose-Achsen II u.

III spielten in 15% der Fälle für die Entscheidung zur Familientherapie und/oder Familien- bzw. Elternberatung eine wesentliche Rolle. Bei weiteren 6,4% flossen sie in die Entscheidung zur Aufnahme einer Einzelpsychotherapie ein. Für die Frage der Aufnahme der Eltern in eine Elterngruppe begründeten gravierende Entwicklungsstörungen mit 14,8% sowie schwerwiegende psychosoziale Belastungsfaktoren in 8% der Fälle wesentlich diese Therapieauswahl.

Die externe Kooperationen erschien den Ärzten bei den sprachlichen, motorischen und sensorischen Störungen mit ca. 35% am stärksten erforderlich, gefolgt von den auf MAS-Achse-I kodierten Störungen, in denen auch das ADHS/ADS enthalten ist. Bei 32,3% der Patienten erschien es sinnvoll, mit externen Partnern wegen der neurologisch-funktionalen Symptomatik Kontakt aufzunehmen. Die Ergotherapeuten (13%) und die Schulen (13%) wurden gleich oft gewählt.

Therapieerfordernisse

Gewichtung der praxisinternen Therapien

(Datenbasis: MAS Diagnose-Achsen, Matrix 1, Anzahl der Patienten)

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Abbildung 8.30: Therapieplanung (praxisinterne Leistungen)

Erwartungsgemäß leitete sich die Entscheidung zur Anwendung von funktionellen Therapien wie Ergotherapie, Krankengymnastik und Bewegungstherapie zu jeweils 15,3 bzw. 13% wesentlich aus den diagnostischen Erkenntnissen der Diagnose-Achsen II und III ab. Die Entscheidung darüber, ob die erforderliche funktionelle Therapie innerhalb der eigenen Praxis, in der entsprechende therapeutische Valenzen vorgehalten wurden, oder durch Verordnung bei einem niedergelassenen Therapeuten erbracht werden sollte, wurde augenscheinlich häufiger (6,8%) zugunsten der praxisinternen Leistung getroffen, wenn gleichzeitig gravierende psychosoziale Begleitumstände der Störung registriert worden waren. Mit 3,4 bzw. 4,6% spielten auch hier Einflüsse der auf Diagnose-Achse I gestellten Diagnosen noch eine Rolle (Abb. 8.31).

T h e r a p i e e r f o r d e r n i s s e Abbildung 8.31: Therapieplanung (praxisexterne Leistungen)

Der Großteil der umschriebenen Entwicklungsstörungen geht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf diskrete oder deutliche neurologische Schäden und senso-motorische Handicaps zurück. Eine „kausale Therapie“ und „Heilung“ der Störungen durch funktionelle Therapien ist zwar meist nicht zu erwarten, wohl aber ein wesentlich besserer Umgang der Patienten und ihrer Eltern/Sorgeberechtigten mit diesen Problemen und ihren Folgen für die Lebensplanung, Schulleistungsfähigkeit und Freizeitgestaltung, das Selbstbewusstsein und oft auch die soziale Orientierung des Kindes. Durch solche Störungen bedingte sekundäre Neurotisierungen und Kommunikationsstörungen in den betroffenen Familien machen nicht nur Beratung, sondern des öfteren auch einzel- und familientherapeutische Maßnahmen notwendig.

Insgesamt wurde bei 47% der Patienten aufgrund der auf Diagnose-Achse I diagnostizierten Störungen die Notwendigkeit einer Kooperation mit einem oder mit mehreren externen fachlichen Kooperationspartnern gesehen (Abb. 8.31).

Bezüglich des interdisziplinären Kooperationsbedarfs stand der Austausch mit den Einrichtungen der Schule und z. T. auch mit Kindergärten bei insgesamt 27 % der Behandlungsfälle an der Spitze. Hier dürfte sich der hohe Anteil der in unserer Stichprobe festgestellten schulischen Integrations- und Leistungsstörungen der jungen Patienten ausgewirkt haben.

Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Jugendämtern und Jugendhilfe-einrichtungen wurde mit insgesamt 20,5% der Fälle nur wenig seltener gesehen.

Die Kooperation zwischen KJPP, Jugendhilfe und Schule hat sich seit Einführung der SPV und der zunehmenden Verkürzung klinischer Behandlungsphasen in der praktischen Arbeit der Fachdienste als sehr positiv entwickelt. Die in der Praxis des Facharztes begonnene einzelfallbezogene interdisziplinäre Vernetzung stellt einen wichtigen Garanten qualifizierter Maßnahmenplanung bei komplexem Hilfebedarf für die betroffenen Kinder/Jugendlichen und ihre Eltern dar. Hierfür sprechen beispielsweise auch die sehr ermutigenden Ergebnisse eines Bundesmodellprojektes sowie eines im Bundesland Sachsen-Anhalt durchgeführten Landesmodellprojektes zur interdisziplinär vernetzten Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher (Jungmann, 2000, 2002).

Nur ca. 12% der Diagnosen auf Diagnose-Achse V verlangten nach externer Kooperation. Das Ergebnis zeigt an, dass die behandelnden Ärzte und ihr therapeutisches Team die Einschätzung vornahmen, die in der Stichprobe dargestellte Prävalenz psychosozialer Belastungen in Form familieninterner Interaktionsstörungen eher mittels Familientherapie und Beratung und seltener unter Einschaltung der Jugendhilfe behandeln zu können. Darin dürfte ein deutlicher Unterschied des in den fachärztlichen Praxen behandelten Klientels gegenüber Hilfesuchenden in der Jugendhilfe zum Ausdruck kommen. Im Mittelpunkt der kinder- und jugendpsychiatrischen Intervention steht die familienintegrative Behandlung von psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen, die überwiegend gut in ihren sozialen Bezugssystemen, vor allem in ihrer Familie, verankert sind, und für die Eltern/Sorgeberechtigte gezielt mit der Erwartung einer verbesserten Versorgung, Erziehung und Förderung ihrer Kinder therapeutische Hilfe suchen.

V e r h ä l t n i s d e r g e p l a n t e n p r a x i s i n t e r n e n M a ß n a h m e n u n d d e r

Abbildung 8.32: Therapieplanung (praxisinterne und praxisexterne Leistungen)

Unterscheidet man den Umfang der durch die dargestellten Behandlungsentscheidungen bedingten Anforderungen an die „praxisintern“ und

„praxisextern“ zu erbringenden Leistungen und deren Koordination, so ergeben sich die in Abbildung 8.32 dargestellten Verteilungen.

Die Indikation zu einer medikamentösen Therapie wurde nur in 22% der Fälle, trotz des hohen Anteils von Hyperkinetischen Störungsbildern somit relativ zurückhaltend, gestellt. Aus der Evidenz der ADHS-/ADS-Behandlung ist z.B. bekannt, dass neben einer medikamentösen Therapie und anleitenden Verhaltenstherapie die qualifizierte Familientherapie und Elterngruppe sowie die Einbeziehung und Aufklärung der Lehrer die wichtigsten Behandlungselemente der bei diesem Krankheitsbild notwendigen multimodalen Therapie darstellen (Deutsche Gesellschaft für KJPP et al., 2003).

Die dokumentierte Entscheidungsstruktur bildet einen komplexen Handlungsansatz der mit dem Konzept der Sozialpsychiatrievereinbarung behandelnden kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis ab, der nicht nur deren diagnostisches Vorgehen sondern auch die dort vorgenommene, die Familie intensiv einbeziehende, Therapieplanung bestimmt. Es ist nicht nur im Fachgebiet der KJPP unbestritten, dass Hilfen für junge Menschen darauf angelegt werden müssen, die Ressourcen des Patienten und seines Bezugssystems, im wesentlichen seiner Eltern und seiner Familie, gerade dann einzubeziehen, wenn innerfamiliäre Belastungsfaktoren eine erfolgreiche, d.h. symptom- und störungsfreie Entwicklung und Lebensbewältigung bedrohen. Da sich kindliche Entwicklung primär im Dialog mit den Eltern und erst sekundär mit Erziehern, Lehrern und Therapeuten abspielt, müssen wesentlich die familiären Rahmenbedingungen therapeutisch beachtet werden. Je jünger die Kinder sind, desto stärker sind sie noch vom emotionalen und materiellen Rahmen der Familiengemeinschaft abhängig.