• Keine Ergebnisse gefunden

I. Theoretischer Teil

1. Demokratietheorien

1.4. Politische Beteiligung in der Postdemokratie

Die politikwissenschaftliche Debatte um die Krise der Demokratie wird seit einigen Jahren vom Begriff der Postdemokratie bestimmt.46 Postdemokratie ist

„Ausdruck eines diffus empfundenen Epochenumbruchs“47, der zwar nicht das Ende der Demokratie einläutet, doch Indiz dafür ist, dass die Idee der Demo-kratie sowie ihre zentralen Institutionen und Praktiken (wie allgemeine und gleiche Wahlen, Parlamente, programmatisch unterscheidbare Parteien) in der Realität aktuell erschöpft scheinen.48 Postdemokratisierung bezeichnet auf der Input-Seite des politischen Prozesses die Veränderung hin zur Entmachtung der Bürgerinnen und Bürger und die damit einhergehende zunehmende Be-schränkung der Rolle der Bürgerinnen und Bürger im demokratischen System auf die Bewertung des politischen Outputs. Im postdemokratischen politischen System

 bleiben die demokratischen Institutionen formal erhalten, verlieren in der Realität jedoch erheblich an Bedeutung für demokratische Entscheidungen;

 werden Wahlkämpfe zunehmend befreit von Inhalten, die das Programm einer späteren Regierungspolitik bilden können, geführt.

Stattdessen werden Wahlkampfstrategien immer stärker personalisiert;

 werden Politikinhalte im Zusammenspiel zwischen politischen und ökonomischen Akteuren festgelegt – die Wünsche und Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger bleiben dabei unberücksichtigt;

 wird somit der Bürger als demos de facto – wenn auch (noch) nicht de jure – entmachtet.

In der Postdemokratie verkommt Demokratie zur Hülle, deren Innenleben mit der Idee einer Herrschaft des Volkes im liberal-partizipativen Sinn wenig gemein hat. Eike Hennig führt aus „Postdemokratie verweis[e] auf die formale Geltung der Demokratie bei ihrer gleichzeitigen Entleerung“49.Postdemokratie wird auch als „Scheindemokratie im institutionellen Gehäuse einer

46Postdemokratie? APuZ 1-2/2011; Buchstein, H./ Nullmeier, F.: Einleitung: Die Postdemo-kratiedebatte, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 19 (2006) 4, S. 16-22;

Crouch, C.: Postdemokratie, Frankfurt/Main 2008.

47 Jörke, D.: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, in: ApuZ 1-2/2011, S. 13-18.

48Vgl. Wolin, S.: Tocqueville between two worlds. Princeton/ Oxford 2001.

49 Hennig, E.: Totgesagte leben lange. Zum Aussagewert postdemokratischer Theorien, in:

Vorgänge 190, 49. Jg., Heft 2/2010, S. 26-34.

gen Demokratie“50 entlarvt. Wolin betont die Wandlung des Bürgers zum rei-nen Konsumenten, den Rückzug des Volkes in den „consumerism“51. der post-demokratische Bürger möchte versorgt und geführt werden bei maximaler persönlicher Freiheit und ist somit kein Bürger mehr.52 Doch welche Auswir-kungen hat der Wandel von der Demokratie zur Postdemokratie auf die politi-sche Beteiligung der Bürger?

Wie eingangs bereits angedeutet, führt die „Postdemokratisierung“ dazu, dass „leader democracies“ an Bedeutung gewinnen. Gemäss liberal-partizipativer Demokratietheorien galt lange: Je höher die Responsivität eines demokratischen Systems gegenüber den Bürgern, desto demokratischer ist es – je mehr Präferenzen der Bürger realisiert werden, desto „besser“ ist eine Demokratie. In der Postdemokratie wandelt sich die Responsivitätsorientie-rung („responsive government“) zur OrientieResponsivitätsorientie-rung an der Verantwortung der politischen Führung („responsible government“). Die InputResponsivität und -legitimierung wird von einer Output-Responsivität und --legitimierung abge-löst. In Systemen eines „responsible government“ übernimmt die Regierung zwar mittels guter Politik die Verantwortung für die Bürger, die Politik selbst ist jedoch nicht an den Input des demokratischen Prozesses gekoppelt, son-dern häufig sogar gänzlich von diesem unabhängig. Am Beispiel „Wahlen“ ver-deutlicht Crouch die zunehmende Bedeutungslosigkeit des demokratischen, vom Bürger ausgehenden Inputs für das Funktionieren des postdemokrati-schen Systems:

In der Postdemokratie werden

„zwar nach wie vor Wahlen abgehalten […], Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regie-rungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams pro-fessioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über ei-ne Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale die man ihnen vorgibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewähl-ten Regierungen und Eligewähl-ten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertregewähl-ten.“53

Vertreter elitärer Demokratietheorien, Anhänger von „leader democracies“, schätzen die Veränderungsprozesse hin zur Postdemokratie nicht negativ ein,

50 Ritzi, C./Schaal, G. S.: Politische Führung in der „Postdemokratie“, in: ApuZ 2-3/2010, S. 9-15.

51Wolin, S.: Toqueville between two worlds. Princeton/Oxford 2001, S. 570.

52 Hennig, E.: Totgesagte leben lange. Zum Aussagewert postdemokratischer Theorien, in:

Vorgänge 190, 49. Jg., Heft 2/2010, S. 33.

53Crouch, C.: Postdemokratie, Frankfurt/Main 2008, S. 10.

im Gegenteil sie begrüßen den Wandel hin zu einer „Expertendemokratie“, da sie grundsätzlich davon ausgehen, dass Bürger höchstens eine politische Mei-nung, jedoch keineswegs ausreichend Sachkenntnis besitzen, um in der heuti-gen – als hyperkomplex bewerteten – politischen Realität, in der Sache ange-messene Antworten auf politische Fragen geben zu können. Die Beteiligung der Bürger wird darauf reduziert, nachdem die „richtigen“ Entscheidungen von Experten getroffen wurden, die Akzeptanz für diese beim Bürger einzuholen.

Orientiert sich eine demokratische Regierung am Prinzip des „responsible government“, setzt sie sich stets auch dem Vorwurf des demokratischen Pater-nalismus aus, der „die Bürger zu ‚ihrem Besten’ auf Kosten ihrer politischen Selbstbestimmung bevormundet“54. Ein Risiko von „leader democracies“ und der damit einhergehenden Abkehr von der Inputorientierung der Demokratie, besteht zudem in der starken Abhängigkeit von Persönlichkeits- und Kon-textfaktoren. Die Personalisierung von Politik stärkt die Bedeutung nicht-rationaler Elemente in der Politik und muss aus Sicht der Bürger als riskanter als eine stärker bürgerorientierte Politik bewertet werden.

Auf ein weiteres Problem weist die Einstellungsforschung hin: Nicht nur mangelnde Problemlösungsfähigkeit, auch paternalistische Handlungsweisen demokratisch gewählter Politiker erzeugen beim Bürger Frust und können zu

„Politikverdrossenheit“ beitragen. Rizzi/Schaal führen dieser Argumentation folgend, den steigenden Anteil an „unzufriedenen Demokraten“ unter den Bür-gern westlicher Demokratien auf die Wahrnehmung einer nicht ausreichenden Responsivität zurück – belegt durch sinkendes Vertrauen in politische Institu-tionen und die politische Elite sowie den Ansehensverlust des Berufsbildes des Politikers.55

Die neue Unübersichtlichkeit in postdemokratischen Systemen zeigt sich durch „ein komplexes und widersprüchliches Nebeneinander von demokrati-schen und expertokratidemokrati-schen, von staatlichen und privaten, von nationalen und globalen Formen des Regierens“56. Mit dem Übergang zur Postdemokratie geht daher eine grundlegende Ambivalenz einher:

„Demokratische Beteiligungsformen werden einerseits eingefordert und in Wahlkämp-fen, Volksentscheiden, Bürgerforen und nicht zuletzt Demonstrationen regelmäßig

54Ritzi, C./Schaal, G. S.: Politische Führung in der „Postdemokratie“, in: ApuZ 2-3/2010, S. 14.

55Ritzi, C./Schaal, G. S.: Politische Führung in der „Postdemokratie“, in: ApuZ 2-3/2010, S. 15.

56Jörke, D.: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, in: ApuZ 1-2/2011, S. 17.

szeniert, andererseits werden demokratische Hoffnungen frustriert, insofern der Um-fang des demokratisch zu Entscheidenden schrumpft“.57

Die Entwicklung von der Demokratie zur Postdemokratie wirkt sich nicht ausschließlich auf der politischen Ebene aus, auch soziale Aspekte werden be-einflusst. Denn Demokratie beeinflusst sowohl politisch als auch sozial positiv die Lebensverhältnisse der Bürger. Nicht nur die egalitäre Teilhabe aller Bür-ger, sondern auch die Chance auf ausgeglichene soziale Verhältnisse innerhalb des Gemeinwesens erhoffen sich Bürger (idealerweise) von der Demokratie.

Demokratie verspricht zweierlei: Zum einen prozedural die gleiche Teilhabe am politischen Prozess, zum anderen substantiell die Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse. Da in den neuen Partizipationsformen vor allem die Mit-telschicht vertreten ist, „besitzt die soziale Basis dieser neuen Demokratie ten-denziell oligarchische Züge, mit der Konsequenz eines Nachlassens egalitärer Politikinhalte“.58 Aufgrund der intensiveren Partizipation der Mittelschichten und dem gleichzeitigen Rückzug der Modernisierungsverlierer vom politischen Willensbildungsprozess besteht die reale Gefahr, dass soziale Spaltungsprozes-se beschleunigt werden.

Es bleibt die Frage danach, wie der Bürger auf die beschriebenen Verände-rungsprozesse reagiert. In Anlehnung an Hirschman weisen Rizzi/Schaal da-rauf hin, dass zwei Reaktionsmöglichkeiten auf die nicht mehr vorhandenen Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die Politik und die hieraus resultierende Unzufriedenheit, denkbar sind:

 Zum einen der Ausstieg, „exit“ – indem der Bürger sich innerlich oder durch faktischen Austritt distanziert und in Schweigen verfällt,

 zum anderen die politische Stimme, „voice“ – indem der Bürger gegen Missstände aufbegehrt.

Rizzi/Schaal unterschlagen dabei die von Hirschman entwickelte dritte Opti-on „loyality“ – die bleibende, auf grundsätzlicher Loyalität basierende Unter-stützung, die auch bei Kritik an aktuellen Prozessen das Verhältnis zum politi-schen System, zum politipoliti-schen Prozess maßgeblich prägt.

Vorausgesetzt die Bürger nehmen die beschriebenen Prozesse so wahr wie von den Theoretikern um Crouch konstatiert, kann meine Arbeit einen Beitrag leisten, die Reaktion der Bürger auf die Veränderungen empirisch zu

57Ebda.

58 Ebda.

gen, zu prüfen welche Optionen gewählt werden und wie weitere sozio-demographische Faktoren und politische Einstellungen möglicherweise die Wahl der einen oder anderen Handlungsstrategie beeinflussen.

 Haben Befragte, die nicht wählen, sich (unbewusst?) für die „exit“-Option entschieden?

 Sind diejenigen, die wählen dem System, seinen Institutionen und Ablaufprozessen gegenüber loyal?

 Ist ungültig wählen eine Form von „voice“, die in der politischen Partizipationsforschung bislang zu wenig Berücksichtigung fand?

Wenn die Teilnahme an Wahlen Ausdruck von politischer Integration ist, so müssten Nichtwähler einen hohen Grad an politischer Desintegration aufwei-sen. Interessant ist, ob die Wahlenthaltung mit fehlender politischer Unterstüt-zung des politischen Systems einhergeht, denn nur so wäre die Wahlenthal-tung auch im Sinne der output-orientierten Demokratietheorien eine Gefahr für das politische System der BRD.