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5 Argentinien

5.10.4 Soziale Bewegungen in Argentinien

5.10.4.1 Piquetero Bewegung

Im folgenden Kapitel wird die Piquetero-Bewegung als ein Beispiel sozialer Bewe-gungen betrachtet. Der Name Piquetero kommt von „piquetes“, was soviel wie „Stra-ßensperren“ bedeutet. Diese Art des Protests bewirkte in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre eine große mediale Aufmerksamkeit und wurde vor allem durch Ar-beitslose genährt. 1996 blockierten ungefähr 20.000 Menschen sieben Tage und Nächte lang die Zufahrtsstraßen zwischen den benachbarten Orten Cutral-Có und Plaza Huincul. Hauptgrund dieser Maßnahme war, nach der folgenreichen Privatisie-rung des Erdgasunternehmens YPF, die FordePrivatisie-rung nach neuen Arbeitsplätzen und ein Treffen mit dem zuständigen Gouverneur. Der Protest war erfolgreich. Die Polizei sah sich nicht in der Lage die Straße zu räumen und zog sich zurück. Nach sechs Tagen akzeptierte der Gouverneur die Forderungen und versprach Unterstützungs-zahlungen, nachdem er mit einer Delegation der Bewegung, welche sich damals erstmals als Piqueteros bezeichnete, verhandelt hatte.188

187Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 72

Im März 1997 wurde diese Form des Protests durch eine andere Gruppe annektiert und sowohl dissidente lokale Gewerkschaftsorganisationen als auch Arbeitslosenor-ganisationen organisierten 21 Straßensperren, um ebenfalls der Forderung nach Ar-beitsplätzen und Unterstützungsprogrammen Nachdruck zu verleihen. Protestiert wurde hier jedoch auch gegen die Korruption der örtlichen Behörden.

Im Dezember 1999 wurde die Belgrano-Brücke von hunderten Personen blockiert, um ausstehende Löhne zu erhalten, die Entlassung vieler Staatsbediensteter zu ver-hindern und ebenfalls die lokale Korruption anzuklagen. In den Provinzen waren nicht nur Entlassene, sondern auch Arbeiter, Rentner und besonders viele Frauen und Jugendliche an den Protestbewegungen der Piqueteros beteiligt.189

Ab 1997 begannen sich auch die Arbeitslosen in den Armenvierteln von Buenos Aires zu organisieren, während sich die ersten Blockaden weitab vom ökonomischen und politischen Zentrum des Landes abgespielt hatten. Infolge weitete sich die Be-wegung auf ganz Buenos Aires aus.

Die Piquetero-Bewegung vergrößerte sich enorm und immer neue Organisationen entstanden. Protestiert wurde in erster Linie gegen den Staat und die privaten Unter-nehmen. Es ging sogar so weit, dass einzelne Piquetero-Bewegungen eine eigene Infrastruktur aufbauten. Es wurden unter anderem Krankenstationen, Kindergärten, Handwerksbetriebe und Volksküchen gebaut.190

Im Juli 2001 organisierten die Arbeitslosen den ersten nationalen Kongress, welcher zur weiteren Vernetzung der einzelnen Gruppen beitrug, die sich von nun an „natio-nale Bewegung der Arbeitslosen“ nannten. Über 2.000 Personen organisierten von nun an die Intensivierung der Proteste und verständigten sich von nun an über weit-reichende politische Forderungen.

189Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 78

190 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg

2002 gab es bereits über 100.000 aktive Unterstützer, welche an Straßenblockaden und an der Besetzung von Regierungsgebäuden beteiligt waren. Interessant ist hier vor allem die große Vielfalt der Piquetero-Organisationen, die von verschiedenen ideologischen Traditionen, unterschiedlichen politischen Stilen und verschiedenen strategischen Organisationen geprägt waren.191

Folgende Tatsachen waren für das Entstehen einzelner Piquetero-Bewegungen von Bedeutung:

1. Viele durch die Stadtteilbewegungen erprobte Personen waren von Anfang an dabei. Vor allem Menschen mit kirchlichem Hintergrund hatten in der Anfangs-phase wichtige Funktionen inne.

2. Zum Teil kamen auch Peronisten zu den Bewegungen oder arbeiteten mit diesen zusammen. Dies geschah eventuell aus dem Grund, die Regierung de la Rúa zu schwächen.

3. Kleine Linksparteien begannen um die Jahrtausendwende mit der Unterstützung vor allem daher, um ihre eigenen Forderungen durchzusetzen.

4. Die Vernetzung einiger Organisationen (FTV = „Federación Tierra y Vivienda“, größte Piquetero-Bewegung, und CTA = konfliktorientierte Gewerkschaftszentrale

„Central de los Trabajadores Argentinos“) bot den Arbeitslosen auch in der Ge-werkschaft Unterstützung.

Die Mitglieder oder Befürworter der Piquetero-Organisationen hatten kaum ideologi-sche Gründe, vielmehr suchten sie beispielsweise nach Arbeitsplätzen, gesundheitli-cher Versorgung oder ähnlichem.192 Die Medien stellten die Piqueteros zu Beginn als gewalttätige und gefährliche Banden dar, welche den unbeteiligten Bürgern aus ego-istischen Motiven die Möglichkeit der freien Zirkulation nahmen. Daher war die Ge-winnung von politischer Handlungsfähigkeit ein mühseliger Prozess. Vor allem unter

191Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 80

der Regierung Menems wurden die Armen nicht als Subjekte anerkannt, sondern lediglich als Objekte der Politik, die geschützt werden sollen. Die peronistischen Netzwerke konnten die Bedürfnisse der armen Schichten immer weniger bedienen und aufgrund des rasanten sozialen Abstiegs kam es zum entscheidenden Verlust der Glaubwürdigkeit.193

Die ersten Piquetero-Organisationen lehnten den klientelistischen Code ab und for-derten Arbeit als soziales Recht ein. Sie stellten die sozialen Hierarchien infrage und bemühten sich nicht mehr nur um Almosen. Diejenigen, die Unterstützung bekamen, setzten sich für weitere Maßnahmen ein. Ab 2000 nahmen die Bewegungen die Un-terstützungszahlungen zu einem erheblichen Teil selbst in die Hand. Die Anerken-nung in der Bewegung gab den Aktivisten die persönliche Würde und Selbstachtung zurück, die ihnen durch die Behandlung der staatlichen Stellen und den Verlust des Arbeitsplatzes genommen wurden. Als weitere Erfolge der Bewegungen kann man das Gefühl der Kollektivität, welches das Selbstwertbewusstsein gestärkt hatte, die Verbesserung der Grundversorgung ihrer Mitglieder durch den Zugang zu Medika-menten und Suppenküchen und diverse Bildungsprogramme sehen.194

Die Piquetero-Bewegung wurde nach einer Phase des Abwartens, zu dem Zeitpunkt als Kirchner an die Macht kam, im Jahr 2004 wieder verstärkt. Die Anhängerschar ist bedeutend hoch, obwohl es keine gemeinsame Mobilisierung aller Strömungen mehr gibt. Zum ersten Jahrestag der Ermordung zweier junger Demonstranten am 26. Juni 2003 gingen 70.000 und im Jahr 2005 immerhin noch 50.000 Demonstranten auf die Straße. Teile der Bewegung bekennen sich 2006 zwar zu Kirchner, dennoch verlor die FTV Anhänger und ihre Basis identifizierte sich immer weniger mit der für die Or-ganisation zentralen Logik des politischen Klientelismus. Nach wie vor wurden dem-nach landesweite Protesttage organisiert und in allen Provinzen Argentiniens

193Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 82

194Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg

ßensperren errichtet, um der Öffentlichkeit die nach wie vor schlechten Lebensbe-dingungen klar zu machen.195