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5 Argentinien

5.10.1 Die Krise 2002

Der gesellschaftliche Zusammenhalt und die politische Stabilität Argentiniens wurden ab 1998, als die Rezession einsetzte, unumstritten äußerst stark bedroht.

Fakten zur einsetzenden Krise beziehungsweise Rezession:

Rückgang des Bruttosozialprodukts zwischen 1998 und 2002 von über 20 Pro-zent

Investitionsrückgang: sechs Prozent

Weitgehende Schrumpfung der internen Kaufkraft infolge des Reallohnverfalls und einer kombinierten Arbeitslosigkeit von ungefähr 30 Prozent

Rasches Anwachsen der Armut auf 57 Prozent151

Auflistung des Krisengeschehens:

1998 setzte die Rezession ein, weil der Warenabsatz ins Stocken geriet und die In-dustrie nicht mehr ausgelastet war.

1999 wurde der argentinische Markt aufgrund der brasilianischen Krise und der da-rauf folgenden Abwertung des Real (brasilianische Währung) mit billigen brasiliani-schen Waren überhäuft und die Ökonomie Argentiniens glitt in ein Minus-Wachstum.152

Der sich immer weiter verschuldende Staat und sein weiter ansteigendes Haushalts-defizit, schlossen eine Politik der Nachfragestärkung nach neoliberaler Meinung völ-lig aus. Die Überbewertung des Peso, aufgrund der Koppelung an den US-Dollar, machte eine Expansion der Exporte nahezu unmöglich. Die außenwirtschaftliche fi-nanzielle Situation hatte sich vor allem infolge der Asienkrise von 1997

151 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 39

weise 1998 und des Zahlungsmoratoriums von Russland 1998 verschlechtert und es kam dadurch zu einer Zinserhöhung. Im März 2001 kam es zu einer weiteren Zuspit-zung der Krise. Immer mehr Dollar-Depositen wurden aufgelöst und ins Ausland ge-schafft.

Die Politik versuchte mit diversen Strategien, unter anderem mit der Senkung der Staatsausgaben, entgegenzuwirken. Dies brachte aber genauso wenig Erfolg, wie die laufend neue Besetzung des Amtes des Wirtschaftsministers. 153

Höhepunkt der Krise war mit Sicherheit die Sperrung der Konten durch die Regie-rung, als der Internationale Währungsfonds Anfang Dezember eine bereits zugesag-te Kreditauszahlung nicht mehr auszahlzugesag-te und sich die Kapitalflucht beschleunigzugesag-te.

Durch die Sperrung (man konnte nur mehr eine begrenzte Menge Geld pro Monat abheben) wollte die Regierung das Bankensystem an sich aufrechterhalten.

Vor allem die Mittelschicht versetzte das in Wut und großen Schrecken, was zu Pro-testmärschen führte. In weiterer Folge war auch der informelle Sektor betroffen, da die Zahlungen der Mittelschicht ausblieben. Die wirtschaftlichen Kreisläufe, welche zuvor schon schlecht liefen, wurden nun noch mehr unterbrochen, da kein frisches Geld mehr floss.154

Der Sturm des Volkes brach aus, als Präsident de la Rùa am 19. Dezember eine nichtssagende Rede hielt und den Notstand ausrief. Er und sein Wirtschaftsminister traten unter äußersten Sicherheitsvorkehrungen zurück, um nicht dem Volkszorn zum Opfer zu fallen. Von nun an begann sich das sogenannte Präsidentenkarussell zu drehen. Argentinien war bankrott. Der Peso wurde freigegeben und die Bindung an den Dollar aufgelöst. Am 2. Jänner übernahm Eduardo Duhalde, nach drei kurz-zeitig tätigen Präsidenten, das Amt des Staatsoberhaupts. Die Krise verschärfte sich

153 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 40

154 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg

zunächst im Jahr 2002, erst im Herbst konnte eine leichte Besserung verzeichnet werden.155

Um diese immense, drastische Krise zu erklären kann man von drei verschiedenen Zeitdimensionen und Strukturebenen des eigentlichen Krisenprozesses ausgehen:

1. strukturelle Blockaden und die Schwäche der Wirtschaft Argentiniens an sich 2. die wichtigsten Strukturveränderungen unter Menems Regierung

3. die Krisenbewältigungsstrategie von Präsident La Rúa, die zweifellos zur Be-schleunigung der Krise und des Rezessionsverlaufs beitrug

Diese drei Hauptprobleme schoben sich letztlich ineinander und führten zu den nicht vorhersehbaren katastrophalen Ausmaßen der argentinischen Krise 2002.156 In ers-ter Linie entscheidend waren wohl die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Ära Menem. Die Schwächen und Widersprüche der damaligen Ökonomie wurden nicht nur nicht substantiell verändert, sondern auf lange Sicht sogar verschlimmert. Die Kompression der Binnenkaufkraft infolge der massiven Arbeitslosigkeit, die niedrige Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, der Reallohnverfall, der Anstieg der Ar-mutsquote, die Rohstofflastigkeit der Exporte, die Transnationalisierung der Ökono-mie und die immer größere Abhängigkeit von der Zufuhr von Ressourcen aus dem Ausland verschlimmerten die Situation zusätzlich. Die Privatisierung der Staatsunter-nehmen und die Öffnung der Wirtschaft trugen für sich genommen nicht zu einer Diversifizierung und Implementierung einer neuen Exportstruktur bei.

Vor allem die Übernahme der bedeutenden Unternehmen im Dienstleistungssektor durch ausländische Firmen führte dazu, dass für einen Gewinntransfer in harter Währung alsbald Devisen bereitgestellt werden mussten, welche aber nicht verdient wurden. Daher kam es vor allem, wie bereits zuvor erwähnt, zu einer Explosion der

155 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 41

Verschuldung. Der argentinische Haushalt wurde immer mehr und mehr belastet, was wiederum neue Staatsanleihen erforderlich machte.157

Ein Ausbrechen aus dieser verfänglichen Situation war weder durch den Export noch durch die Belebung des Binnenmarktes denkbar und schon gar nicht möglich. Das Gewicht der internen Schulden von Firmen und Regierung wuchs stetig, da die Re-zession mit einer deflationären Spirale einherging. Diese Deflation wurde wiederum durch die spezifische Währungspolitik der argentinischen Regierung sogar noch ge-nährt. Das argentinische Währungsregime trug dazu bei, eine Hyperinflation inner-halb weniger Monate auf einstellige Geldentwertungsraten zu reduzieren. Auf mittlere Sicht hingegen gab es immer mehr fühlbarere Nachteile, welche von großen Teilen der Bevölkerung und der Regierungen bis kurz vor dem Kollaps nicht wahrgenom-men wurden.158 Eine eigenständige Geld-, Kredit- und Währungspolitik war nicht möglich. Die Exporte wurden aufgrund einer dauerhaften Überbewertung des Peso erschwert, die Importe hingegen erleichtert. Diese neue zusätzliche Bedrohung der argentinischen Unternehmen führte zu Massenentlassungen und Schließungen. Un-terdessen wies Argentinien annähernd dasselbe Preisniveau wie die Vereinigten Staaten von Amerika auf, obwohl das Einkommensniveau weitaus geringer und das allgemeine Produktivitätsniveau wesentlich bescheidener war. Die Wettbewerbs-nachteile auf dem Weltmarkt, infolge tendenzieller Überbewertungen des Peso, mussten, da etwaige Wechselkursmanipulationen ausgeschlossen waren, durch Kostensenkungen oder Produktivitätssteigerungen kompensiert werden. Beides trat ein. Beides trug aber auch einen Teil zur deflationären Spirale bei, welche den lang-anhaltenden Rezessionsprozess kennzeichnete.

Das sogenannte „Currency-Board-System“ beseitigte kurzfristig zwar die Hyperinfla-tion, mittelfristig brachte es aber sehr negative Begleiterscheinungen mit sich. Der

157 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 41-42

158 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg

größte Fehler der letzten argentinischen Regierung vor der Krise war, dass sie diese nicht beseitigt haben.159

Neben der bedeutungsvollen Rolle des Currency-Board-Regimes überrascht es nicht, dass auch stark ideologisierte Positionen, die den Anteil der neoliberalen Poli-tik zur Gänze eliminieren oder verringern wollten, zu vernehmen waren, obwohl sie die argentinische Krise verursacht hatten. Vor allem die Korruption stand im Mittel-punkt. Aber auch die politische Ineffizienz und die demokratiefeindliche politische Kultur, welche sich in Klientelismus, Personalismus und dem Kult von politischen Führern manifestierte. Interessant scheint hier die Tatsache, dass dieser Stil von 1989 bis 1995 mehr als gut funktionierte und die Rezession erst 1998 eingeleitet wurde.

Vor allem der Politikstil Menems und seine autoritäre und informelle Politik erschwer-ten eine Kontrolle enorm. Durch diese mangelnde Transparenz spitzerschwer-ten sich die wirt-schaftlichen Krisenelemente zu, aber ohne die neoliberale Restrukturierung wären diese Krisenmomente in ihrer spezifischen Konfiguration überhaupt nicht erst ent-standen.160 „Zu Recht betont Carranza, dass die politischen Krisenerklärungen vor allem zwei wichtige Beschränkungen enthalten: „Erstens hinterfragen sie nicht die Ratsamkeit der markt-orientierten ökonomischen Reformen, indem sie annehmen, sie seien gut an sich und unvermeidbar […] Der zweite Mangel der politischen Erklä-rung besteht darin, dass sie die internationalen Dimensionen der argentinischen Kri-se zu ignorieren pflegen.“ (Carranza 2005:74).“ (Dieter/Tittor: 2006, S. 45). Dies be-zieht sich vor allem auf die Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika und den Internationalen Währungsfonds. Diese hielten fast über eine Dekade am neoliberalen

159 Boris, Dieter und Tittor, Anne: Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. Hamburg 2006. S. 43

Kurs fest, bis sie im Dezember 2001 keine Kredite mehr auszahlten und erst dadurch die Krise definitiv auslösten.161

Dennoch galt Argentinien lange Zeit als Musterland unter dem Internationalen Wäh-rungsfonds, da kein anderes Land so schnell die neoliberale Politik umsetzte.

Von einem lockeren Haushalt kann man aber dennoch nicht sprechen, denn ohne die Schuldendienstzahlungen hätte es beinahe immer einen primären Haushalts-überschuss gegeben. Vor allem das Drängen der Weltbank auf eine privatisierte So-zialversicherung war eine potentiell wichtige Quelle für einen unausgeglichenen Staatshaushalt.162

Die Ursachen und Gründe für die argentinische Krise waren also sowohl heimischer als auch internationaler Natur. Die Politik war außerordentlich stark durch die exter-nen Schocks und die ideologische Hegemonie des Konsensus von Washington, wel-cher zur Implementierung der wirtschaftlichen Pro-Globalisierungspolitik führte, ge-prägt. Die Hauptschuld findet sich in der Übermacht der neoliberalen ökonomischen Ideen.

Aber auch ohne den Glauben der argentinischen kulturellen und politischen Eliten an den Globalisierungsfundamentalismus hätte die Krise nicht entstehen können.163