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Physiologie des Ohres

Im Dokument behinderte und alte Menschen (Seite 43-47)

2.6 Ohr und auditive Wahrnehmung

2.6.4 Physiologie des Ohres

a) Mechanische Vorgänge in der Schnecke

Nach der Impedanzwandlung durch das Mittelohr empfängt das Innenohr das Schallsignal über die Vibratio-nen der Steigbügel-Fußplatte im ovalen Fenster, die sich auf die Flüssigkeit der Vorhoftreppe übertragen. Da diese Flüssigkeit inkompressibel ist, muß bei einer Einwärtsbewegung des ovalen Fensters (Druckanstieg) der darunter liegende häutige Gang (auch cochleäre Trennwand genannt) nach unten ausweichen. Dies bewirkt einen Druckanstieg in der (darunterliegenden) Paukentreppe, was in weiterer Folge zu einer Auslenkung des runden Fensters am Ende der Paukentreppe führt. In der nachfolgenden Halbwelle der Schwingung sind die Verhältnisse genau umgekehrt.

26 Endolymphe: hohe K+-, niedrige Na+-Konzentration; Perilymphe umgekehrt

Durch diese Auf- und Abbewegung der cochleären Trennwand kommt es zu einer Scherbewegung zwischen ihren einzelnen Bestandteilen und durch die Verschiebung der Deckmembran (Membrana tectoria; Tektorial-membran) zu einer Verbiegung der Sinneshärchen der Haarzellen des Cortischen Organs (Abb. A 2.46).

Die Haarzellen sind entlang der Cochlea in zwei parallel verlaufenden Gruppen angeordnet. Die etwa 8.000 inneren Haarzellen (IHC = inner hair cells) sind in einer Reihe angeordnet, die rund 14.000 äußeren Haarzel-len (OHC = outer hair cells) bilden drei bis fünf Reihen. Jede dieser HaarzelHaarzel-len trägt 60 - 100 Sinneshärchen (Stereozilien). Trotz ihrer wesentlich größeren Zahl enden nur 5 bis 10% der Nervenfasern des Hörnervs an den OHC (hohe Konvergenz). Die wesentlich größere Zahl der 30.000 bis 40.000 Nervenfasern innerviert die IHC. Nicht alle Nervenfasern des Hörnervs sind afferent (verlaufen also von den Haarzellen zum ZNS). Etwa 1.800 sind efferent und stehen in Verbindung mit den im nächsten Abschnitt beschriebenen aktiven Vorgängen in der Cochlea [SIL 91, DUD 96, HEL 93, BET 91, ZEN 94a]. Die örtliche Dichte der Neuronen beträgt am Beginn der Cochlea (beim ovalen Fenster) 1.150 Ganglienzellen/mm und nimmt zum Helicotrema hin ab [LIN 81].

The ear is a machine with more than a million moving parts (...) We believe that the direct stimulus (...) is mechanical stress. Somehow, one hair cell, with hundreds of microscopic sensory hairs tugging on little filaments, is tugging on hundreds of ion channels. It's a machine that we believe to be entirely mechanical with hundreds of parts in each cell. [Rle 97]

b) Ausbildung der Wanderwelle und cochleärer Verstärker

Bisher wurde die Mechanik des Innenohres nur dem Prinzip nach geschildert. Genauer betrachtet löst die Vib-ration des Steigbügel-Fußplatte zunächst nur am Beginn der Schnecke eine Bewegung der cochleären Trennwand aus, die sich im weiteren zeitlichen Verlauf als Wanderwelle entlang der gesamten Schnecke ausbreitet. Wir sprechen hier von der passiven Wanderwelle. Sie hat die besondere Eigenschaft, daß sie sich nicht mit gleicher oder nur abnehmender Amplitude entlang der Schnecke ausbreitet, sondern daß sie je nach ihrer Frequenz an einer bestimmten Stelle der Schnecke zu einem Maximum anwächst und danach ziemlich abrupt abklingt (Abb. A 2.47).

Der Ort, an dem die Wanderwelle ihr Maximum erreicht, ist von der Frequenz der Erregung abhängig und für die Frequenzselektivität des Ohres von ausschlaggebender (aber nicht hinreichender) Bedeutung. Hohe Fre-quenzen erzeugen das Maximum in der Nähe der Schneckenbasis (beim Steigbügel bzw. beim ovalen und runden Fenster), tiefe Frequenzen an der Schneckenspitze (Helicotrema). Frequenzgemische (Klänge, Geräu-sche) erzeugen mehrere Maxima entlang der Basilarmembran. Diese Betrachtungsweise liegt der Ortstheorie (tonotopischen Theorie) zugrunde (Abb. A 2.48 und Abb. A 2.49).

Abb. A 2.47: Darstellung der passiven Wanderwelle in der cochleären Trennwand [SCH 97].

Abb. A 2.48: Frequenzdispersion (Frequenzangaben in Hz) entlang der Basilarmembran; nach [BOS 91].

Abb. A 2.49: Lage der Einhüllenden von passiven Wanderwellen;

die Cochlea ist hier aufgerollt dargestellt [ZEN 94a].

Die Ausbildung eines Schwingungsmaximums durch die passive Wanderwelle bewirkt neben der Frequenzse-lektion einen ersten Verstärkungseffekt. Ursprünglich hat man das Ohr als einen rein passiven Schallsensor betrachtet. Erst in neuester Zeit haben Untersuchungen gezeigt, daß die äußeren Haarzellen des Cortischen Organs mikromechanische Schwingungen von bis zu 20 kHz erzeugen können. Durch die frequenz- und orts-selektive Anregung der äußeren Haarzellen wird die passive Wanderwelle an einem eng umschriebenen Ort bis zum Faktor 1.000 verstärkt und aufgesteilt [ZEN 94a] (Abb. A 2.50). Ohne diese aktive Verstärkung würde eine Anregung der inneren Haarzellen erst ab 60 dB SPL erfolgen [SCH 97].

Abb. A 2.50: Aktive Verstärkung der Wanderwelle; nach [ZEN 94a]

c) Frequenzselektivität des Ohres

Die Ausbildung der passiven und auch der aktiven Wanderwelle (Ortstheorie, Tonotopie) ist nicht vollkommen ausreichend, um die enorme Frequenzselektivität des Ohres zu erklären. Zu dieser Annahme gelangt man einerseits aus Messungen bei mittleren Schalldruckpegeln, bei denen fast alle Fasern des Hörnervs aktiv sind und nicht nur die, die für die jeweilige Frequenz charakteristisch sind. Trotzdem ist das Gehör auch in diesem Fall frequenzselektiv. Andererseits ist es bei einkanaligen Cochlearimplantaten (die Nervenendungen in der Cochlea werden nur an einem einzigen Ort von einer Elektrode stimuliert) möglich, die Empfindung unter-schiedlicher Frequenzen hervorzurufen. Wäre allein die Ortstheorie die Erklärung für die Frequenzwahrneh-mung, dann müßte für jede zu übertragende Tonhöhe eine eigene Elektrode am dafür maßgeblichen Ort im-plantiert werden.

Da eine einzelne Faser des Hörnervs einer Schallschwingung nur bis zu einer Frequenz von etwa 800 Hz di-rekt folgen kann, müssen an der Codierung höherfrequenter Töne mehrere Nervenfasern beteiligt sein. Beim sogenannten Salvenprinzip wechseln sich mehrere Nervenfasern so beim „Feuern“ ab, daß die Summe (Über-lagerung) ihrer einzelnen Entladungen der zu übermittelnden Frequenz entspricht. Dies führt zur sogenannten Periodentheorie (mikrophonische Theorie) der Frequenzselektivität. Einzelne Nervenfasern werden zu Grup-pen zusammengefaßt und so synchronisiert, daß das Gesamtmuster ihrer neuralen Aktivität auch höheren Frequenzen zu folgen vermag (Abb. A 2.51). Man nimmt jedoch an, daß dieses zeitliche Muster im Verlauf der aufsteigenden Nervenbahnen (wahrscheinlich bereits im Nucleus cochlearis) in ein örtliches Muster umcodiert wird, damit sich Unterschiede in der Signal-Laufzeit und in der Schaltgeschwindigkeit einzelner Nervenfasern nicht auf die Qualität der Übertragung auswirken können [TRO 98].

Abb. A 2.51: Schematische Darstellung der Übertragung höherer Frequenzen durch das Salvenprinzip; nach [GUS 96].

d) Maskierung von Schalleindrücken

Unter Maskierung wird die Verdeckung eines Schallereignisses durch ein anderes Schallsignal verstanden.

Somit hängt die wahrgenommene Lautstärke eines Schallereignisses nicht nur von dessen eigener Intensität, sondern auch von der Anwesenheit anderer Schallsignale ab. Dabei zeigt es sich, daß die gegenseitige Ver-deckung von Tönen nicht symmetrisch erfolgt, sondern daß tieferfrequente Töne sich leichter gegenüber hö-herfrequenten Tönen durchsetzen als umgekehrt [LIN 81, HEL 93, GUS 96].

e) Richtungshören und Ortung von Schallquellen

Für das Richtungshören, also die Wahrnehmung von welchem Punkt im Raum ein Schallereignis ausgeht, sind mehrere Mechanismen verantwortlich. Den ersten Beitrag zur Richtungsbestimmung liefert bereits die Form der Ohrmuschel (Pinna), die nicht nur als Schallsammler sondern auch als richtungsabhängiges Filter fungiert. Je nach Einfallswinkel des Schalls wird dieser verzerrt, woraus Rückschlüsse über die Richtung mög-lich werden. Das Hören mit zwei Ohren (binaurales Hören) liefert zwei Beiträge. Einerseits wird ein Ohr von einem im Raum befindlichen Schallereignis früher erreicht als das andere, wodurch sich eine Laufzeitdifferenz ergibt. Andererseits stellt der Kopf für die der Schallquelle abgewandte Seite einen Schatten dar, sodaß zu-sätzlich eine Amplitudendifferenz entsteht. Dieser Schatten entsteht aber nur dann, wenn die Wellenlänge des Schalls geringer als der Kopfdurchmesser ist, also ab einer Frequenz höher als 2 bis 3 kHz27. Man nimmt da-her an, daß sich beide Mechanismen ergänzen: Bei hohen Frequenzen erfolgt die Lokalisierung durch die Auswertung von Amplitudendifferenzen, bei niedrigen Frequenzen dominiert die Auswertung von Laufzeit- bzw. Phasendifferenzen [HEL 93].

Der für die Ortung ungünstigste Schall ist ein Ton (reine Sinusschwingung) im Bereich von 3 kHz. Offenbar kann dort keiner der Mechanismen seine Stärken entfalten. Ideal für die Lokalisation sind hingegen Impulse von Geräuschen (breitbandige Schallpakete; bursts) mit steil ansteigender Flanke [FOU 86]. Demnach ist die Richtung von Klopfgeräuschen besonders gut auszumachen. Nahe der Medianebene des Kopfes können sol-che Schallquellen mit einer Genauigkeit von rund 5° lokalisiert werden.

f) Reizleitung zum Gehirn

Von der Cochlea ausgehend werden die akustischen Reize über den Hörnerv (Nervus cochlearis als Teil des Nervus vestibulocochlearis = VIII Hirnnerv) und dann in der Folge über zahlreiche Schaltstellen im Hirnstamm zum auditiven Cortex geleitet. Im Gegensatz zum visuellen System erfahren die auditiven Signale auf ihrem Weg von den Rezeptorzellen zum auditiven Cortex eine wesentlich stärkere Umorganisation. Wie der Abb. A 2.52 zu entnehmen ist, erfolgt eine teilweise Auskreuzung auf die jeweils andere (contralaterale) Hirn-seite, sodaß jedes Innenohr mit beiden Hirnhälften in Verbindung steht. Diese Anordnung ist für das binaurale Hören und die damit verbundene Richtungswahrnehmung von Bedeutung [LIN 81]. Die obere Olive (Abb. A 2.52) ist demnach wahrscheinlich die früheste Ebene der Hörbahn, in der die Integration binauraler Signale erfolgt [TRO 98].

Wie bei der visuellen Wahrnehmung wird auch in der Hörbahn die Codierung mit jeder Schaltstelle komplexer, sodaß höher gelegene Neurone nur auf spezifische Schallmuster reagieren [SCH 97]. So wird die Wahrneh-mung reiner Töne durch halbseitige Läsionen des auditiven Cortex so gut wie nicht beeinträchtigt. Das Verste-hen von komplexeren Sprachsignalen (insbesondere das Herausfiltern eines von mehreren GespräcVerste-hen – Cocktail-Party-Effekt) herabgesetzt ist [TRO 98].

Abb. A 2.52: Verlauf der Hörbahn von der Cochlea zum auditiven Cortex; nach [LIN 81].

27 Bei einem Kopfdurchmesser von 14 cm und der Schallgeschwindigkeit von 330 ms-1 erhält man 2350 Hz als entspre-chende Grenzfrequenz.

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