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PHRASEOLOGIE IM WÖRTERBUCH

Im Dokument Studia phraseologica et alia (Seite 46-66)

Überlegungen aus germanistischer Perspektive Harald Burger

Zürich

In den letzten Jahren ist Lexikographie zu einem Schwerpunkt der Linguistik geworden, auch im Bereich der Germanistik, und in diesem Kontext ist auch der lexikographische Aspekt der Phraseologie ver—

mehrt berücksichtigt worden.

Im Gegensatz zur allgemeinen Lexikographie, die über eine viel—

hundertjährige T radition verfügt und deren Standards durchaus be—

achtlich sind, ist Phraseologie in den gängigen Lexika der deutschen Sprache stiefm ütterlich behandelt una erfordert deshalb besonders dringlich eine Neuorientierung. Dabei sind die phraseologischen Spe—

zialwörterbücher im allgemeinen noch schlechter als die einsprachigen allgemeinen Wörterbücher. (Soweit ich sehe, sind auch die meisten zweisprachigen Wörterbücher der europäischen Sprachen — vielleicht m it Ausnahme des slavischen Bereiches — schlechter als die jeweiligen einsprachigen.)

Beim gegenwärtigen Stand der Dinge muß man zweierlei unter—

scheiden: Einerseits die Praxis in den Wörterbüchern, andererseits die Erkenntnisse der Phraseologie—Forschung. Die Phraseologie-Forschung hat eine ganze Reihe von Forderungen an die Lexikographie form uliert, die zu einer erheblichen Verbesserung der Wörterbücher führen würden.

Aber es gibt bisher noch kein einziges Wörterbuch, das diese Erkennt—

nisse und Forderungen in vollem Umfang berücksichtigt hätte. Das hat natürlich auch zeitliche Gründe — die Entstehung und Überarbeitung von Wörterbüchern sind langwierige Projekte, und Wörterbuchredak—

tionen reagieren im allgemeinen wenig sensibel, wohl auch aus einer berechtigten Vorsicht gegenüber bloß modischen Ansprüchen — auf aktuelle Forderungen der Linguisten. Am deutlichsten hat sich die Phraseologie—Forschung bisher im Handwörterbuch der Gegenwarts—

spräche aus der DDR ausgewirkt.

Ich spreche im folgenden also prim är von der Phraseologie—For—

schung und verzichte auf eine Wörterbuch—K ritik . Die W örterbuch—

Beispiele sollen nur das jeweilige Problem illustrieren. Man kann sagen,

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daß es eine ganze Reihe von lexikographischen Fragen im Bereich der Phraseologie gibt, auf die man eine gute A ntw ort geben kann. D.h., große Problembereiche sind prinzipiell — natürlich nicht im lexikogra—

phischen D etail — gelöst oder mindestens lösbar. Ich werde diese Punkte im folgenden nur kurz resümieren. Es gibt aber auch Probleme, die bisher nicht einmal prinzipiell gelöst sind, und das sind vor allem semantische und pragmatische Aspekte. M it diesen Fragen werde ich mich hauptsächlich befassen.

Es gibt auch Probleme, die man der Lexikographie besser nicht auflädt, da sie aus grundsätzlichen Erwägungen dort kaum sinnvoll zu behandeln sind. Das g ilt für den großen, bisher noch wenig erforschten Bereich der Routineformeln. Nur ein kleiner Teil der Routineformeln w ird überhaupt in einem allgemeinen W örterbuch aufzunehmen sein, und die Bedeutungsangaben werden notgedrungen verkürzt und unzu—

reichend bleiben müssen. Dies deshalb, weil Routineformeln in ihrem soziokulturellen Kontext beschrieben werden müssen, und das geht m.E. über den sinnvollen Rahmen eines nicht—spezialisierten W örter—

buchs hinaus.

Die Probleme der folgenden drei Bereiche halte ich für im wesent—

liehen geklärt, wenn auch noch nicht in allen Details praktikabel ge—

löst:

1. Es ist kaum bestreitbar, daß alle vorliegenden W örterbücher im Be—

reich D efinition und Klassifikation von Phraseologismen unzureichend sind. Und ebenso kla r scheint m ir, daß jedes W örterbuch mindestens eine halbwegs wissenschaftliche D efinition und Klassifikation von Phraseologismen benötigt, d.h. theoretische Erörterungen im Vorwort zur Erläuterung und Begründung der lexikographischen Praxis. So hängt beispielsweise sehr viel Praktisches davon ab, ob man eine enge oder eine weite Konzeption von Phraseologie v e rtritt.

2. Ebenso eindeutig ist, daß die älteren Wörterbücher (und noch das W DG ) hinsichtlich Einordnungs— und Anordnungsproblemen völlig unzureichend waren. Im HWDG ebenso wie im Duden GW hat sich die Situation verbessert. Es geht hauptsächlich um die zwei folgenden Fragen:

— Unter welchem Lemma hat der Phraseologismus zu erscheinen?

— An welcher Stelle des A rtikels ist der Phraseologismus anzuordnen?

Die erste Frage ist weitgehend ohne Probleme lösbar. Redaktionelle Sorgfalt ist die einzige Bedingung, gleich welche Lösung man auch w ählt. Die zweite Frage hängt eng m it der Konzeption von Phraseolo—

gie zusammen. Wenn man Phraseologie im engeren Sinne versteht und nur solche Ausdrücke als Phraseologismen auffaßt, die eine weitgehende semantische Umdeutung der Gesamtbedeutung gegenüber der Bedeu—

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tung der Komponenten aufweisen, dann ist es am einfachsten, sie z.B.

m it * zu markieren und jeweils am Ende des A rtikels zusammenzustel—

len. Wenn man hingegen auch solche Ausdrücke als phraseologisch ein—

stuft, die mindestens teilweise durchsichtig sind, dann hat man zu ent—

scheiden, ob sie bei dem jeweils passenden Bedeutungspunkt anzuord—

nen sind, oder ob man sie genau so behandeln w ill wie die völlig un—

durchsichtigen. (Beispielsweise die vielen Phraseologismen m it Hand oder K o p f oder Herz, die teilweise durchsichtig sind.)

3. Unbestritten ist auch, daß alle W örterbücher hinsichtlich der Nenn—

form vieler Phraseologismen unzulänglich sind. Das ist nun nicht mehr eine bloße Frage der Sorgfalt, sondern ein Problem m it zahlreichen theoretischen Im plikationen. Ich gebe ein paar Beispiele, die ich zu—

fä llig in einem Spezialwörterbuch der gesprochenen Sprache gefunden habe: J. A. Pfeffer, Grunddeutsch — Basic (spoken) German idiom list.

Das Wörterbuch enthält keine Bedeutungsangaben, verlangt also die ergänzende Benutzung eines Bedeutungswörterbuchs. Es ist voll von unkorrekten Nennformen, wobei die Fehler verschiedene Aspekte des Phraseologismus betreffen.

Am häufigsten sind Fehler im Bereich der externen Valenz:

wie ein rohes Ei behandeln einem Spaß machen

in der Fam ilie liegen sich die Waage halten im Ohr liegen

zum Lachen bringen es m it sich bringen

[statt jdn. wie ein rohes E i behandeln, etw. macht jdm . Spaß usw.]

(Daneben finden sich durchaus korrekt form ulierte Beispiele.)

Ferner gibt es Fehler bezüglich der morphosvntaktischen R estriktionen.

z.B.:

es hoffen wollen

In dieser Nennform stecken gleich mehrere Probleme. Das sieht man, wenn man den A rtike l hoffen im Duden GW beizieht. D ort ist der Aus—

druck in dieser Formulierung gar nicht vorhanden. Dafür aber sind verwandte Ausdrücke aufgeführt. Diese sind aber nicht m it * indiziert, werden aber gleichwohl wie Phraseologismen behandelt, insofern seman—

tische Paraphrasen bei gefügt sind:

ich w ill nicht hoffen, daß du etwas davon wegnimmst (häufig in leicht drohendem Ton; ,laß d ir nicht einfallen, etwas davon wegzunehmenי); w ir wollen hoffen ( ,w ir wünschen sehr’), daß sich die Lage bald bessert (Duden GW )

Bei einer engen Konzeption von Phraseologie fallen die Ausdrücke ent—

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weder unter den Tisch oder sie werden inkonsequent — wie hier — be- handelt. Duden GW sieht richtig, daß die Verbindungen morphosyn- taktische und semantisch—pragmatische Besonderheiten aufweisen. Sie sind beschränkt auf die erste Person (wobei Duden GW nicht eindeutig ist, weil die Restriktionen nur an den Beispielen ablesbar sind). Und sie bedeuten nicht das, was von der Semantik der Komponenten her zu er—

warten wäre. Darum müssen sie paraphrasiert werden. Die negierte Formulierung hat zudem eine illokutive Komponente ’Drohung’, die rich tig benannt ist. Wie ist nun der Ausdruck bei Pfeffer zu beurteilen?

Am ehesten wohl als teils mögliche, teils unmögliche Realisierung der affirm ativen Formulierung des Duden GW. Unmöglich — im phraseo—

logischen Sinn — ist die Formulierung im In fin itiv . Möglich ist die Realisierung m it es, wobei es als anaphorische Realisierung der exter—

nen Valenz anzusehen wäre, die im Duden—Beispiel m it daß—Satz for—

m uliert ist. ( ״Meinst du, daß sich die K onjunktur wieder bessert? Ich w ill es hoffen.") Offensichtlich hat der Autor in seinem Korpus ge—

sprochener Sprache eine Formulierung m it Pronomen gefunden und da—

raus eine mehrfach inkorrekte Nennform abgeleitet.

Fehler im Bereich der externen Valenz finden sich auch in den großen Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache immer noch in großer Zahl. Ein Beispiel für viele:

sich (D ativ) die Finger verbrennen

’[durch Unvorsichtigkeit] bei etw. Schaden erleiden’; er hat sich bei seinen Spekulationen mehrmals die Finger

verbrannt (Duden GW)

W ie die Bedeutungserläuterung zeigt, gehört zum Phraseologismus die Leerstelle bei etw., die aber in der Nennform nicht genannt ist. Außer—

dem ist es semantisch gesehen kaum korrekt, diese Valenz gerade durch etw. zu charakterisieren, da der Phraseologismus sich gerade nicht auf Konkreta beziehen kann (eben nicht auf Feuer o.a.), sondern nur auf Abstrakta.

H insichtlich der morphosvntaktischen Restriktionen sind die neueren W örterbücher viel sorgfältiger, als das früher üblich war. Doch gibt es immer noch zahlreiche offenkundige Fehler. Ein Beispiel:

jmdm. vergeht [noch] das Lachen ’jmd. hört auf zu spot—

ten oder leichtfertig zu reden [wenn er erst m it den Fak—

ten konfrontiert is ij: d ir wird das Lachen noch vergehen, wenn du erst in diese Lage kommst (Duden GW )

Die Nennform läßt nicht erkennen, daß der Ausdruck üblicherweise im F utur verwendet wird, und wenn im Präsens, dann weisen Indizien im Kontext auf die futurische Bedeutung hin ("du wirst schon sehen, d ir vergeht das Lachen noch"). Da es keine entsprechenden Konventionen

für die Nennform gibt, weiß der Benutzer nicht, wie er die Form ulie—

rung im Präsens aufzufassen hat (steht hier Präsens wie sonst In fin i—

tiv? Oder bedeutet Präsens, daß kein anderes Tempus möglich ist?).

Der Beispielsatz zeigt dann allerdings die normale Verwendung des Ausdrucks.

Im Gegensatz zu diesen drei Punkten bedürfen die folgenden Pro—

blembereiche noch intensiver theoretischer und praktisch—lexikogra—

phischer Überlegungen:

4. Zunächst möchte ich auf einen diffusen phraseologischen Bereich verweisen, auf dessen Problematik ich schon verschiedentlich hingewie—

sen habe. (1) Es handelt sich um die nur schwach idiomatischen, allen—

falls teilidiom atischen Verb—Objekt— und Verb—Subjekt—Verbindungen von der A rt eine Erwartung erfüllen, eine Aufgabe lösen, Aufmerksam—

keit erregen usw. m it abstrakten Substantiven, daneben auch die Ver—

bindungen m it konkreten Substantiven wie Kaffee trinken, sich die Zähne putzen, das Licht löschen, anschalten, ausschalten usw. Aus—

drücke dieser A rt fallen als phraseologisch meist erst auf, wenn man sie aus kontrastiver Perspektive betrachtet. Diese Gruppen, die man sta tt des von uns verwendeten Terminus "phraseologische Verbindung" viel—

leicht vager als "Kollokationen" bezeichnen könnte, sind in der For—

schung noch überhaupt nicht aufgearbeitet. (2) Die Wörterbücher ent—

halten solche Verbindungen mehr oder weniger zufällig, und es ist überhaupt nicht klar, wie sie am besten zu behandeln wären. Es kommt noch eine Schwierigkeit hinzu: Das Sprachbewußtsein der deutschen Sprecher und Schreiber ist in diesem Bereich sehr unsicher. Man findet auf S chritt und T r itt Formulierungen wie diese (aus einer Kurzge—

schichte in einer Jugendzeitschrift):

Der erste Schultag ist über die Bühne gegangen. Die schlimm—

sten Erwartungen sind eingetreten. Karina sitzt zu Haus und macht Schularbeiten — und ißt, ißt leise heulend in sich rein.

("M ädchen" 1987)

Die m ir geläufigen Verbindungen m it Erwartung sind etwa:

Erwartungen hegen

Erwartungen erfüllen sich Erwartungen enttäuschen

der Erwartung Ausdruck geben...

A lle diese sind in Beispielsätzen in Duden GW aufgeführt. Daß Erwar—

tungen eintreten, klingt für mich falsch. Erwartungen erfüllen sich oder werden enttäuscht. Ein Ereignis tr itt ein, der Fall tr itt ein, daß... V iel—

leicht ist das aber zu norm ativ gedacht. Wenn ich Texte anschaue, die nicht von sehr sprachbewußten Schreibern stammen, dann komme ich zum Schluß, daß beinahe jedes Substantiv m it jedem semantisch eini—

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germaßen passenden Verb verbindbar ist. Ob das ein Symptom von Sprachwandel ist oder ob das auch in früheren Phasen der Geschichte des Neuhochdeutschen so war, kann ich mangels empirischer U ntersu- chungen nicht sagen. Eines ist sicher: Ein ähnliches Maß an Unsicher- heit findet man bereits auf den ersten Blick in Texten des 16. und 17.

Jahrhunderts, also vor der normierenden Einwirkung der überregiona—

len Grammatiken.

5. Weitaus die meisten Probleme bieten aber die Bedeutungserläute—

rungen der Phraseologismen. Die meisten damit verbundenen Fragen sind erst in Ansätzen oder überhaupt noch nicht gelöst, nur über einiges wenige besteht K larheit.

5.1. So haben sich einige Verfahren der Bedeutungserläuterung eindeu—

tig als Irrwege der Lexikographie herausgestellt.

(a) Stufen der semantischen Transformiertheit:

Der ü b e r t r a g e n e Gebrauch einer Bedeutung wird durch /ü b e rtr./, bisweilen auch noch durch eine neue Erklä—

rung ausgedrückt. Der Hinweis /ü b e rtr./ erscheint a) inner—

halb eines Gliederungspunktes, wenn der Zusammenhang zwi—

sehen konkreter und übertragener Verwendung deutlich ist (...) b) Er steht z u B e g i n n eines neuen Gliederungspunktes, wenn der Zusammenhang zwar noch gefühlt w ird, aber doch bereits gelockert ist (...) Der Hinweis /b ild l./ deutet auf die bildliche Verwendung des zuvor konkret gebrauchten Stich—

wortes hin (...) Er bildet oft den Übergang zum übertragenen Gebrauch (...), die Grenzen zwischen beiden sind fließend.

(W DG, 010)

Diese differenzierte Markierung von Übertragungsstufen (von "konkret"

zu "b ild lic h " zu "übertragen") würde voraussetzen, daß es eine diskrete Abstufung von Niveaus der semantischen Umdeutung in der Phraseolo—

gie gäbe. Tatsächlich aber handelt es sich um eine fließende Skala, und Abgrenzungen wie die hier vorgeschlagenen müssen w illkürlich und subjektiv bleiben. Es ist daher besser, auf solche Markierungen zu ver—

zichten und die Indizierung der semantischen Umdeutung der Bedeu—

tungserläuterung zu überlassen. So wird es im HWDG nicht ganz kon—

sequent, aber doch in der Regel gehandhabt, und auch das Duden GW ist in dieser Hinsicht besser als ältere Wörterbücher. (3)

(b) Vermischung von synchronen und diachronen Elementen in der Be—

deutungserläuterung:

Pfingstochse: ,(nach altem [süddeutschem] Brauch) zum Aus—

trieb (zur Pfingstzeit) auf aie Sommerweide geschmückter und behängter Ochse’: er sah aus, hatte sich herausgeputzt wie ein Pfingstochse (ugs. abwertend; ,hatte sich übermäßig und ge­

schmacklos heiausgeputzV) (Duden GW)

Zunächst w ird das Lemma Pfingstochse so behandelt, wie wenn es ein heute noch gebräuchliches freies Lexem wäre. Die Paraphrase deutet aber bereits an, daß es sich hier um einen erstens regionalen, zweitens wohl veralteten Brauch handelt. Und als Beispiel wird dann gerade die phraseologische Verbindung angegeben, die nicht m it * gekennzeichnet ist, aber durch die Paraphrase als phraseologisch erkennbar w ird. Der Benutzer w ird hier völlig im unklaren gelassen darüber, ob nur noch der Phraseologismus gebräuchlich ist oder auch das Lemma als freies Le—

xem. Wenn nur noch der Phraseologismus gebräuchlich ist — wie ich das annehme —, dann würde die Paraphrase des Lemmas als etymologi—

sehe Erklärung des im Beispiel verwendeten Phraseologismus dienen.

Es liegt also eine Vermischung historisch—etymologischer und synchro—

ner Informationen in bezug auf den Phraseologismus vor, lexikogra—

phisch gesehen ein eigentliches Durcheinander.

Eine sehr häufig anzutreffende, wenn auch nicht sehr störende Verm i—

schung von diachroner und synchroner Betrachtungsweise liegt in Bei—

spielen der folgenden A rt vor:

sich aus dem Staub(e) machen

’sich [rasch und unbemerktJ entfernen’

eigtl. = sich in einer Staubwolke heimlich aus dem Schlachtgetümmel entfernen (Duden GW )

"E igentlich" legt die Annahme nahe, daß das Folgende die wahre, so—

Zusagen unverstellte Bedeutung des Phraseologismus sei, wo doch nur gemeint sein kann: die ursprüngliche Bedeutung, in der die M otivation des Phraseologismus noch erkennbar ist. Synchron denkt niemand mehr an den m ilitärischen Kontext. Ähnlich:

jmdn. zum besten halten/haben ,jmdn. necken, foppen’

eigtl. = ihn fü r den besten Mann halten, der Spaß verste—

hen kann (Duden GW)

(Die etymologische Angabe ist übrigens mißverständlich. Bei Röhrich I 121 liest man es klarer: "der Beste muß einen Spaß verstehen, er muß es vertragen, die Zielscheibe des Spottes zu sein".)

Eine weniger mißverständliche Verteilung von synchroner und diachro—

ner Inform ation liegt im folgenden A rtike l vor:

Senkel: (...) 2. *jm d n . in den Senkel stellen ,jm dn. scharf zurechtweisen’ (...) ,jmdn. hin biegen ’ (...) zu Senkel in der älteren Beaeutung יSenkblei״; eigtl. = etw. ins Lot bringen (Duden GW)

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Hier ist immerhin gesagt, daß das "eigentlich" sich auf eine ältere, heu- te nicht mehr geläufige Bedeutung von Senkel bezieht.

(c) Paraphrasierung eines Phraseologismus durch einen anderen P hra- seologismus:

sich an den K opf greifen/fassen

,kein Verständnis fü r etw. haben’ (Duden GW)

Zunächst ist die Paraphrase einfach deshalb unbrauchbar, weil sie vom Benutzer das Aufsuchen des paraphrasierenden Phraseologismus v e r- langt. Ferner fehlt auch ganz eindeutig eine semantische Komponente, die man als *Erstaunen’, das ,N icht—fassen—können’ notdürftig wieder—

geben könnte. Und umgekehrt: die semantische Komponente ,nicht of—

fen, verbohrt’ o.a., die der Phraseologismus ,kein Verständnis fü r etw.

haben’ enthalten kann, tr ifft für den erläuterten Phraseologismus nicht zu. In solche Fallen tappt man leicht hinein, wenn man diesen nahelie—

genden, aber riskanten lexikographischen Weg einschlägt.

5.2. In der Literatur findet sich immer wieder die Behauptung, die Be—

deutungserläuterung von Phraseologismen sei schwieriger als die von einfachen W örtern, und zwar deshalb, weil Phraseologismen eine

"komplexe" Bedeutung hätten. Dies wird dann jeweils — z.B. bei Kol—

1er (1977) — durch detaillierte Analyse der Bedeutung eines Phraseolo—

gismus — z.B. "den Stier bei den Hörnern packen" — im Kontext de—

m onstriert. Das B ild verkompliziert sich noch weiter dadurch, daß manche Forscher in den Bedeutungserläuterungen ausführliche präg—

matische Informationen vermissen. (4) Ich w ill versuchen, die beiden Aspekte soweit wie möglich auseinanderzuhalten und gehe zunächst auf die Semantik ein.

Fleischer (1983) hat sich gegen diese Auffassungen gewehrt, und ich habe versucht, weitere Argumente beizubringen (Burger 1988), die ebenfalls dagegen sprechen. Ich bin, kurz gesagt, der Meinung, daß der Phraseologismus seine komplexe Bedeutung allenfalls durch den Kon—

text erhält, daß aber lexikographisch gesehen Phraseologismen nicht prinzipiell anderen semantischen Status haben als einfache Lexeme. Ein empirisches Argument dafür scheint m ir zu sein, daß in nicht—vorbe—

reiteten gesprochenen Texten die Verwendung von Phraseologismen nicht auf besondere semantische Kom plexität hinweist. Man könnte so—

gar sagen: sie werden auffällig unpräzise gebraucht. Ich gebe zwei Bei—

spiele:

1) In einer Diskussion (Club 2) über eine Geiselnahme in Nordrhein—

Westfalen vom August 1988 w ird darüber gesprochen, daß die Polizei von zwei Seiten kritisie rt wird: von den Vertretern einer härteren Linie in der Polizei selbst und im M inisterium einerseits, von der Presse und der Ö ffentlichkeit andererseits.

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Journalist: Sie haben m it dieser Aktion — m it dieser finalen A ktion — Ihrer P o litik in Nordrhein-W estfalen einen Bärendienst erwiesen.

Sie haben m it diesem/ m it dieser Aktion eine Diskussion ausge—

löst, wo Sie w irklich zwischen den Stühlen stehen/ sitzen und wo Sie méiner Meinung nach überhaupt nich herauskommen, weil der Druck jetzt so groß werden wird, daß die Linie, die Sie bisher ver—

treten ham, wahrscheinlich verdrängt wird. (...)

Polizeipräsident: Ich seh das nich so, w ir ham einen Innenminister, der sein Konzept fährt, und w ir haben eine Polizeiführung, die dazu gestanden hat, im Innenministerium wie auch w ir, und ich denke, daß w ir alle gemeinsam äh diesem Druck doch standhalten können, was mich viel mehr — viel mehr beeindruckt, ist — daß dort — die S.B. nachher to t gelegen hat, ob ich zwischen den Stühlen stehe oder sonst, das beeindruckt mich vielleicht in zweiter oder d ritte r Linie, aber Konzept ist nicht aufgegangen (...) Ich käme m ir schä—

big vor, wenn ich mich von Ihnen, Herr K ., unter Druck setzen las—

sen wollte zu entscheiden (...), wenn du jetzt nicht zugreifst, w irst du von Herr K. kritisie rt. Ich würde sagen, damit könnten w ir leben.

Zunächst einmal besteht offenbar Unsicherheit, ob man stehen oder sitzen sagt. Für diesen Zusammenhang spielt das gar keine Rolle. E nt—

scheidend ist nur, daß von zwei Seiten her Druck und K ritik ausgeübt wird. Es wäre unsinnig, dem Phraseologismus nun die semantischen Komponenten Druck und K ritik zuzuschreiben. Eine Rolle spielt nur, daß die zwei Stühle für zwei unangenehme Sachen, Sachverhalte stehen, zwischen denen man sozusagen eingeklemmt ist, aus denen man viel—

leicht nicht heraus kann, denen man sich schwer entziehen kann usw.

Schauen w ir nach, was die Wörterbücher sagen:

Duden GW:

sich zwischen zwei Stühle setzen

’sich zwei Möglichkeiten o.ä. gleichermaßen verscherzen’;

zwischen zwei Stühlen sitzen

zwischen zwei Stühlen sitzen

Im Dokument Studia phraseologica et alia (Seite 46-66)