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BIBELZITAT, RUSSISCHES SPRICHWORT UND THEMATISCHE PAARE

Im Dokument Studia phraseologica et alia (Seite 166-180)

Gerd Freidhof F rankfurt am Main

1. ',Wer ändern eine Grube gräbt, fa llt selbst hinein." Jeder Spre—

eher der deutschen Sprache kennt dieses Sprichwort, viele werden es hier und da selbst gebrauchen. Eine Verbindung m it den "Proverbia"

der Bibel w ird dagegen nur einem geringen Teil der Sprecher geläufig sein. Dort heißt es nämlich (z itie rt nach der Vulgata): "Q ui fo d it fo—

veam incidet in eam, et qui v o lv it lapidem revertetur ad eum" (Pro—

verbia 26, 27) — "W er eine Grube macht, der wird hineinfallen; und wer einen Stein wälzt, auf den w ird er zurückkommen" (zitie rt nach der überarbeiteten Luther—Bibel von 1984: Die Bibel 1985, 644). Es ist zweifellos der Einfluß der Bibel, warum dieses Sprichwort sich in so vielen Kulturen und Sprachen herausgebildet und unabhängig von einem sich verstärkenden oder abschwächenden Einfluß des Christen—

tums und damit der Bibel gehalten hat.

In der russischen Sprache läßt sich das entsprechende Sprichwort

"Ne ro j drugomu jamu — sam v nee popadeš’ " leicht an die Seite der Bibelübersetzung stellen, die nach der Synodalübersetzung von 1956 folgendermaßen lautet (B ib lija , o.J., 661): "K to roet jamu, to t upadaet v nee; i kto pokatit vverch kamen*, к tomu on vorotitsja." In der k ir—

chenslavisch—russischen Bibel von Ostrog (1580/81) findet sich der Text in einer noch vergleichsweise archaischen Grammatikalisierung (die sich allerdings leicht aus der Septuaginta erklären läßt, der Kor—

rekturvorlage für diese Bibelübersetzung): " I zryvaçi jamu iskrenemu svoemu v—padetsç vnju, ..." (B ib lia 1581).

Im Vergleich m it der Bibelstelle fä llt im Sprichwort die Kürzung um den zweiten "qui—Satz" auf. Die Erklärung ist einfach: Die Bibel—

stelle umfaßt, strukturell gesehen, 2 Quadrupel m it je 4 Konstituenten (d.h. 2x2 Subjekt— und 2x2 Prädikatskonstituenten). Solche gedoppel—

ten Strukturen widersprechen der Kondensationsstruktur von Sprich—

Wörtern, die regelhaft über nur ein Quadrupel verfügen (vgl. die A r—

beiten Milners). Während die Halbierung des Quadrupels als weiter—

schreitende Kondensation möglich ist (vgl. dt. "Eigenlob s tin k t״; "Pro—

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pria, laus sordet"; "Własna chwała śmierdzi"; vgl. Freidhof 1989, 51) und somit der implikatorische Teil des Sprichworts (etwa: fremdes/

Feindes Lob klingt o.a.) seine explizite Verbalisierung verliert, ist eine Duplizierung der Quadrupel—Struktur für das europäische Sprichwort unüblich, ja unmöglich. Die Bibelstelle bietet eigentlich die Grundlage für die Herausbildung von zwei eigenständigen und damit getrennten Sprichwörtern, jedoch nur ihr erster Teil wurde tatsächlich in den Kul—

turen und Sprachen Europas proverbialisiert.

2. Der Einfluß der Bibel auf die Herausbildung des Schrifttums in den slavischen Ländern kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Für die theologische Literatur des Kiewer Rußland ist dieses in hervor—

ragender Weise dokumentiert (vgl. besonders Podskalsky 1982). Die theologische Literatur ist jedoch wie die Bibel selbst Ausgangspunkt für intertextuelle Entwicklungen in der profanen Literatur, allen voran die Chronikliteratur. Trotz des überwiegend profanen Inhalts unterliegt die Chronistik einer "höheren" Zielsetzung, nämlich die Geschehnisse die—

ser W elt als m it dem göttlichen W illen verträglich/übereinstimmend zu beschreiben und somit theologisch zu interpretieren. Wenn jedoch von einem Einfluß der Bibel auf bestimmte Stellen gesprochen werden kann (vgl. z.B. M üller 1984, Anmerkungen, 85ff.), so ist in der Regel nicht abklärbar, ob nun ein direkter Einfluß oder aber andere vorstrukturie- rende Quellen als Ausgangspunkt anzunehmen sind. Eine dialogische Interpretation, die frei von Zweifeln und eindeutig in der Beweisfüh—

rung ist, kann für diese ältere Zeit so gut wie nicht gelingen. Daher be—

ziehen sich solche Beweise meist auf die "Eckpole" des intertextuellen

"Rahmens", d.h. auf die Ausgangsquelle (hier die Bibel) und das Denk—

mal selbst (hier die Chronik). Die dazwischen liegenaen Inter—Texte, die die kulturelle (inhaltliche und formale) Akkumulation (im Sinne des Kreises um Bachtin) und damit den Dialog der Texte untereinander erst dokumentieren, können oft in nur sehr pauschalierter Form ange—

führt werden. Das Sammeln des Autors aus den Quellen im einzelnen nachzuvollziehen und zu dokumentieren, scheint aus mehreren Gründen nur begrenzt denkbar und sinnvoll zu sein: Bei vielen Bibelstellen geht es nämlich um sehr kurze M inim al—Texte, die der Forscher nicht in allen potentiellen Texten abfragen und konkordanzartig ablegen kann.

Eine Reduktion auf die Eckpole ist dort sicher eher erlaubt, wo be—

stimmte "Weisheiten", Aphorismen, Sprichwörter o.ä. eine weitgehend eindeutige Denotation erlauben (trotz der Metaphorik!), d.h. dort, wo der Dialog der Texte untereinander und damit die Mehrstimmigkeit die

"Ausgangsstimme" nicht substantiell verändert oder um interpretiert.

Hier liegen sicher gravierende Unterschiede zu anderen Gattungen, ins—

besondere zur Romanliteratur (vgl. Bachtin 1963; Lachmann 1982). In

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kürzeren, kondensierten Texten liegt die Bedeutung der dialogischen Interpretation erkennbar auf der formalen Seite, d.h. auf dem Vergleich von Strukturen des Ausgangs— und Zieltextes als den gewählten Eck—

polen.

Zeigen dagegen die Eckpole im Hinblick auf die Denotation gravie—

rende Unterschiede (z.B. bei umfangreicheren Ausgangstexten, die zu Sprichwörtern kondensiert werden; vgl. Permjakov 1970, bes. 75ff.) und weichen somit die Anteile von Denotation und Konnotation infolge unterschiedlicher Versprachlichungsgrade voneinander ab (dieses gilt umgekehrt auch bei der sog. Entfaltung von Sprichwörtern zu Texten der Schönen Literatur), so sind A rt, Länge, Zeit usw. der Inter—Texte von großer Bedeutung. Dieses soll durch ein Beispiel verdeutlicht werden. In Proverbia, Kapitel 31, 10ff., heißt es (m it Auslassungen zi—

tie rt nach der Vulgata):

Mulierem fortem quis inveniet?

Procul et de ultim is finibus pretium eius.

Confìdit in ea cor v iri sui, et spoliis non indigebit;

reddet ei bonum et non malum omnibus diebus vitae suae;

quaesivit lanam et linum

et operata est consilio manuum suarum;

facta est quasi navis institoris, de longe portans panem suum,

et de nocte surrexit deditque praedam domesticis suis et cibaria ancillis suis;

consideravit agrum et emit eum,

de fructu manuum suarum plantavit vineam.

A ccinxit fortitudine lumbos suos et roboravit bracchium suum;

gustavit et vid it quia bona est negotiatio eius, non exstinguetur in nocte lucerna eius.

Manum suam m isit ad fortia,

et d ig iti eius apprehenderunt fusum;

manum suam aperuit inopi

et palmas suas extendit ad pauperem,

• • • • •

nobilis in portis v ir eius, quando sederit cum senatoribus terrae.

• • • • #

Fallax gratia et vana est pulchritudo, m ulier timens Dominum ipsa laudabitur.

Date ei de fructu manuum suarum, et laudent eam in portis opera eius.

Für die russische Sprache sind nun zwei Sprichwörter belegt, die in einem dialogischen Zusammenhang m it dieser Stelle gesehen werden müssen (Belege zitiert nach Sirot 1985, 98): "Ženoju dobroju obretaj lučše kameni ja dragocennogo"; "Ženoju dobroju i muž česten". Für die—

se Sprichwort—Kondensate besteht in der russischen Literatur jedoch eine gut belegte Vorstufe, die für ihre Herausbildung oder aber auch nur Stützung und Verbreitung ein dialogisches Glied, einen In te r-T e x t, dar bietet. Im 20. Kapitel des Domostroj, einem Hausbuch und p a tri—

archalischen Sittenkodex des Moskowiter Rußland aus dem 16. Jahr—

hundert, findet sich die folgende Stelle, die nach der Ausgabe von Orlov zitiert wird (Domostroj 1908, II, 17f.):

к По и к а л а ж н і д л»%, ן

(lip t ддрѴіт* бгч ж »1? л °Бр^ I Арля?л״ и1״ *í,f*h КАЛ' *״ ״ лию|го_

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М О Ж И И САД* З Н А С М Ы М * ВСЛь|29 об. ļ M H ЧвСТеНЪ БкТ, Н БЛГОрД.

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Das erste russische Sprichwort ist, vereinfachend form uliert, das M otto der Episode, die Titelei, das zweite ist die Quintessenz, die zu—

sammenfassende Wertung. Entscheidend für die dialogische Interpre—

tation ist aber, daß der Domostroj eine religiöse und weltliche Haus—

Ordnung zugleich darstellt, die sich als eine gerade Linie ” vom Herrn der W elt über den Herrn des Reiches bis zum Herrn des Hauses" prä—

sentiert (Altrussisches Hausbuch ,Domostroj’, 1987, 133). Das b ib li—

sehe W ort erhält in einem Text, der vor dem religiösen Hintergrund der Rechtgläubigkeit wohl dennoch als profanes Hausbuch zu verstehen ist, eine neue Wertung, eine neue Funktion. Der Domostroj steht eindeutig für den Dialog sakraler und profaner Texte und bietet deshalb eine wichtige Stufe auf dem Wege zu einem säkularisierten Sprichwort. Eine intertextuelle Interpretation der beiden russischen Sprichwörter muß also hinsichtlich des Domostroj auf zwei Fragen eine Antw ort zu geben versuchen: 1) Wie sehen die inhaltlichen Beziehungen zwischen Bibel—

zitat, Domostroj und Sprichwort aus? — 2) Wie sehen analog die for—

malen Beziehungen aus?

W ill man die erste Frage beantworten, so muß neben der Proble—

m atik von Denotat und Konnotat die Texteinbindung im Vordergrund stehen; hierunter ist zu verstehen die Einordnung der Stelle in den Text selbst, aber auch die Bedeutung dieses Normenbuches für die damalige russische Gesellschaft (der Domostroj war ja maßgebend vor allem für Adelsfamilien und den Kaufmannsstand). Aus formaler Sicht geht es um den Vollzug der Proverbialisierung unter Beachtung typischer Sprichwort—Strukturen, wozu auch Fragen der lexikalischen Semantik und jegliche M itte l, die der ästhetischen Markierung gehören, dienen (poetische Funktion im Sinne von Jakobson, die die M itte ilu n g / message b e trifft; vgl. Jakobson I960, 353, 357).

3. Der Forschungsbedarf zur Fragestellung ist aus meiner Sicht be—

trächtlich. Ich stimme Wolfgang Mieder, dem deutsch—amerikanischen Parömiologen, in der Beurteilung voll zu, daß "auf dem Gebiete der Bibelsprichwörter [noch viel] zu erkunden [wäre]" (Schulze 1987, Ein—

leitung). Die sowjetrussische Forschung hat sich kaum m it dem Ver—

hältnis von Bibelzitat und Sprichwort beschäftigt, wenn man die ältere Zeit der russischen Literatur ausnimmt (Molenie Daniila Zatočnika, Pčela u.a.). Im Vergleich zur Forschung in Westeuropa (vgl. die biblio—

graphischen Hinweise in Schulze 1987, X X X V III ff.) ergibt sich für das Russische ein spürbares Defizit (die Frage betreffend in den Bereichen Parömiologie, Parömiographie, Verwendung in der Literatur); der hohe Standard der sowjetrussischen Parömiologie bietet allerdings eine sichere Grundlage zur Beseitigung dieses Mangels, — so die Bereitschaft dazu wächst.

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Wer sich für das Problem von Bibelzitat und russischem Sprich- wort interessiert, kann an der Zusammenstellung von Sirot nicht v o r- beigehen, dessen Ausgabe 553 Parallelen umfaßt, die in thematischen Gruppierungen vorgestellt werden (Sirot 1985). Vereinzelt findet man Hinweise in Wörterbüchern zur Phraseologie oder zu den Geflügelten Worten. Aber gerade die dort anzutreffenden wenigen Hinweise doku- mentieren in ihrer Auswahl und teilweisen Oberflächlichkeit das D e fi- zit in der Forschung. So findet sich in dem phraseologischen W ö rte r- buch von Molotkov (Frazeologičeskij slovar’ russkogo jazyka 1968) u n - ter dem Phrasem "iy t ’ jamu komu, pod kogo" kein Hinweis auf die biblische Quelle. Günstiger sieht das für das Wörterbuch von Ašukin/

Ašukin 1966 aus: Adrianova—Perete hat festgestellt, daß die "b ib le j- skaja struja v literaturnom jazyke" bei insgesamt 167 Einheiten nach- gewiesen ist (Adrianova—Perete 1971, 8).

Für die Tradierung der Bibelzitate und der sich herausbildenden Sprichwörter spielt die aphoristische Literatur oder ih r nahestehende Werke eine bedeutende Rolle. Die auf das byzantinische Florilegium

"Melissa" zurückgehende "Pčela" (vgl. Melissa 1968 und Pčela 1910; s.

auch M a rti 1981, Einleitung) bietet außer Hinweisen auf die Quellen (biblische wie profane) eine große Zahl von Eintragungseinheiten, die bereits eine weitgehende Proverbialisierung aufweisen; hinzu kommen auch anekdotenhafte Erzählungen. Die "Pčela" ist zugleich Bestandteil der moral—philosophischen Literatur (vgl. Adrianova—Perete 1941), die sich von den Sammelbänden von 1073 und 1076 bis hin zum 16. Jh. er—

streckt (Stoglav, Domostroj). Diese Literatur dokumentiert enzyklopä—

dische resp. literarische Meilensteine in einem breiten Schrifttum sakraler und profaner Ausrichtung, dessen Dialogizität (inhaltliche und formale Abhängigkeiten, Veränderungen, Einbettungen usw.) genau zu erfassen kaum möglich ist. Desweiteren ist zu beachten, daß w ir es hier nicht m it einer allein intrakulturellen Weiterentwicklung zu tun haben, sondern auch interkulturelle Einflüsse eine ständige Rolle spielen.

In der bisherigen Forschung zum Verhältnis von Bibelzitat und Sprichwort hat eigentlich immer nur eine Einflußrichtung im Vorder—

grund gestanden, nämlich der Einfluß der Bibel auf das Sprichwort.

Dieser ist überwiegend inhaltlicher Natur in dem Sinne, daß die in der Bibel festgemachte Theologie und Moralphilosophie ihren Niederschlag in analogen oder aber kondensierten Sentenzen (Proverbien) gefunden hat. Sie treten in Konkurrenz bzw. Ergänzung zu der Volks Weisheit in den russischen Sprichwörtern, die sich ohne fremde Einflüsse entwickelt haben (die Sammlung und Niederschrift beginnt erst seit dem 17. Jahr—

hundert; vgl. Poslovicy, pogovorki, zagadki 1961, besonders Einleitung;

ferner Simoni 1899).

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Weitgehend unbemerkt ist bisher geblieben, daß in diesem Dialog auch ein formaler Einfluß des Sprichworts auf die Bibelübersetzung nachzuweisen ist (vgl. Freidhof 1989). Dieser ist in proverbialisierten Strukturen nachzuweisen, die sich im Laufe der k irchenslavisch—russi—

sehen Bibelübersetzung erst herausgebildet haben. Ich habe 1989 in diesem Zusammenhang von einer fortschreitenden Proverbialisierung von Bibelstellen gesprochen und dieses, auch unter Berücksichtigung von Vulgata und Septuaginta, zu belegen versucht (51ff.) Äußere Merkmale einer solchen Entwicklung sind parallele Strukturen inner—

halb eines proverbialen Quadrupels 7und damit die Aufgabe von chi—

astischen Strukturen, die durch die ÜDersetzungsvorlagen bedingt sind), als Folge davon Thematisierung und Rhematisierung gleichartiger Konstituenten innerhalb der Syntagmen (in der Regel Rhematisie—

rung des Prädikatskonstituenten) sowie Einbringung von Antonymen resp. thematischen Paaren in aie parallel geschalteten Quadrupel—

Einheiten. Alle diese Erscheinungen sind für das russische Sprichwort typisch.

Wenn man z.B. Proverbia 10, 4 oder Proverbia 12, 4 in der Elisa—

bethanischen Bibel (Ausgabe Biblia 1762) m it der Übersetzung der Synodalausgabe von 1956 (Ausgabe B iblija o.J.) vergleicht, so findet sich diese Behauptung leicht bestätigt:

Niščeta. muza. smir jaet, rucë že mužestvennych obogaščajutsja (B iblia 1762).

Lenivaja ruka delaet bednym, a ruka prileźnych obogaščaet œ ib lija o.J.).

Zena mužestvennaja venec mužu svoemu: jakože v drevē červ*, tako mūža pogubljaet žena zlotvornaja (B iblia 1762).

Dobrodetel’naja žena — venec dlja mūža svoego; a pozornaja

— как gniV v kostjach ego (B ib lija o.J.).

Wenn in diesem Zusammenhang nur von proverbialisierten Strukturen gesprochen werden sollte, so vor allem deshalb, weil eine weitere Um—

Strukturierung in Richtung Proverbium beobachtet werden kann. Er—

gebnis einer dialogischen Beziehung von konkretem Bibelzitat und all—

gemein—abstrakter Sprichwortstruktur ist nämlich das jeweilige Sprichwort, das für die russische Sprache belegt ist:

Trud čeloveka korm it, a len’ p o rtit (Sobolev 1983, 133).

Zena blagonravna — venec mužu svoemu; žena zlonravna — mužu pogibel’ (Sirot 1985, 98).

Gegenüber den Bibelzitaten stellen diese Sprichwörter zwar keinen w e - sentlich anderen Grad in der Kondensation dar, wohl ist aber ihre Struktur in höherem Maße proverbial. Eine weitere Verkürzung wäre nur dann möglich, wenn die 2. Prädikation, die von der 1. logisch im —

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pliziert wird, ihre Explizitheit verliert (Ergebnis, das in seiner Im—

p lizith e it voll verstehbar ist: Trud čeloveka ko rm it).

Es muß erwähnt werden, daß die fortschreitende Proverbialisierung durch andere Texte dialogisch unterstützt werden kann, so durch den erneuten Vergleich m it den Vorlagen (insbesondere m it der Vulgata;

vgl. Freidhof 1989, 53f.). Natürlich sind andere Inter—Texte denkbar, in der Regel aber aus Gründen der möglichen Datenerfassung nicht voll—

ständig ermittelbar.

4. Die Heranziehung von thematischen Paaren (nach Permjakov) ist ein geeignetes Instrument, die ’1Verwandtschaft" von Sprichwörtern und Bibelzitaten (Bibelstellen) zu ermitteln. Bei einer solchen Ver—

wandtschaft muß allerdings offenbleiben, ob im Einzelfall ein direkter Einfluß, eine typologische Verwandtschaft oder gar eine Kreolisierung verschiedener Systeme vorliegt (vgl. Ivanov/Toporov 1965, 8). Tren—

nungen sind hier oft nicht einwandfrei möglich, zumal in der Bibel mit Einflüssen der jüdischen Volksweisheit (vorliegend in mündlich tradier—

ten Formen) zu rechnen ist, zu denen auch das Sprichwort zählt (vgl.

Eissfeldt 1964, 75ff.; Kaiser 1969, 332ff.; Rankin 1954). Bei kreolisierten religiösen bzw. Moralsystemen, wie dem in der Kievskaja Rus’, kann ohnedies der christliche und vorchristliche Anteil, der die Volksweisheit ebenfalls entscheidend repräsentiert, nicht getrennt werden. Die inter—

textuelle (hier besser: dialogische) Werdung kreolisierter Systeme kann praktisch nicht nachvollzogen werden, ja ist für die Phase vor den schriftlichen Denkmälern fast ausgeschlossen — so man nicht gewisse Ergebnisse aus sprachenvergleichender Etymologie gewinnen kann.

Dieses ist nur sehr vereinzelt und meist ansatzweise möglich; man vgl.

z.B. die etymologischen Zusammenhänge zwischen dem slavischen Na—

men für Gott (bog), iranisch—indisch baga—/bhága— ("Reichtum ",

"Zuteilung" o.ä.) sowie russ. "bogatyj"/"ubogij (vgl. Vasmer 1953, I, 98f.; 1958, III, 169; insbesondere aber Zimmer 1984 und 1986). Die Forschung ist darauf angewiesen, aus den Eckpoldaten Schlüsse zu zie—

hen, deren dialogische Etappen nicht (zweifelsfrei) dokumentierbar sind.

"Istorija pis’mennoj poslovicy na Rusi načinaetsia s momenta po—

javlenija perevodnych pamjatnikov paremiografii" ^Adrianova—Perete 1934, 59 — unter Hinweis auf die russische "Pčela ). Dieser Aussage steht zur Seite, daß "parallel’no s étoj knižnoj poslovicej, negramotnaja massa zakrepljala svoi moral’nye vozzrenija v poslovicach, peredavav—

šichsja ustno i liš ’ izredka bolee ili menee slučajno popadavšich v lite — raturnye pam jatniki" (ibidem). Als übersetzte "Melissa" versteht sich die "Pčela" in einem anteiligen Dialog auch m it der Bibel, eine Zusam—

menführung m it der Volksweisheit (der Sprichwörter in zunächst

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mündlicher Tradition) ist dialogisch kaum nachvollziehbar. Anders for—

m uliert: Die Synthese von biblischer Moral und Volksweisheit kann am einfachsten noch aus dem Ergebnis, d.h. aus dem Kanon belegter Sprichwörter (im Vergleich m it dem Eckpol Bibel) nachgewiesen wer—

den. Den Ansatz dazu bilden die thematischen Paare.

Die Definition thematischer Paare steht in Verbindung m it der wissenschaftlichen Notwendigkeit, das Sprichwortmaterial zu klassifi—

zieren. Hierzu liegen sehr unterschiedliche Versuche vor (Permjakov 1979, 9). Am tragfähigsten scheint jedoch eine solche Klassifikation zu sein, die — unter Berücksichtigung der logischen Struktur des Sprich—

worts — die invarianten Gegensätze der lexikalisch besetzten Konsti—

tuenten zum Gegenstand hat. Solche Gegensätze, die nicht ausschließ—

lieh m it den Kategorien der Antonymie, Komplementarität, Kontra—

diktion, Konversion o.ä. (also Begriffen der lexikalischen Semantik) zu erfassen sind (vgl. z.B. Inhalt — Form, Sache — Merkmal, Tätigkeit — Resultat usw. — ibidem, 34, 39), zeigen in der einzelsprichwörtlichen Realisierung sehr unterschiedliche Lexeme (Varianten). Hier ist eine Verwandtschaft m it dem RS—System von Ivanov/Toporov erkennbar, das als eine "sistema protivopostavlenij" zu verstehen ist (Ivanov/

Toporov 1965, 63ff.). Auch Sirots Versuch von 1897 (Sirot 1985), die m it den Bibelstellen korrespondierenden Sprichwörter zu ordnen und nicht einfach alphabetisch aufzulisten, läßt das Prinzip des Gegensatzes (zwar ungeklärt und sehr in tu itiv ) anklingen. Ein analoges Bemühen ist auch in Sprichwörterbüchern erkennbar, die eine theoretische Ausein—

andersetzung m it der Klassifikationsproblematik für sich nicht in An—

spruch nehmen können (vgl. z.B. Dal’ 1984).

Während jedoch der semantische Gegensatz in den thematischen Paaren ein regelhaftes, genrekonstituierendes Merkmal der Sprichwör—

ter bildet, ohne welches die logische Im plikation nicht ausgeprägt wäre (das 2. Syntagma wird vom 1. Syntagma im Quadrupel im pliziert — auch bei vorliegender Tilgung!), ist dieses im Bibelzitat nicht in glei—

eher Weise deutlich. Hier besteht eine sichtbare Abhängigkeit vom Kondensationsgrad und damit von der Genrezugehörigkeit des Kurz—

Textes (Anekdote/Erzählung, Gleichnis, Proverbium). Im Idealfall fä llt also der Textausschnitt aus der Bibel bereits m it proverbialen Struk—

turen zusammen (vgl. besonders den liber proverbiorum). Ich werde mich an dieser Stelle auf bereits weitgehend kondensierte Bibelstellen beschränken, da sie mein Anliegen am anschaulichsten demonstrieren können.

Das thematische Paar "gut — schlecht" (vgl. Permjakov 1979, 35) ist im Sprichwort besonders produktiv. Es ist natürlich, daß das Messen und Werten im Sprichwort seinen besonderen Platz hat (vgl. Reiter

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1978), wo doch die Sprache im allgemeinen axiologische Kategorien (des Denkens) in großer Zahl versprachlicht (Vendler 1967; V o l’f 1985).

som it hat es auch Sinn, den etymologischen Zusammenhang zwischen

"bog" ("Zuteilung, Reichtum, G ut" o.ä.) und "u—bog—ij" (eigentlich:

"seiend ohne Zuteilung, Reichtum, Gut" o.ä.) als eine axiologische Einordnung kultursemiotisch anzuerkennen.

Ein produktiver Realisierungstyp für die graduelle axiologische Einordnung ist im Russischen "Besser X als Y " (Lučše nogoju zapnuV—

sja, čem jazykom; vgl. Sobolev 1983, 117). Im Rahmen dieses Struktur—

typs bestehen im Russischen syntagmatische Verbindungen m it "zia.ja.

žena", z.B.: "Lučše chleb est’ s vodoju, čem žiV so zloju ženoju; Lučše žiV so zmeju, čem so zloju ženoju" (Sirot 1985, 100). Dieser Typ ist in der Bibel sehr gut belegt, die hier nach der Vulgata zitie rt ist:

Melius est habitare in terra deserta, quam cum muliere rixosa et iracunda.

(Proverbia 21, 19)

Melius est sedere in angulo domatis,

quam cum muliere litigiosa et in domo communi.

(Proverbia 25, 24)

In besonderer Weise typisch für axiologische Einstufungen ist das thematische Paar "A rbeit/F leiß — Faulheit/Trägheit" (vgl. Permjakov 1979, 38: trud — bezdel’e), für das die Bibel (bes. Proverbia) viele Belege bietet:

In p ig ritiis hum iliabitur contignatio,

et in in firm ita te manuum perstillabit domus.

(Ecclesiastes 10, 18)

Propter frigus piger arare noluit;

mendicabit ergo aestate, et non dabitur illi.

(Proverbia 20, 4)

Egestatem operata est manus remissa,

Egestatem operata est manus remissa,

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