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Der Osten als Basis für viel Phantasie – über die Neuentdeckung der ostmitteleuropäischen Räume nach der Wende

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 110-114)

Das seit der Wende ansteigende Interesse an Ostmitteleuropa spiegelt sich auf der literarischen Ebene wider – Polen wird von der jungen Generation der deutschsprachigen SchriftstellerInnen zum wichtigen Reiseziel der fiktionalen Werke gewählt. Die AutorInnen konstruieren auch viele Arten der Reisen, die die Figuren nach Ostmitteleuropa führen.

Mehrere unterschiedliche Polenreisen schildert in ihrem Roman Himmelskörper (2003) die 1968 in Westberlin geborene Autorin, Essayistin, Journalistin und Künstlerin Tanja Dückers.369 Nach zwei Lyrik- und Kurzprosaexperimenten, die vom breiteren Publikum unbeachtet blieben, stieß ihr Debütroman Spielzone (1999) auf ein größeres Interesse in der Berliner Literaturszene. Die Handlung spielt in den sagenumwobenen Bezirken Neukölln und Prenzlauer Berg, wo sich zwischen einem

369 Dückers [2003]. Weiter im Text mit Sigel HK und Seitenangaben.

Friedhof, Lebensmitteldiscounter und einer Stammkneipe die Wege bizarrer Protagonisten – Künstler, Proleten, Müßiggänger und Selbstdarsteller – kreuzen. Was ihr Leben mit den Figuren des nachfolgenden Erzählbandes Café Brazil (2001) verbindet, ist die Flucht vor dem gefürchteten

„Gleichlauf aller Tage“, der „Pärchenharmonie“ und der „schönen Langeweile“.370 Für die von Dückers entworfenen Liebesbeziehungen ist eine gegenseitige Entfremdung charakteristisch; Sex wird zum sportiven Spiel mit dem eigenen Körper degradiert. Für ihre Texte wurde die Autorin mehrmals mit Preisen und ausländischen Stipendien ausgezeichnet u. a. von der Stiftung Kulturfonds, der Käthe-Dorsch-Stiftung, des Berliner Senats, der Villa Aurora in Los Angeles, des Baltischen Zentrums in Gotland und der Stiftung Brandenburger Tor.371

Einen ambitionierten Charakter weist der Familienroman Himmelskörper auf. Seine Handlung konzentriert sich auf das Bestreben der Protagonistin, einer jungen Meteorologin Freia, ein lang verschwiegenes Geheimnis der Familie zu entlocken. Dies bietet der Autorin den Anlass, den Prozess einer kritischen Auseinandersetzung der dritten Generation der Vertriebenen mit den bisher tabuisierten Themen wie Krieg und Flucht nachzuzeichnen. Damit arbeitet die Autorin dem verbreiteten Eindruck der Literaturkritiker entgegen, die die Werke der jungen Generation der deutschen SchriftstellerInnen als apolitisch, geschichtsvergessen und mitunter auch narzisstisch beanstanden. Indem Tanja Dückers die Geschichte der versunkenen „Gustloff“ zum Plot ihres Romans macht – und zwar ein Jahr nach der Veröffentlichung der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass – bringt sie den Anspruch der jungen Generation zum Ausdruck, auch der Enkelgeneration das erzählerische Vorrecht auf schwierige Themen der deutschen Geschichte wie Krieg, Flucht und Vertreibung einzuräumen. Das mit diesem Thema zum Ausdruck gebrachte Interesse an Polen begründet die Autorin zum einen mit ihrem geographisch nahe gelegenen Geburts- und Wohnort Berlin und zum anderen mit der eigenen Familiengeschichte. Im Alter von 30 Jahren erfuhr sie zum ersten Mal, dass ihre Familienmitglieder ursprünglich aus Königsberg stammten, was ihr Interesse für das Land noch verstärkte.372 Diese biographischen Hintergründe werden auf die Familienkonstellation des Romans übertragen. Die Autorin konstruiert den Plot des Romans in Anlehnung an verschiedene Arten von Reisen nach Polen. Die Figur der Großmutter begibt sich auf eine literarische Zeitreise nach Danzig, während der die Umstände ihrer Flucht geschildert werden.

Zum anderen erzählt die Protagonistin von mehreren Urlaubsreisen, die ihre Mutter, als Vertreterin der zweiten Generation der deutschen Vertriebenen, nach Warschau führen. Nicht zuletzt werden im Roman die Entdeckungsreisen der Enkelgeneration konstruiert. Indem die Autorin die deutschen Vertreter verschiedener Generationen nach Polen reisen lässt, kann sie den zeitbedingten Wandel der Wahrnehmung plausibel nachzeichnen.

Im gleichen Jahr wie Himmelskörper ist der der zweite Roman des 1962 in Leipzig geborenen Autors Olaf Müller, Schlesisches Wetter373 erschienen. Über den Autor stehen nur wenige Informationen zur Verfügung. Es ist bekannt, dass er Evangelische Theologie und Literatur am damaligen Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig studierte und anschließend unter anderem als Journalist und Drehbuchautor arbeitete. Für die Recherchen für seinen Debütroman Tintenpalast hielt er sich mehrere Monate in Namibia auf. Beide bisher publizierten Romane fanden keine größere

370 Vgl. Kraft [2003]: S. 271.

371 Vgl. www.tanjadueckers.de; ebd., S. 271.

372 Aus der an d. V. gerichteten E-Mail vom 8. August 2008. Die Verfasserin bedankt sich herzlich bei Tanja Dückers für diese Informationen.

373 Müller [2003]. Weiter im Text mit Sigel SW und Seitenangaben.

Resonanz in der deutschen Literaturszene. In den Rezensionen der FAZ und der SZ wurde dem Autor vorgeworfen, dass er in Schlesisches Wetter allzu reichlich aus dem Fundus gängiger Topoi geschöpft habe.374 Für die Ziele der vorliegenden Arbeit ist es allerdings interessant, welcher tradierten Denkmuster sich der Autor bediente und wie sie literarisch umgesetzt wurden. Ähnlich wie Tanja Dückers, konstruiert Olaf Müller die Handlung des Romans mithilfe von mehreren Reisen, die die Protagonisten sowohl in vergangene, als auch aktuelle geopolitische Räume Ostmitteleuropas führen. In Form einer literarischen Rückblende wird von der Figur der Mutter eine Zeitreise in ihre alte schlesische Heimat unternommen. Durch die Figur der Freundin des Protagonisten bringt der Autor die für die jüngste Generation so typische Weltoffenheit und Reiselust zum Ausdruck. Doch der Hauptplot der Handlung konzentriert sich auf den Aufbruch des Ich-Erzählers als Vertreter der zweiten Generation der deutschen Vertriebenen nach Schlesien, wo ihn der Autor schlussendlich seinen Platz auf der Erde finden lässt.

Drei Reisen in verschiedene Länder werden von Christof Hamann zum Strukturprinzip seines 2003 erschienenen Romans Fester375gemacht. Der 1966 geborene Autor studierte Germanistik, Soziologie, Philosophie und Geschichte, bevor er 2001 in Essen mit einer Arbeit über New York in der deutschen Gegenwartsliteratur promovierte. Neben der darauf folgenden wissenschaftlichen Tätigkeit publizierte er Beiträge in verschiedenen Zeitschriften. Seit 2001 veröffentlicht er neben wissenschaftlichen auch literarische Texte, für die er mehrmals mit Stipendien ausgezeichnet wurde.

2002 wurde ihm der Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und ein Jahr später der Debütpreis des Buddenbrookhauses in Lübeck zuerkannt. In seinem literarischen Werk spiegeln sich die Weltreisen wider, die der Autor unternommen hat. Während die Handlung des Debütromans Seegfrörne in einer Provinz am Bodensee spielt, beschreibt er in Usambara (2007) die Erstbesteigung des Kilimandscharo im damaligen Deutsch-Ostafrika. Die neueste Veröffentlichung (zusammen mit Susanne Catrein) Warschauer Lapidarium ist ein Collage aus Fotos und Texten, die den Warschauer Aufstand dokumentieren und im Rahmen des Projekts des NRW-Literaturbüros und der Kunststiftung NRW realisiert wird.

Der nachfolgend zu analysierende Roman Fester schildert drei verschiedene Reisen des Protagonisten. Die erste umfasst die Strecke Prag - Přerov – Krakau – Zakopane. Die zweite führt ihn von Windhoek über Swakopmund bis zum Etosha und Waterberg Park in Südafrika. Das Ziel der letzten Fahrt ist Amerika, wo er Boston, Providence, New York und Philadelphia bereist. Indem der Autor all die weiten Reisen mit einem Misserfolg des Protagonisten enden lässt, kann der Roman als eine Persiflage der unbegrenzten Reisefreiheit und Weltoffenheit gelesen werden.

Im Leben des Autors, dessen Buch im Folgenden analysiert wird, spielte die geographische Nähe zu Polen und Tschechien eine bedeutende Rolle. Gernot Wolfram, Jahrgang 1975, wuchs im Dreiländereck in Zittau auf. Von der Kindheit an faszinierte ihn die topographische Nähe zu den Metropolen Berlin und Prag, die er auf Reisen mit den Eltern erkundete, bevor die Familie 1987 aus der DDR ausreiste.376 Zum Studium der Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften ging er nach Berlin. Hier veröffentlichte er seine ersten publizistischen Beiträge für die Berliner Seiten

374 Vgl. Peter [2003].

375 Hamann [2003]. Weiter im Text mit Sigel F und Seitenangaben.

376 Alle biographischen Informationen nach dem Autorenlexikon unter www.literaturport.de (zuletzt am 21.11.2010)

der FAZ und der WELT. 2003 erschien der erste Erzählband Der Fremdländer, der positive Kritiken bekam. Die Tätigkeit in der Stiftung Neue Synagoge bot dem Autor den Anlass zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte. Sein vertieftes Interesse für die jüdische Kultur führte zur Promotion mit einer Arbeit über Paul Celan und den Kulturzionismus in Deutschland.

Zuletzt hielt sich der Schriftsteller – der sich selber augenzwinkernd nach Bertold Brechts Konzept

„Aufschreiber“ nennt, weil der Begriff „nicht so aufgeladen“ sei377 – als neuer Stipendiat auf der Insel Sylt auf, wo er auf facebook seine Eindrücke von der Nordseeinsel dokumentierte. Sein literarisches Credo sei es, Beobachtungen festzuhalten, „die in der Hektik und Unachtsamkeit des Alltags untergehen, die aber auch Bedeutung tragen – wenn man sie aufschreibt und damit andere berühren kann.“378 Der Erzählton des Autors zeichnet sich durch „pathetische Sachlichkeit“ aus, die für englische Sprache charakteristisch ist, und die bei Wolfram „auf überzeugende Weise gelassen“

klinge, ohne dabei in Nachlässigkeit zu verfallen.379

Gernot Wolfram unternahm zahlreiche Reisen, die sein literarisches Werk inspiriert haben. Er bereiste u. a. Italien, Serbien, Montenegro, Albanien und Griechenland. Nach seinem Studium ging er als Dozent für Interkulturelle Kommunikation an die Universität Breslau, wo er an dem Roman Samuels Reise zu schreiben begann, der 2005 erschien380. In diesem Road-Movie wird die persönliche Erfahrung des Fremdseins und seiner vielfältigen Schattierungen literarisch verarbeitet und zugleich das Polen der Nachwendezeit entworfen.

Die literarischen Profile anderer AutorInnen, die in ihren Werken den ostmitteleuropäischen Raum als Handlungsort konstruieren, wurden bereits in vorherigen Kapiteln dargestellt. Michael Zeller verknüpft in seinem Roman Die Reise nach Samosch mehrere Arten von Reisen nach Polen, die im Folgenden analysiert werden. Wolfgang Büschers Reisebericht Berlin-Moskau. Eine Reise zu Fuß fängt mit der Schilderung seines Fußmarsches quer durch Polen an. Hans-Ulrich Treichel thematisiert in seinem Werk zwei parallel zueinander erzählte Reisen des Erzählers durch Polen und die Ukraine. Im exorbitanten Roman von Juli Zeh Spieltrieb381 wird in Form einer Analepse eine literarische Zeitreise in das kommunistische Polen unternommen. Judith Hermann siedelt das Geschehen zweier Erzählungen in Tschechien an. Nicht zuletzt kann Ingo Schulze als der einzige deutschsprachige Autor gelten, der im Roman Adam und Evelyn382 seine Figuren an den Balaton reisen lässt.

Bis auf den Reisebericht von Wolfgang Büscher, in dem der Erzähler mit dem Verfasser weitgehend identifizierbar ist und der eine realitätsgetreue Beschreibung der Reiseeindrücke anstrebt, haben die Werke, die den ostmitteleuropäischen Raum zum Handlungsort konstruieren, einen fiktionalen Charakter. Daher erwächst aus dem Postulat, das Tanja Dückers durch die Figur Wielands in Himmelskörper zum Ausdruck bringt, das literarische Credo der deutschen Nachwendeliteratur: „Den Osten muß man einfach nur als Basis begreifen, als Basis für viel Phantasie.“ (HK, S. 155) Von welchen alten Denkmustern die literarischen Phantasien über den Osten beherrscht werden und inwieweit neue innovative Imaginationen auf Polen, Ungarn und Tschechen projiziert werden, untersuchen folgende Unterkapitel.

377 zit. nach: Fink [2010].

378 zit. nach: ebd.

379 Zit. nach: Fessmann [2005].

380 Wolfram [2005]. Weiter im Text mit Sigel SR und Seitenangaben.

381 Zeh [2004]. Weiter im Text mit Sigel ST und Seitenangaben.

382 Schulze [2008]. Weiter im Text mit Sigel AE und Seitenangeben.

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 110-114)

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