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Den Frühsommer in einem anderen Land erleben – unterwegs im postsowjetischen Osten

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 127-130)

Neben den Reisen, die in die Orte des „verlorenen Ostens“ unternommen werden und den Zeitreisen, die sich der kommunistischen Vergangenheit Polens widmen, werden in der jüngsten deutschsprachigen Literatur mehrere Reisen in das Nachwende-Polen konstruiert. Dabei ist charakteristisch, dass die AutorInnen ihre nach Polen reisenden Figuren ein breites Spektrum an Erfahrungen sammeln lassen, was den Leser das Land in erster Linie als Schauplatz des Erfolgs oder

des Scheiterns der Protagonisten wahrnehmen lässt. Wichtige politische Ereignisse, wie der NATO- oder EU-Beitritt, werden dagegen nicht thematisiert.

Als Beispiel für diese Tendenz kann Gernot Wolframs Roman Samuels Reise gelten. Der Autor entwirft die Titelfigur als einen leidenschaftlichen Fan von Science-fiction-Romanen des berühmten polnischen Schriftstellers Stanisław Lem. Als Entschädigung für die längere Abwesenheit seiner Mutter soll der Junge seinen Lieblingsautor Autor in Krakau treffen. Der Ich-Erzähler, der vom Autor als Übersetzer der altenglischen Literatur konstruiert wird, bekommt von Samuels Großvater Predotta den Auftrag, ihn auf seiner Reise nach Polen zu begleiten. Wie bei vielen anderen Figuren, die die Reise nach Polen nicht aus eigener Initiative unternehmen, beschreibt der Autor vielfältige Befürchtungen und Zweifel seiner Figur, die allerdings innovativerweise mit einer poetischen Vorstellung von dem unbekannten Reiseziel verknüpft werden: „Im Grunde war es keine üble Idee, für ein paar Tage Berlin zu verlassen, loszuziehen mit Geld, das mir nicht gehörte, neue Menschen zu treffen und den Frühsommer in einem anderen Land zu erleben. Beschreibungen von den Flüssen Polens tauchten in mir auf, die ich vor Jahren einmal aus dem Englischen übersetzt hatte. Darin hatte es so melodische Wörter wie lichtgelbe Flusswiesen, Hügelland, Königsfurt, Wawelburg, Waldrevolution, Kanonendampf, italienisch anmutender Osten gegeben. Aber das war ein Text aus dem achtzehnten Jahrhundert, und ich stand am Ende eines anderen, reichlich chaotischen Jahrhunderts in Predottas Garten und wusste nicht, ob meine lebhafte Aufbruchstimmung nicht nur diesen nächtlichen Erinnerungen an Wörter zu verdanken war.“ (SR, S. 29)

Die Reise wird für beide Figuren als ihre erste reale Begegnung mit Polen konstruiert. Das eigentliche Abenteuer beginnt, als Samuel Predottas Betrug durchschaut und sich alleine auf den Weg nach Warschau macht, um den richtigen Schriftsteller zu treffen. Der über sein Verschwinden besorgte Ich-Erzähler versucht den Jungen ausfindig zu machen, was zum Hauptplot der Handlung konstruiert wird. Das Land wird dabei von dem Autor zum Raum stilisiert, dessen Durchquerung eine grundsätzliche Metamorphose beider Figuren und letztendlich auch ihre Verständigung ermöglicht.

Samuel, der in Deutschland als schüchtern, zurückgezogen und unter Anfällen leidend dargestellt wird, erscheint in Polen auf einmal als souverän, selbstbewusst, gesprächs- und kontaktfreudig.

Seinen Ich-Erzähler lässt Gernot Wolfram während der Reise aus dem Elfenbeinturm der altenglischen Schriften herauskommen und die Schönheit der realen Welt bewusst zu genießen lernen. Polen wird zum Raum konstruiert, der eine ungetrübte und frühsommerliche Atmosphäre ausstrahlt, dank der der Erzähler neue Inspiration für seine Übersetzungsarbeit schöpft: „Ich saß am Schreibtisch meines großen, hellen Zimmers im Hotel Bari und war glücklich, in der Nähe dieser prächtigen Stadtdächer und Markplätze zu sein und zu übersetzen. Es ging zügig voran, als würde ich durch einen vom Frühsommer erwärmten Fluss waten. Ich hatte gut geschlafen und genoss es, allein zu sein.“ (SR, S. 63) Während des Aufenthalts in Krakau kann der Ich-Erzähler seine angeborene Reiselust entdecken, die sich bisher nur in den Übersetzungen der Reisejournale erahnen ließ. Dabei wird er sich dessen bewusst, dass sich sein Bedürfnis nach einem geregelten Alltag in der Konfrontation mit Polen als eingebildet erweist: „Ich beschloss, dass ich, sofern ich Samuel fand, morgen in einem Zug sitzen würde, der mich dahin zurückbrachte, wo ich hingehörte. Im Grunde wusste ich jedoch, dass ich das überhaupt nicht wollte. Der Sommer hatte begonnen, und diese Stadt mit ihren Menschen faszinierte mich und brachte mich durcheinander.“ (SR, S. 93f.) Die Reise nach Polen verändert nicht nur seine Lebenseinstellung, sondern auch seinen Umgang mit Menschen. Auf Hilfe von Fremden angewiesen, entwickelt er ein bisher ungewohntes Maß an Vertrauen, Aufgeschlossenheit, Toleranz sowie Selbstverständlichkeit, mit der er auf skurillste Situationen reagiert. Nicht zuletzt geschieht diese Umwandlung unter dem wohltuenden Einfluss von der Polin

Lidia, die ihn dazu rät, nicht wie alle anderen Ausländer „hinter jeder Ecke“ einen Abgrund zu wittern. (SR, S. 120). Die Spontaneität, die bei der Suche nach Samuel von ihm gefordert ist, erlaubt ihm ein bisher nicht bekanntes Gefühl der berauschenden Freiheit zu erfahren.

Als logische Folge des Charakterwandels der beiden Figuren wird ihre Versöhnung zum Schluss des Romans geschildert. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Junge telefonisch ein Treffen in Warschau verabredet und die Leichtigkeit, mit der er sich in einem fremden Land und ohne Sprachkenntnisse bewegt, erfüllen den Ich-Erzähler mit Respekt und Bewunderung. Die Polenreise, die sie gemeinsam, und doch getrennt unternommen haben, schafft eine Basis für Nähe und Verbundenheit. Gernot Wolfram entwirft Polen zu einem Raum, der nicht nur dank der Architektur, Landschaft und Bevölkerung begeistert, sondern auch die Wünsche der Reisenden trotz der scheinbaren Hindernisse in Erfüllung kommen lässt. Die Leser werden nicht nur durch die schönen Gassen und Landschaften geführt, sondern auch in Jazz-Konzerte, Kneipen, bunte Transvestiten-Clubs und in blendende, reiche Welt der skurrilen Doppelgänger-Unterhaltung mitgenommen. All das setzt sich mit dem Denkmuster des dunklen, unfreundlichen Ostblocks auseinander und wird durch eine helle, lebendige und unterhaltungslustige Facette des frühsommerlichen Ostens ersetzt.

Im Gegensatz zu Gernot Wolfram, dessen literarische Figuren dank der Reise quer durch Polen eine durchaus positive Wende erfahren, lässt der Autor Christof Hamann seine Figur während der Polenreise kläglich scheitern.

Dem Titelprotagonisten Fester wird von seinem Arbeitsgeber die Aufgabe zugeteilt, eine Broschüre für das traditionelle Krakauer Gebäck Obwarzanki fertig zu stellen. Bei der Beschreibung der Auftragsverteilung im Betrieb wird von dem Autor die durch die EU-Erweiterung in den öffentlichen Diskursen herrschende euphorische These von „Rückkehr nach Europa“ und

„Osteuropabegeisterung“ schonungslos entblößt: Der Chef der Bäckerei versichert zwar seine Unterstützung des Brückenschlagens zwischen den Kulturen, aber zugleich offenbart er seinen Angestellten, dass ihn selbst keine zehn Pferde nach Polen brächten. Es wird von ihm das Klischee der Polen als Autodiebe benutzt und seine große Wirkungskraft versichert, gegen die anzukämpfen zwecklos sei. In dieser Szene wird geschildert, dass sich im Betrieb keine Freiwilligen finden, die mit ähnlichen Aufträgen in die Ukraine, nach Bulgarien oder Russland fahren würden. Hamann lässt seinen Protagonisten als ein „riesiges Glück“ (F, S. 27) bezeichnen, gerade Polen ausgelost zu haben.

Zusätzlich wird vom Autor der manipulatorische Umgang mit der Wahrheit enthüllt: dem Chef sei es egal, ob die Auftragnehmer tatsächlich in die von ihnen ausgelosten Länder hinfahren, oder ob sie sich etwas Interessantes und Aussagekräftiges über die Nationalgebäcksorten einfallen lassen, solange es für den kommerziellen Erfolg der Bäckerei sorgt. Dadurch veranschaulicht der Autor, wie der Begriff der neuen räumlichen und kulturellen Nähe im vereinigten Europa zur einzig verbalen Beteuerung degradiert wird, der keine richtige Aufgeschlossenheit folgt und die zynisch für kommerzielle Zwecke ausgenutzt wird.

Die Arbeit an der Erstellung der Broschüre entpuppt sich als schwieriger, als von Fester erwartet.

Zum einen liegt es daran, dass das Gebäck als äußerst trocken und beinahe ungenießbar beschrieben wird. Zum anderen entspricht auch das Aussehen der Verkaufstände nicht seinen Vorstellungen, die er in Form von bezaubernden Fotos materialisieren möchte. Zum überspitzten Symbol seines Misserfolgs wird die Szene stilisiert, als er sich bei dem Ausflug an einen den schönsten Ort Polens, Morskie Oko, in die Tüte mit dem Gebäck erbrechen muss. Durch eine Steinlawine, die ihn beim

Bergsteigen lebensgefährlich verletzt, lässt der Autor den erfolgslosen Einsatz des Protagonisten in Polen beenden.

Doch das Scheitern in Polen ist in diesem Roman keine Ausnahme. Während all der drei Reisen, die von Hamann zur Struktur seines Buches gemacht werden, erleidet der Protagonist einen beruflichen Misserfolg, kombiniert mit einer gefährlichen Krankheit oder Körperverletzung. Somit verwandelt sich der Reiseroman zu einer Satire auf erfolgreiche Geschäftsleute, die in allen Teilen der Welt ihre beruflichen Ziele erfolgreich realisieren. Hamanns Roman vermittelt die Warnung, dass die selbst eingeleitete oder durch die Berufswahl bedingte Wurzel- und Heimatlosigkeit auf Dauer aufs Scheitern angewiesen ist.

Raum mit einkalkulierbarer Schwermut? – über polnische Städte und

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 127-130)

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