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Am Anfang steht immer die Angst - Südosteuropa als touristisches Reiseziel

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 40-46)

Während die Texte, die eine Reise nach Serbien und Bosnien-Herzegowina thematisieren, als Reaktion auf die jugoslawischen Kriege entstanden sind, stellen die Bücher, die Bulgarien, Albanien und Montenegro gewidmet sind, ihre Schauplätze aus der touristischen Perspektive dar. Beide im Folgenden zu analysierende Texte haben eine realistische Darstellungsweise und beschreiben die Erfahrungen, die die Autoren während des Aufenthalts in den Ländern gesammelt haben.

Der Autor Thomas Magosch konzentriert sich in seiner Lesereise Das gebrauchte Zepter am goldenen Sandstrand in erster Linie auf diese Elemente der bulgarischen Alltagswirklichkeit, die für einen

westeuropäischen Besucher auf den ersten Blick als befremdlich, stereotypenbehaftet oder „anders“

erscheinen. Dass Bulgarien bereits in der Vergangenheit mit vielen negativen Vorurteilen behaftet war, wird mit einer historischen Quelle belegt, der zugleich der Titel seines Buches entnommen wird.

Es ist ein Auszug aus dem Text, den eine Berliner Zeitung Ferdinand I. von Sachsen-Coburg-Gotha geschickt hatte, als er 1908 nach Bulgarien aufbrach, um dort als Fürst und später als Zar zu regieren:

„>>(...) Deponieren Sie alle Wertsachen bei der Coburger Bank. Packen Sie höchstens drei Anzüge, Unterwäsche und Ihr Rasierzeug, mehrere geladene Gewehre, ein Kochbuch, mehrere Pfund Insektizide und ein gebrauchtes Zepter ein. Wenn Sie ankommen, lassen Sie sich einen Vorschuss für das erste Quartal bezahlen.<<“ (GZ, S. 113) Magosch reflektiert, dass ein Großteil dieser negativen Denkmuster auch heutzutage die Wahrnehmung des Landes prägt, und entwickelt unterschiedliche literarische Verfahren, den historisch verwurzelten Vorurteilen entgegen zu arbeiten. Zum einen knüpft er bewusst an tradierte Denkmuster an und überspitzt sie, um sie im weiteren Schritt durch eine ironische Brechung zu dekonstruieren. Ersichtlich wird die Taktik im ersten Kapitel, das den Taxi-Fahrten in Bulgarien gewidmet ist. Der Autor bringt die Befürchtungen der ausländischen Gäste wie folgt zum Ausdruck: „Am Anfang steht immer die Angst beschissen zu werden. Übers Ohr gehauen, abgezockt, ausgenommen und womöglich noch eines Organs beraubt.“ Augenzwinkernd „beruhigt“

Magosch die potenziellen Besucher: „So war das zumindest früher. Die Zeiten, als Taxifahren in den Brachialmedien als Spießrutenlauf bis hin zur potenziellen Organspendefahrt galt, sind zumindest in Bulgarien, oder sagen wir in Sofia, größtenteils vorbei.“ (GZ, S. 9) Seine zweite Methode, sich mit den negativen Denkmustern auseinanderzusetzen besteht darin, die Bedeutung des Kritikpunktes zu unterminieren. Dieses Verfahren kann an der Stelle verfolgt werden, an der Magosch auf die Missachtung der Verkehrsregeln von bulgarischen Autofahrern hinweist. Dabei wird sein Ton als eines bereits „Eingeweihten“ keinesfalls überheblich. Dass er sich selbst zu der Gruppe der ausländischen, an anderes Verhalten gewöhnten Besucher zählt, manifestiert sich in der ersten Person Plural: „So fühlen wir uns und so lassen wir uns fahren durch die Bilder unserer Vorurteile.“

Die anfängliche Entrüstung darüber, dass auf Bulgariens Straßen das Recht des Stärkeren herrscht, wird durch die Tatsache konterkariert, dass laut den statistischen Angaben, der bulgarische Fahrstil nicht weniger sicher als in seiner Heimat sei: „Zwar geht es im Vergleich zum stur-spießigen Regelverkehr auf deutschen Straßen durchaus chaotisch zu, doch fügt sich das Chaos gar wunderlich in- und zueinander. Die Unfallstatistiken in Ballungsräumen weisen im Vergleich zu westlichen Großstädten keine signifikanten Amplituden auf.“ (GZ, S. 15) Eine andere Art und Weise, sich mit den tradierten Denkmustern auseinanderzusetzen, ist das Mittel des Perspektivenwechsels. Indem er manche Erscheinungen oder Begriffe aus der Sicht der Einheimischen erklärt, werden die Leser zur Reflexion und gegebenenfalls zur Korrektur ihres Wahrnehmungsmusters gezwungen. Als Beispiel sei hier die Passage genannt, wo er unterschiedliche Bedeutungsebenen des Balkan-Begriffs erläutert:

„Stara Planina, >>Altes Gebirge<<, wie man den Balkan in Bulgarien nennt, verleiht der ganzen südosteuropäischen Region ihren Namen und ist als Pars pro Toto zumeist negativ konnotiert. In den angrenzenden Länder, in Europa und der Welt. Außerhalb Bulgariens. In Bulgarien selbst verbindet man mit >>Balkan<< fast ausschließlich Positives, sieht man von den globalen Vorurteilen gegenüber exklusiven Bergbewohnern einmal ab. Der höchste Orden, den der Staat zu vergeben hat, trägt die Bezeichnung des Gebirges, auf den Höhenzügen fanden wichtige Schlachten in Befreiungskämpfen gegen die Osmanen statt, die Winkel und Schluchten dienten den Revolutionären als Versteck.“ (GZ, S. 19) Somit trägt Magoschs Text stellenweise einen aufklärenden Charakter und bemüht sich gezielt, durch die Wissensvermittlung alte Denkmuster zu überwinden.

Der Autor beschreibt unterschiedlichste Facetten der bulgarischen Alltagswirklichkeit: die Auffälligkeiten des Personentransports, traditionelle Feste und Bräuche, die Rolle der Wahrsager, den Stand der nachbarschaftlichen Beziehungen oder den Umgang mit Kindern. In dieser Collage werden die negativen Elemente (wie beispielsweise organisiertes Verbrechen) nicht verschwiegen, sondern als gleichrangige Elemente neben vielen anderen, kuriosen und erfreulichen, aneinandergefügt. Dadurch trägt er zur Erweiterung der Inhalte der kognitiven Karten seiner Leserschaft bei, infolge dessen möglicherweise das eine oder andere Denkmuster seine vorherrschende Rolle verliert und Bulgarien als interessantes touristisches Reiseziel entdeckt wird.

Anders ist das literarische Verfahren bei Arthur Fürnhammer, der in seinem Bericht die einzelnen Stationen der Reise quer durch Albanien und Montenegro festhält. In diesem Text wird deutlich manifestiert, dass diese Region aus der westeuropäischen Sicht als fremd, unbekannt und exotisch gilt. Bereits bei der Schilderung der Reisevorbereitungen wird an das Denkmuster der Gefährlichkeit angeknüpft. In der Erwähnung der zahlreichen Abschiedstreffen spiegelt sich die Vorstellung wider, laut der die Reise nach Albanien einem tödlichen Unterfangen gleicht: „jeder wollte mich noch einmal sehen, als ginge ich nicht auf eine gut zweiwöchige Reise, sondern in den Krieg.“ (UA, S. 8) Auch wenn der Erzähler mit diesem Satz die voreingenommene Sichtweise ironisch belächelt, wird sich in weiteren Teilen des Textes zeigen, dass er diese nicht nur teilt, sondern auch potenziert.

Trotz der häufig reflektierten Erkenntnis, dass die Wahrnehmung seines Reiseziels von „altbekannten Stereotypen wie Kriminalität, Armut, Mafia“ geprägt sei, kann er sich von den paranoiden Ängsten um die eigene Sicherheit nicht befreien. Sie finden Ausdruck in imaginären Headlines, die in seinem Kopf erscheinen, wenn er sich in einer gefährlichen Situation zu befinden glaubt: >>Alleinreisender Tourist fällt zwielichtigem Furgonfahrer zum Opfer – spurlos verschwunden.<< (UA, S. 85),

>>Leichtsinniger Tourist in Vorort bestohlen: Geld und Kamera weg.<< (UA, S. 65) Wie sich im Verlauf der Handlung zeigt, stellen all die als „riskant“ wahrgenommenen Situationen keine realen, sondern nur eingebildete Gefahren dar. Insofern trägt der Autor unfreiwillig zur Dekonstruktion des negativen Denkmusters bei. Die imaginäre Einblendung der Schlagzeilen spiegelt die Empfänglichkeit der modernen Gesellschaft auf kurze, reduzierende und generalisierende Botschaften wider, die auf ihren Wahrheitsgehalt nicht kritisch überprüft werden. Trotz ihrer kurzen Geltungsdauer sind sie imstande, die menschliche Wahrnehmung langfristig zu beeinflussen. Bei der Lektüre des Textes wird das Augenmerk des Lesepublikums nicht nur auf die gesellschaftlichen und landschaftlichen Aspekte der Länder Albanien und Montenegro gelenkt. Unbeabsichtigt wird der Leser zum Zeugen, wie schwer es dem Erzähler fällt, trotz der deklarierten Bemühung um eine unvoreingenommene Sicht, die fest verwurzelten Vorteile abzulegen und sich trotz vieler positiver Erfahrungen von seinen Neurosen zu befreien. Auch wenn er reflektiert: „Ich habe es immer noch nicht kapiert: Das hier ist weder Bogotà noch Johannesburg. Ich bin in Tirana, Albanien, und hier scheinen sie ein ganz normales Leben zu führen, ohne Hass und ohne Neid, keiner hat was gegen mich und keiner ist mir böse.“ (UA, S. 65), so wird bis zum letzten Kapitel leitmotivisch die Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass er nicht ausgeraubt, überfallen oder verletzt wurde. Stets erwartet er das Schlimmste und wird positiv überrascht, wenn es nicht eintrifft: wenn er beispielsweise seinen Rucksack in der touristischen Information aufbewahren lässt, stellt er nach der Rückkehr mit Erleichterung fest, dass sein „Gepäck in der Zwischenzeit nicht am Schwarzmarkt verhökert wurde.“

(UA, S. 42) Da er weißt, wie sich in Albanien die Lohnverhältnisse gestalten, kann er schwer

nachvollziehen, dass ihm seine im Bus vergessene Kamera hinterher gebracht wird – es hätte seinen Erwartungen eher entsprochen, wenn die Passagiere „die Kamera verkauft hätten, um damit ihre Miete zu bezahlen.“ (UA, S. 51) Mit der Schilderung dieser Ereignisse trägt er dazu bei, dass die negativen Wahrnehmungsmuster der Kriminalität außer Kraft gesetzt werden.

In den Beschreibungen der Hotelzimmer, Transportmittel und Gaststätten entpuppt sich der Erzähler als ein im Wohlstand sozialisierter, überlegener Besucher, der seine Urteile nach solchen Maßstäben wie Fortschritt, Komfort und Aussehen fällt. Als Beispiel sei hier seine Schilderung der Zugreisen angeführt. Er beschreibt den „katastrophalen Zustand“ der Waggons und signalisiert Angst vor „den mit Betäubungssprays bewaffneten Banden.“ (UA, S. 11) Zur Zugreise entschließt er sich erst dann, wenn er andere, „westlich“ angezogene Fahrgäste erblickt, was er als ein Zeichen dafür deutet, „dass Zugfahren in Albanien nicht nur für die Ärmsten und nicht zwingend ein Selbstmordkommando sein muss.“ (UA, S. 127) In diesem Satz manifestiert sich die tief verwurzelte Dichotomie, die das

„Westliche“ mit dem Sicheren und Vertrauten gleichsetzt und das „Östliche“ mit Rückständigkeit, Fremdheit und Gefährlichkeit assoziiert. Fürnhammers kritische Kommentare gelten nicht nur den Transportmitteln selbst, sondern auch der Organisation des Reiseverkehrs. Auch wenn er sich erklären lässt, dass Zeit in Albanien „no relevance“ habe (UA, S. 38), so wird immer wieder seine Empörung zum Ausdruck gebracht, wenn keine Durchsagen zu verzögerten Abfahrtzeiten kommen.

Als es zu einem Missverständnis bei der Passkontrolle kommt, erreicht seine Aufregung den Höhepunkt: „Ich kann verstehen, dass es in Albanien noch an Übung im Umgang mit Touristen fehlt.

Doch in Momenten wie diesen, in denen ich müde, erschöpft und der Armut überdrüssig bin und mir insgeheim wünsche, dass alles so einfach und unkompliziert verläuft wie in Österreich, da werde ich zum Zyniker. Dann ist Albanien für mich nur noch die Persiflage einer funktionierenden Nation, das zum Staatsgebilde erkorene Gruselkabinett des Dr. Caligari, ein Land voll mit Statisten und Schießbudenfiguren, so wie der Schuhverkäufer vorhin oder dieser Polizist hier vor mir.“ (UA, S. 134) Dabei steht diese Einstellung im grellen Widerspruch zu der Empörung, die er im Kontext eines in der Sunday Times erschienenen albanien-kritischen Artikels vorgibt. Fürnhammer stempelt den Text als eine „Hetzschrift“ ab und fragt rhetorisch, „was sich der Autor erwartet von einem Land, in dem über Jahrhunderte hinweg jegliche Modernisierung unterdrückt wurde, und das erst seit wenigen Jahren die Gelegenheit hat, seinen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand dem des restlichen Europas anzugleichen.“ (UA, S. 66)

Trotz seiner von Vorurteilen geprägten Sicht kann der Erzähler auch diese Elemente der albanischen Alltagswirklichkeit erblicken, die das Land als „europäisch“ klassifizieren lassen: „Nicht ohne Verwunderung stelle ich fest, dass sich das morgendliche Treiben in Tirana kaum von jenem in Wien unterscheidet. Man geht auch hier zur Arbeit, zieht Rollläden hoch, bespricht Geschäftliches in Kaffeehäusern und geht dabei locker und freundlich miteinander um. Ich weiß nicht, was ich in Tirana erwartet hatte, dieses Bild einer scheinbaren Normalität jedenfalls nicht.“ (UA, S. 58) Dadurch kann ansatzweise der Eindruck vermittelt werden, dass trotz dem vom Autor konstatierten zivilisatorischen Nachholbedarf, das Land als ein fester Bestandteil Europas gelten kann. Nicht zuletzt werden die negativen Aspekte des Reisens in Albanien und Montenegro durch die Schilderung der einzigartigen Schönheit der Landschaften und der Gastfreundschaft der Bevölkerung konterkariert. In dieser Region könne man laut dem Erzähler ungeahnte Glücksgefühle erleben. (UA, S. 102)

Trotz aller Unterschiede der beiden Reiseberichte, wird von ihren Verfassern die These aufgestellt, dass der Balkan auf der touristischen kognitiven Karte der EuropäerInnen bereits entdeckt wurde.

Thomas Magosch weist darauf hin, dass in Bulgarien sowohl der alternative Kloster-Tourismus als auch der „Ballermann Balkan“ boome. Zum neuen touristischen Magneten wird die gewisse Ursprünglichkeit, Echtheit und Authentizität stilisiert, die im restlichen, hoch entwickelten Europa nicht mehr anzutreffen sei. Dies knüpft an den arkadischen Mythos des Balkans an, der bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts in den literarischen Werken von Josef Friedrich Perkonig und Friedrich Georg Jünger entwickelt wurde. Sowohl Magosch, als auch Fürnhammer bringen ihr Bedauern zum Ausdruck, dass im Prozess der raschen Entwicklung der Tourismusbranche diese einmaligen Eigenschaften des Balkans zum Opfer fallen werden. Fürnhammer prophezeit: „In zehn, fünfzehn Jahren, sobald sich Albanien politisch und wirtschaftlich stabilisiert hat, werden ausländische Tourismusbetriebe Geld nach Albanien pumpen und dann wird es mit der Unberührtheit dieser Küste vorbei sein.“ (UA, S. 102)

... und jeder, der Grips hat, ist längst auf und davon – über die politisch-wirtschaftliche Situation im südosteuropäischen Raum

In den analysierten Reiseberichten wird der politischen Situation in einzelnen balkanischen Staaten wenig Platz gewidmet. In diesem Kontext ist der Text von Juli Zeh eine Ausnahme. Durch die Widergabe des Gesprächs mit einer OHR-Mitarbeiterin liefert sie den Lesenden Informationen zur Entstehung, Organisation und Struktur des Staates Bosnien-Herzegowina. Dabei wird auf die Paradoxien des durch die internationalen Strukturen geschaffenen „Kunstgebildes“ hingewiesen, was die politische Instabilität Bosniens plausibel erklärt und das Denkmuster der Unüberschaubarkeit der auf dem Balkan herrschenden Verhältnisse außer Kraft setzt. Besonders kritisch wird von der Autorin ins Visier genommen, dass solche Kategorien wie „Logik“ in deutschen Balkandiskursen nie zu erkennen seien. (SiG, S. 80)

Viel ausführlicher berichten die SchriftstellerInnen von der wirtschaftlichen Lage. Es ist ebenfalls Juli Zeh, die die sozioökonomischen Bedingungen in Bosnien-Herzegowina unter die Lupe nimmt. Der Autorin fällt eine unterschiedliche Mentalität der Bosnier im Hinblick auf die Bedeutung der Arbeit auf. Während im westeuropäischen Kulturkreis die Priorität der Wirtschaftlichkeit herrscht und die berufliche Tätigkeit des Menschen zum sinnstiftenden Faktor erhoben wird, beobachtet sie in Bosnien eine andere Lebenseinstellung: „Überall Feigen, es müssen zigtausend Tonnen sein. Was kostet ein Kilo in Deutschland? Warum verfaulen sie hier auf den Bäumen? Man könnte sie pflücken, einlegen, in der Sonne trocknen, an den Westen verkaufen. (...) Warum macht das niemand, wenn es keine Arbeit gibt? Unsicher überlege ich, ob das eine berechtigte Frage ist.“ (SiG, S. 163) Der letzte Satz weist zugleich auf das Risiko hin, über die wirtschaftliche Lage in Bosnien aus der eigenen, westeuropäischen Perspektive zu urteilen. Die Autorin versucht, sich in die Denkweise der bosnischen Bevölkerung hineinzuversetzen und den möglichen Vorteilen des alternativen Lebensstils auf die Spur zu kommen. Sie sieht ein, dass der Verzicht auf solche Werte wie Karriere, Aufstieg oder Reichtum ein Leben im vormodernen Einklang mit der Natur ermöglicht, aber ihr anerzogenes Arbeitsethos lässt die Zweifel an dieser Lebenseinstellung nicht aufgeben: „Ein Mann führt eine Kuh, das ist seine Arbeit, die Kuh grast, und er wartet und sieht zu. Wieder spüre ich dieses Unbehagen,

als müsste ich etwas dagegen unternehmen. Dabei handelt es sich nur um echtes Leben, das man daran erkennt, dass Fragen nach ihm ohne Antwort bleiben.“ (SiG, S. 63)

Allen Reiseberichten lässt sich der Eindruck entnehmen, dass die südosteuropäischen Länder wirtschaftlich unterentwickelt seien. Auch wenn statistische Angaben oder Zahlen selten angeführt werden, finden sich in mehreren Passagen Indizien für Armut und Arbeitslosigkeit. Die Schwäche der einzelnen Währungen wird an den Stellen enthüllt, in denen die Autoren die Möglichkeit erwähnen, die Rechnungen in Euro oder D-Mark zu begleichen. Nicht zuletzt wird in den Texten beschrieben, wie sich angesichts der schwierigen Wirtschaftslage die Bewohner gezwungen sehen, auf eine vormoderne Art den Lebensunterhalt zu bestreiten. Der sich in Südosteuropa entfaltende Geschäftssinn wird von den Autoren unterschiedlich bewertet. Fürnhammer begegnet ihm mit Irritation und teilweise mit Mitleid. Hans Thill bemerkt in den für seinen Erzählstil typischen Eckklammern, dass es „schon seltsam“ sei, womit die Bulgaren Handel treiben: „Die meisten Geschäfte scheinen Waren zu verkaufen, die man nicht unbedingt benötigt: Turnschuhe, Jeans, T-Shirts, & viele handeln mit Artikeln, die wirklich niemand braucht (...)“ (KP, S. 37) Peter Handke ist hingegen der einzige Autor, der den balkanischen Geschäftssinn in ein gutes Licht zu rücken versucht.

Kritisch reflektiert er die Vorurteile, mit denen der serbische Handel behaftet wird und stellt ihnen seine positive Wahrnehmung entgegen: „In nicht wenigen Berichten hat man sich, mehr oder weniger milde, lustig gemacht über die gar lächerlichen Dinge, mit denen das Serbenvolk, wenn es nicht der dortigen Mafia angehört, Geschäfte zu machen versucht, von den verbogensten Nägeln bis zu den dünnsten Plastiksäcken und, sagen wir, leeren Streichholzschachteln. Nur gab es da auch, so zeigte sich jetzt, viel Schönes, Erfreuliches und – warum nicht? – Liebliches zu kaufen.“ (WR, S. 70) Er bringt seine Bewunderung zum Ausdruck, wie die Geschäfte abgewickelt werden und schreibt den Serben eine ursprüngliche Freude am Handel zu. Auf dem serbischen Markt beobachtet er „eine Lebendigkeit, etwas Heiteres, Leichtes, wie Beschwingtes an dem anderswo gar zu häufig pompös und gravitätisch gewordenen, auch mißtrauischen, halb verächtlichen Vorhang von Kaufen und Verkaufen – ein allgemeiner anmutiger Fingertanz kreuz und quer über das Marktgelände, ein Tanz des Handumdrehens.“ (WR, S. 71) Die Andersartigkeit des geschäftlichen Alltagslebens der Serben ruft bei ihm keine Überlegenheitsgefühle eines Westeuropäers hervor. Im Gegenteil – in seiner utopischen Vorstellung wünscht er sich, „die Abgeschnittenheit des Landes – nein, nicht der Krieg – möge andauern; möge andauern die Unzugänglichkeit der westlichen oder sonst welchen Waren- und Monopolwelt.“ (WR, S. 72)

Den anderen Reiseberichten kann man entnehmen, dass diese verklärende Sicht auf die wirtschaftliche Lage in den balkanischen Staaten von ihren Bewohnern nicht geteilt wird. Arthur Fürnhammer zitiert viele kritische Stimmen der albanischen Gesellschaft, die fehlende Medikamente, niedrige Einkommen, Korruption im Gesundheitswesen oder wirtschaftliche Stagnation missbilligen.

Die Unzufriedenheit breiter gesellschaftlicher Schichten mit der wirtschaftlichen Situation auf dem Balkan manifestiert sich oft im Ausreisewunsch. Besonders oft wird dieser von den Bosniern geäußert. Juli Zeh beruft sich auf die Aussage ihres Bekannten, der insbesondere den serbischen Teil des Landes als geradezu untauglich zum normalen Leben bezeichnet: „Dieser Landesteil ist verwildert. Kein Schwein will dort leben, und jeder, der Grips hat, ist längst auf und davon.“ (SiG, S.

14) Auch Michael Zeller beschreibt Familien, die fest entschlossen zu einem Neuanfang im Ausland sind. (GB., S. 25, 50)

Allen Reiseberichten ist gemeinsam, dass das Denkmuster der Kriminalität außer Kraft gesetzt wird.

Es wird von den AutorInnen reflektiert, dass die Angst um eigene Sicherheit mehr ein Produkt der anerzogenen Vorurteile ist, als sich aus einer tatsächlichen Gefährlichkeit ergibt. Keine der reisenden Figuren wird angegriffen, ausgeraubt oder verletzt, obwohl die Furcht davor mehrmals zum Ausdruck gebracht wird. Juli Zeh, die als allein reisende Frau wohl in der schwierigsten Situation war, berichtet von keinem Fall der Kriminalität, der sich gegen sie richten würde. Auch in den ungemütlichen, kriegszerstörten Gassen im türkisch-geprägten Teil Mostars erweist sich ihre Angst letztendlich als eingebildet: „Alle paar Schritte wende ich mich um: Niemand schleicht mir nach, kein Arm mit erhobenem Krummsäbel reckt sich aus einem Hauseingang.“ (SiG, S. 139) Thomas Magosch zitiert eine Studie des UNDOC, in der mit statistischen Daten belegt wird, dass man im Hinblick auf das so

Es wird von den AutorInnen reflektiert, dass die Angst um eigene Sicherheit mehr ein Produkt der anerzogenen Vorurteile ist, als sich aus einer tatsächlichen Gefährlichkeit ergibt. Keine der reisenden Figuren wird angegriffen, ausgeraubt oder verletzt, obwohl die Furcht davor mehrmals zum Ausdruck gebracht wird. Juli Zeh, die als allein reisende Frau wohl in der schwierigsten Situation war, berichtet von keinem Fall der Kriminalität, der sich gegen sie richten würde. Auch in den ungemütlichen, kriegszerstörten Gassen im türkisch-geprägten Teil Mostars erweist sich ihre Angst letztendlich als eingebildet: „Alle paar Schritte wende ich mich um: Niemand schleicht mir nach, kein Arm mit erhobenem Krummsäbel reckt sich aus einem Hauseingang.“ (SiG, S. 139) Thomas Magosch zitiert eine Studie des UNDOC, in der mit statistischen Daten belegt wird, dass man im Hinblick auf das so

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 40-46)

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