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Wir hätten auch in (...) Kairo sein können – über die Austauschbarkeit der geographischen Orte bei Judith Hermann

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 134-138)

Es lässt sich feststellen, dass die tschechische Metropole Prag nach dem Zweiten Weltkrieg in der deutschsprachigen Literaturszene in Vergessenheit geraten ist. Als einer der wenigen Autoren, der die Tschechoslowakei nach 1945 zum Reiseziel wählt, gilt Horst Krüger. Im Jahr 1980 erscheint der Reisebericht Böhmische Melancholien. Aufzeichnungen aus Prag395, in dem er neben der tschechischen Hauptstadt auch Theresienstadt und Karlsbad beschreibt.

Mit diesem Text arbeitet der Autor der pauschalen Betrachtung des Landes als einen Teil des kommunistischen Ostblocks entgegen. Er ruft zwar die ersten Jahre der „kollektiven Hysterie“ in

395 Krüger [1980].

Erinnerung, aber gleichzeitig betrachtet er das Wahrzeichen der Stadt, die Burg Hradschin, als Symbol der historisch verankerten demokratischen Tradition dieser Region Europas. Als Beleg für die Zugehörigkeit der Tschechoslowakei zum westeuropäischen Kulturerbe führt er die typischen architektonischen Stilrichtungen an, die in allen Städten der ehemaligen Habsburger-Monarchie zu finden seien. Trotz der hier zu beobachtenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der sozialistischen Herrschaft, plädiert er dafür, in den kognitiven Karten das Land als Europas „Mitte, auch beinah Westen“ zu platzieren.

Weder politische, noch gesellschaftliche oder wirtschaftliche Aspekte der tschechischen Geschichte und Gegenwart finden dagegen Einzug in die deutschsprachige Literatur nach der Wende. Nach dem Kenntnisstand der Verfasserin ist Judith Hermann die einzige Autorin, die das Land zur Kulisse ihrer fiktionalen Texte macht. Inspirierende Schauplätze, vor denen ihre Protagonisten – Künstler, Freiberufler, Außenseiter – die zeittypischen Dilemmas der Generation der Dreißigjährigen austragen, findet die Autorin nicht nur in vergangenen kulturgeschichtlichen Räumen, sondern vorwiegend an geographischen Orten, die in den kognitiven Karten meistens als „Peripherien“

wahrgenommen werden – wie Island, der Oderbruch oder Tschechien. Und wie es für ihren literarischen Stil typisch ist, kombiniert sie sorgfältig ausgesuchte Requisiten der jeweiligen Alltagswirklichkeit zu einer ungewöhnlichen, düsteren und melancholischen Atmosphäre, die genauso uneindeutig und wechselhaft wie die Stimmungen der Figuren ist.

Der Reise nach Tschechien werden zwei Texte aus dem Band Nichts als Gespenster gewidmet. In der Erzählung Zuhälter396 lässt die Autorin ihre junge Protagonistin eine einsame Autofahrt nach Karlovy Vary unternehmen. Von ihrem Reiseziel weiß die Figur nur soviel, dass es „eine Stadt in einem Tal in Tschechien mit einer Fontäne aus warmen, salzigem Wasser“ sei und einmal einen deutschen Namen getragen habe. Aber es ist auch nicht politisches oder kulturgeschichtliche Interesse, das sie zu der Reise bewegt. Die Autorin macht die Figur des Freundes Johannes zum wichtigsten Reisestimulus und lässt die Protagonistin die Fahrt primär in der Hoffnung antreten, dass ihre gegenseitige komplizierte Beziehung endlich geklärt wird und sie eine Antwort darauf findet, was sie einander bedeuten.

Bei der Schilderung der deutsch-tschechischen Grenze greift Judith Hermann auf viele bereits tradierte Denkmuster zurück, um eine trostlose, filmreife Kulisse für ihre Figur zu schaffen. Es sind immer wieder „lange Wege“, die in den Osten führen: „Ich brauchte sieben Stunden, auf der Karte hatte es nicht so weit ausgesehen.“ (Z, S. 155) Sie lässt die Protagonistin öde Landschaften und eiskalten Wind wahrnehmen und sich dadurch wie einen Eindringling fühlen. Der bedrohliche Charakter der Grenzgegend wird dadurch betont, dass es zunehmend menschenleer wird.

Leuchtende Reklamen und untergehende Sonne tauchen die Landschaften in ein rötliches Licht, was in Verbindung mit den am Straßenrand wartenden Prostituierten der Landschaft eine surreale Aura des Untergangs und der Auflösung verleiht. Es ist die unalltägliche Exotik des Ortes, die dazu führt, dass die Figur auf einmal die Freude an der Fahrt und ein bisher ungeahntes Fernweh empfindet.

Die von Judith Hermann vermittelte Wahrnehmung der tschechischen Stadt beinhaltet mehrere unterschiedliche Facetten, die eine Vielfalt der inkohärenten Stimmungen erzeugen. Es wird die Gründungssage nacherzählt, die Karlovy Vary aus der Perspektive der märchenhaften Eigenschaften des hiesigen Quellenwassers wahrnehmen lässt. Angenehme Wärme und südosteuropäische Pflanzen muten italienisch an; in den geschilderten Jugendstilhäusern und einem Wandmosaik á la Klimt spiegeln sich österreichische Einflüsse wider. Die Vielfalt der kulturellen Einflüsse wird um den

396 Hermann [2004]. Weiter im Text mit Sigel Z und Seitenangaben

fernöstlichen Stil erweitert, indem die Autorin die Figur Johannes in der Wohnung einer verstorbenen Chinesin unterbringt.

Zum wichtigsten Charakteristikum der Stadt lässt die Autorin eine nostalgische und altmodische Aura werden. Die Spaziergänge der Figuren zu den einst berühmten Kuranlagen entwickelten sich zu einem tagtäglichen Ritual, das in Verbindung mit den Beschreibungen der anachronistischen Zinkbadewannen und veralteten Inhalationsgeräten eine Zauberberg-Stimmung erzeugen. Durch die vielen deutschen Rentnergruppen, die hier eine Kur machen, lässt die Autorin ihre Figuren den unaufhaltsamen Zeitverlauf verinnerlichen. Gleichzeitig, weitab von der Hektik des Alltagslebens, glauben sie in einen seltsamen Zustand der Zeit- und Raumvergessenheit versetzt zu sein, wobei er sich als genauso trügerisch wie unbeständig erweist: „Die Welt war zusammengeschrumpft auf dieses Karlovy Vary, nichts mehr außer warmem Salzwasser und ein südliches Licht und der vage Gedanke, daß mir im Grunde alles egal sein könnte, vollständig egal, und vielleicht war es auch für einen Augenblick.“ (Z, S. 165)

In dieser Erzählung zeichnet die Autorin die Lebenseinstellung einer bestimmten Generation nach, die in der Selbstverständlichkeit des schnellen und unproblematischen Reisens und Wohnortwechsels aufgewachsen ist. Die kulturanthropologische Sehnsucht nach der Ferne wird von der Erkenntnis ersetzt, dass es keine Rolle mehr spielt, wo man sich gerade aufhalte: „Etwas zog mir das Herz zusammen und verebbte dann wieder, ein kurzes Bewußtsein für die Beliebigkeit der Orte, des Lichts und der Zustände, unser schönes Leben, in dem wir uns aufhalten durften an Orten wie diesem oder anderem, eine Brücke über der Seine, ein Ausflugsdampfer vor der Küste von Sizilien, ein Hotelzimmer in Amsterdam mit Blick auf das Rotlichtviertel, Karlovy Vary (...).“ (Z, S. 168) Diese These wird in der Schlussszene noch einmal bestätigt. Dass die hier beschriebene Party genauso gut an jedem anderen Ort stattfinden könnte, symbolisiert die Tatsache, dass die auf das charakteristische Stadtpanorama zeigenden Fenster des Lokals verhüllt werden. Mit der hingenommenen Wurzellosigkeit geht ein verstärktes Bedürfnis nach engen zwischenmenschlichen Beziehungen einher, was sich in dem Wunsch der Erzählerin artikuliert, sich jemand Vertrautem mitteilen zu können. Die Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe erweist sich allerdings als unbeständig und nicht stark genug, um die Sphäre des Wunschdenkens zu verlassen und das Handeln zu initiieren. Nach dem Misserfolg der Liebesbeziehung lässt die Autorin ihre Protagonistin den Aufenthalt in Karlovy Vary nur als eine zufällige Episode betrachten, die neben unzähligen anderen das menschliche Leben bestimmen. Eine symbolische Bedeutung kommt dem Nebel zu, der auf der Rückfahrt die Landschaften umhüllt. Er fungiert als ein Theatervorhang, der nach dem Ende eines Akts zugezogen wird und erst nach einem Kulissenwechsel wieder aufgeht. Durch die letzten Gedanken der Erzählerin vermittelt die Autorin die Ansicht, dass es in dem postmodernen Lebensgefühl für das Kontinuierliche, Standhafte und Vertraute keinen Platz mehr gibt und die Selbstverwirklichung in der Jagd nach Neuem und Unbekanntem realisiert wird: „Ich dachte: Und wenn der Nebel sich lichtet, dann wird da etwas anders sein, etwas Fremdes und Neues, und dieser Gedanke machte mich, bei aller Angst, glücklich.“ (Z, S. 193.)

Bereits das Strukturprinzip einer anderen Erzählung der Autorin spiegelt die Auffassung der postmodernen Gesellschaft wider, die menschliche Existenz als eine Anreihung von zufälligen und letztendlich auch unbedeutenden Episoden zu betrachten. In Wohin des Weges397 werden parallel mehrere vorübergehende Liebesbeziehungen dargestellt, deren letztendlicher Sinn darin bestehe,

397 Hermann [2004]. Weiter im Text mit Sigel WW und Seitenangaben.

irgendwann erzählt zu werden. Eine der Geschichten führt die Ich-Erzählerin auf eine Zeitreise nach Prag, wo mehrere Bekannte eine Silvesternacht feiern. Durch die Widergabe eines Telefongesprächs wird von der Autorin das Denkmuster der weiten Entfernung nach Osten bestätigt – die Stimme des Tschechen Miroslav klinge nach der Aussage einer der Figuren, als „telefoniere er vom Mond aus mit ihr – oder aus der Mongolei.“ (WW, S. 233) Ähnlich wie in der Erzählung Zuhälter stattet Judith Hermann den ostmitteleuropäischen Raum mit zwei Eigenschaften aus, die sich auf die Kategorie der Zeit beziehen. Die zeitliche Festlegung des Plots auf die Silvesternacht bietet den Anlass, sich die Figuren mit dem unaufhaltsamen Zeitverlauf beschäftigen zu lassen, was sie in eine nostalgische und niedergedrückte Stimmung versetzt: „30. Dezember, 20 Uhr 10. Zeit genug noch, nachzudenken, darüber, was das für ein Jahr gewesen war und wie das nächste werden würde, Zeit genug überhaupt, ich hätte gerne meinen plötzlich sehr schweren Kopf auf das fleckige Tischtuch gelegt.“

(WW, S. 241) Zum anderen aber lässt die Autorin ihre Figuren in Prag den Zustand einer ungewöhnlichen Zeitlosigkeit erleben. Indem die Protagonistin in der Silvesternacht ohne Uhr auf einer Brücke steht, glaubt sie sich unverankert zwischen den Jahren zu befinden. Dadurch kristallisiert sich in den Texten von Judith Hermann eine neue Eigenschaft des Ostens heraus – als eines Raumes, an dem es möglich ist, einerseits Augenblicke des verstärkten Bewusstseins des unaufhaltsamen Zeitablaufs zu erleben, und andererseits in eine vorübergehende Zeit- und Raumvergessenheit zu geraten.

Bei der Schilderung Prags setzt sich die Autorin mit der Wahrnehmung der tschechischen Metropole als der „Goldenen Stadt“ auseinander. Sie konstruiert sie als dunkel, kalt und schmutzig. Der

„legendäre“ Panoramablick über den Fluss wird wie folgt beschrieben: „Am Horizont rauchten Fabrikschlote. Die Moldau war schwarz und glänzend, sehr weit unten, sehr weit entfernt.“ (WW, S.

249) Die Autorin lässt ihre Figuren einstimmig darauf verzichten, die historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen. In der Lebenshaltung, die die ständige Austauschbarkeit der Orte und Partner voraussetzt, kompensieren die Figuren das Fehlen der standhaften Bezugspunkte mit dem unbeständigen Bedürfnis, in einem eher vorgetäuschten als echten Freundeskreis von der eigenen Einsamkeit vorübergehend wegzukommen: „Ich wußte, daß wir nicht in die Stadt gehen würden. Wir würden nicht über die Karlsbrücke in die Josephstadt hineingehen, nicht über den Wenzelsplatz laufen, nicht den Hradschin besichtigen, wir würden nicht in Café Salvia sitzen und heiße Schokolade mit Schlagsahne trinken und auf die Moldau sehen, wir würden nicht an Kafkas Grab stehen und nicht mit der Seilbahn hinauf auf den Berg fahren, es wäre lächerlich gewesen, das zu tun. Es spielte keine Rolle, daß wir in Prag waren. Wir hätten auch in Moskau oder Zagreb oder Kairo sein können, und wo immer wir gewesen wären, hätte Peter sich jetzt sein erstes Bier aufgemacht, einen Schluck getrunken, geseufzt, es wieder abgestellt und sich dann eine neue Zigarette gedreht.“ (WW, S. 252)

Judith Hermanns Erzählungen leisten einen Beitrag zur Ablegung der Ost-West-Dichotomie insofern, als dass die Kategorie des Ostens gar nicht benutzt wird. Die Autorin konstruiert keine Eigenschaften des osteuropäischen Raumes, die als „typisch“ gelten könnten. Die Reise in den Osten bedeutet für ihre ProtagonistInnen nicht die touristische Erkundung eines fremden Raumes und seiner BewohnerInnen, sondern eine Entdeckungsreise zu sich selbst, wodurch die Ansicht vermittelt wird, dass im Zeitalter des unkomplizierten Ortswechsels die einzelnen Städte ihre Exotik verlieren und zu einer austauschbaren Kulisse degradiert werden. Sie lässt ihre Figuren kein genuines Interesse an ihren Reisezielen haben, sondern ihre Erwartungen vor allem auf die dort verabredeten Menschen richten. Es sind ihre wohl bekannten Rituale und Angewohnheiten, die sie sich in der Fremde

heimisch fühlen lassen. Weil sich das Zusammengehörigkeitsgefühl als flüchtig und oberflächlich erweist, legt sich ein nostalgischer Schatten über die Figuren, die sich resigniert damit abfinden müssen, dass sie aufgrund der Unfähigkeit, verbindliche Entscheidungen zu treffen, auf ein ewiges Nomadendasein angewiesen sind.

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 134-138)

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