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Nicht anders als anderswo? – Fazit

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 50-54)

Božidar Jezernik formulierte die These, dass der Westen noch nie darauf vorbereitet war, den Balkan so zu sehen, wie er wirklich ist und sich immer nur auf die Suche nach Charakteristika beschränkte, die das fest verankerte Bild bestätigten.156 Diese These bewahrt in Anwendung auf die deutschsprachige Literatur nach der Wende nur im beschränkten Umfang ihre Gültigkeit. Während Peter Handke, Juli Zeh und Michael Zeller durch explizite Aussagen die balkanischen Staaten auf der europäischen Landkarte platzieren, lässt sich in den Texten von Hans Thill und Arthur Fürnhammer

155 Parry [2003]: S. 337f.

156 Jezernik [2004]: S. 26.

ablesen, dass ihre Verfasser sich die Urteile immer noch nach solchen Kriterien wie Wohlstand, Fortschritt und Komfort bilden und aus diesem Grund die balkanischen Länder als nachholbedürftige europäische Peripherien verorten.

Peter Handke lässt keine Zweifel daran, dass der Balkan sowohl historisch als auch kulturell zum festen Bestandteil Europas gehört. Der Dichter findet in Serbien seine nostalgische Vorstellung von einer in Westeuropa schon vergangenen Welt, wo das „Echte“ und „Unverfälschte“ sich ohne Hindernisse entfalten kann und nicht durch die Zwänge und Verlogenheit des „modernen“ Lebens zerstört wird. Aus dieser biographisch motivierten Einstellung heraus wächst seine Entrüstung über die seiner Meinung nach ungerechte Kriegsberichtserstattung, die dem „serbischen Aggressor“ den Platz in der europäischen Völkerfamilie aberkennt. Die Forderung der „poetischen Gerechtigkeit“, die einer subjektiven Wahrnehmung entspringt, vermittelt die Überzeugung, dass Serbien ein fester Platz in Europa zukommen solle. Mittels der Landschaftsbeschreibung wird das Land mit dem europäischen Kulturerbe zusammengeführt: Serbiens Flusswelt sei „eine versunkene, versinkende, eine modrige, alte, aber sie stellte zugleich eine Weltlandschaft dar, wie sie auf den niederländischen Gemälden aus dem 17. Jahrhundert mir so nie vorgekommen ist: eine Urwelt, welche als eine noch unbekannte Zivilisation erschien, zudem eine recht appetitliche.“ (WR, S. 65)

In ihrem Reisebericht setzt sich Juli Zeh mit dem im westeuropäischen Balkandiskurs fest verankerten Denkmuster auseinander, laut dem die jugoslawischen Kriege aus ethnischem Hass geführt wurden.

Indem sie die komplizierte bosnische Situation auf die deutschen Verhältnisse zu projizieren versucht, wird der Leserschaft vor Augen geführt, dass wegen der Komplexität der Lage die balkanische Region dem westlichen Europa näher und ähnlicher ist, als man es wahrhaben wollte.

Während es für Handke die serbischen Landschaften sind, die das Land mit dem europäischen Kulturerbe zusammenführen, manifestiert sich Bosniens Zugehörigkeit zum alten Kontinent in der Ähnlichkeit der architektonischen Stilrichtungen. In ihrem Reisebericht konstruiert sie ein fiktionales Spiel in blinde Kuh, während dessen fünf Menschen auf fünf verschiedene Stadteile Sarajevos verteilt werden. Ihre Versuche, sich nach dem Abnehmen der Augenbinde zurechtzufinden, werden wie folgt dargestellt: „Der Erste, neben dem achteckigen Brunnen Sebilj, umgeben von Lederwaren, beschlagenem Silber und Süßigkeiten (...), er ruft aus: Istanbul! Wie schön! (...) Der Zweite, ein wenig enttäuscht womöglich: Ach Wien, (...) Dann stutzend, sich auf die fremde Sprache besinnend, (...):

Oder nein, es ist Budapest! (...) Die Augenbinde vor den Mund gepresst, keucht der Dritte: Wenn ich eins nicht leiden kann, ist es stalinistische Architektur, (...) deshalb hasse ich Warschau (...). Und der Vierte (...): Da sage einer, Deutschland besitze keine schönen Landschaften (...) – man braucht bloß in die Sächsische Schweiz zu fahren, die reinste Idylle! (...) Er, der Fünfte, als einziger, sagt leise: Ach herrje, ich bin in Sarajevo.“ (SiG, S. 222f.) Dass es durchaus lohnend sein kann, den in den früheren Diskursen als „gefährlich“ und „chaotisch“ abgestempelten Balkan zu bereisen, wird von der Autorin durch das literarische Mittel der Personifizierung zum Ausdruck gebracht: „Zagreb empfängt mich mit so weit ausgebreiteten Armen, dass mir schwindelt, während ich mich hineinfallen lasse. Die Stadt kann gucken, als hätte sie einen schon immer vermisst.“ (SiG, S. 13) Das Gefühl der daraus resultierenden Beheimatung findet den Höhepunkt in der Vorstellung, in einem der Zagreber Häuser zu wohnen: „Bei manchen Haustüren zuckt mir die Hand in die Hosentasche, ich will den Schlüssel herausholen und ins Türschloss zwängen, aufschließen und oben meine Wohnung vorfinden (...).“

(SiG, S. 15) Dass sich trotz der historisch und politisch bedingten Unterschiede alle europäischen Städte ähneln und daher eine vertraute Atmosphäre ausstrahlen, davon zeugt folgende Passage über

Mostar: „Der Abendgesang von den Minaretten tauscht mit einem Schlag die Stimmung in den Straßen aus, wie es in Leipzig beim Anspringen der orangefarbenen Laternen geschieht. Alle Bewegungen verlangsamen sich, die Geräusche sind gedämpft wie bei Schneefall.“ (SiG, S. 46f.) Die Überzeugung von der Zugehörigkeit des Balkans zum gemeinsam europäischen Haus, in dem alle BürgerInnen, unabhängig von der Staatszugehörigkeit, ähnliche Sorgen, Probleme, Wünsche und Bedürfnisse haben, findet ihren Ausdruck in einer Postkarte, die nach Deutschland adressiert wird:

„Bin in Mostar. Hier ist es auch nicht anders als anderswo.“ (SiG, S. 51f.)

Zugleich wird von der Autorin das Denkmuster bestätigt, laut dem der Balkan als eine „Schnittstelle“

zwischen Orient und Okzident fungiert. (SiG, S. 67) Sie weist auf das tief verwurzelte asymmetrische Verhältnis hin, das verhindert, dass aus dem „Schnittpunkt“ ein gegenseitiger kultureller Treff- und Begegnungspunkt wird. In ihrem Reisebericht wird mehrmals das Selbstverständnis der Bosnier zum Ausdruck gebracht, ein Teil Europas zu sein: viele der Einwohner kommunizieren in europäischen Fremdsprachen, kennen europäische Literaturklassiker oder Filme. Juli Zeh gibt dafür ehrlich zu, kein einziges bosnisches Buch gelesen zu haben. Es ist diese Erkenntnis, die die Autorin motiviert, sich nach der Rückkehr in Deutschland für die gegenseitige kulturelle Annäherung zwischen Deutschland und Bosnien-Herzegowina zu engagieren. Mit ihrem prominenten Namen firmiert sie die Anthologie der bosnischen Autoren Ein Hund läuft durch die Republik, die gemeinsam mit David Finck und Oskar Terš 2004 herausgegeben wurde.

Auch von Michael Zeller wird die Architektur, die er in Bosnien-Herzegowina vorfindet, zum Indikator der Zugehörigkeit des Landes zum gesamteuropäischen Kulturerbe. In dem Reisebericht spiegelt sich die kognitive Karte des Autors wider, auf der Sarajevo und Mostar neben Lemberg, Prag oder sich im ehemals habsburgischen Einflussbereich platziert werden. Mehrmals werden von ihm die bosnischen Städte als „europäisch“ bezeichnet. (GB, S. 16, 56) Zugleich übt der Autor Kritik an Westeuropa, das nicht bereit ist, trotz der kulturellen und historischen Verflechtungen den Balkan als seinen festen Bestandteil anzuerkennen: „Ach, Europa, weißt du, was du tust – und lässt? Immer größer werden meine Zweifel, ob es dich wirklich gibt. Du willst dich ja gar nicht, wirklich.“ (GB, S. 52)

Mit Thomas Magoschs Lesereise nach Bulgarien wird das Land, häufig als europäische Terra incognita bezeichnet, den deutschsprachigen Lesern näher gebracht. Dies geschieht, indem der Autor vielfältigste Bereiche der bulgarischen Alltagswirklichkeit erkundet und mehrere Vertreter der Bevölkerung – Mönche, Bürgermeister, Schriftsteller, Wahrsager und Musiker – zu Wort kommen lässt. Dadurch wird eine monochromatische Wahrnehmung des Landes durch eine Vielfalt der Facetten und Perspektiven ersetzt, was zur Erweiterung des Weltbildes der Leserschaft beiträgt und zum Abbau von vielen tradierten Denkmustern beiträgt. Es ist charakteristisch, dass der Autor die wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Defizite nicht verschweigt, aber sie als gleichrangige Bestandteile der bulgarischen Wirklichkeit darstellt und nicht als typische Zeichen der balkanischen Rückständigkeit abstempelt. Als Beispiel für die historisch verwurzelte Teilnahme des Landes am gesamteuropäischen Kulturerbe zeugt die Stelle, an der die Stadt Ruse als Geburtsort von Elias Canetti genannt wird.

Im Gegensatz zum Text von Thomas Magosch, lässt sich im Bulgarien-Buch von Hans Thill keine eindeutige Positionierung Bulgariens auf der europäischen Landkarte feststellen. Der Verfasser

platziert seine Beschreibungen der Städte und Landschaften in Klammern und somit verdrängt er sie aus der eigentlichen Handlung. Durch dieses literarische Verfahren entsteht der Eindruck, dass die topographischen und kulturellen Besonderheiten seines Reiseziels an sich keine primäre Bedeutung haben, was auf eine gewisse Selbstverständlichkeit einer Reise nach Bulgarien hinweist. Auf der anderen Seite enthüllen etliche Passagen die Neigung des Autors, Bulgarien aus der Perspektive der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung und somit seiner „Östlichkeit“ zu betrachten. Als Beweis sei hier folgender Satz zitiert: „es hängen zwar überall Schilder mit westlichen Zauberworten (Internet-Club & noch besser: beautiful bulgaria project), aber das Schimpfwort Postmoderne würde hier keine drei Meter tragen, so materiell spürbar ist die Simulation eines eleganten Wohlstands auf der Basis nackter Armut (...).“ (KP, S. 9) Auch im Bereich des technischen Fortschritts stellt der Erzähler Defizite fest, was folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: „hier sei noch alles hardware, während der Westen mit dem Verbergen des Materiellen glänze, also software-lastig sei.“

(KP, S. 29) Bei der Besichtigung einer Messe stellt er die neuesten Errungenschaften der bulgarischen Bauindustrie einem Bild der „x-mal geflickte[n] Miniaturbahn“ entgegen, was die These von der zum Schau gestellten Modernität bestätigen soll. Die bulgarische Gesellschaft wird von ihm als konservativ und keusch beschrieben. (KP, S. 9) Hier würden immer noch Tabus in Bezug auf Sexualität herrschen, was Bulgarien vom „restlichen“ Europa deutlich unterscheide. Diese Passage bestätigt die These von Johannes Birgfeld, laut der Hans Thill als Dichter „an der Aufgabe, sich als

>Literat< am Prozeß der Neufindung Europas zu beteiligen“157 gescheitert ist.

Auch der Reisebericht von Arthur Fürnhammer zeichnet sich durch eine obstinate Einsetzung solcher Kriterien wie Fortschritt und Bequemlichkeit in Bezug auf die in Albanien und Montenegro vorgefundenen Verhältnisse aus. In diesem Hinblick werden die Länder in Fürnhammers Augen definitiv nicht als gleichrangige Partner der EU-Staaten angesehen. Die Überheblichkeit des Erzählers der Landesbevölkerung gegenüber wird an der Szene enthüllt, in der er sich für die Gastfreundschaft der Albaner revanchiert, indem er der Tochter der Familie ein paar Altkleider schenkt, die ursprünglich für eine NGO-Spende bestimmt waren. In der Verwunderung darüber, dass die Beschenkte die Sachen nicht einmal anprobieren mag, manifestiert sich seine Überzeugung, dass alles, was mit dem Prädikat des Westens versehen ist, für die osteuropäischen BewohnerInnen zwingend als begehrenswert und nachahmungswürdig erscheinen muss. Dabei wird die Asymmetrie der gegenseitigen Beziehungen enthüllt, die Missverständnisse hervorruft: So wie in Wien niemand einem fremden Albaner ein Bett zur Verfügung stellen würde, so würde kein Albaner auf die Idee kommen, sich für Gastfreundschaft mit Altkleidern zu revanchieren. Durch diese unbeabsichtigte Bloßstellung des Autors wird auf der anderen Seite das Denkmuster der stolzen und stets gastfreundlichen Albaner bestätigt. Und auch wenn der Erzähler die historischen Verflechtungen Albaniens mit der westeuropäischen Geschichte erwähnt, lässt sich daraus keine gleichrangige Stellung des Landes mit den EU-Ländern ableiten. In der einfach konzipierten Parabel über ein Rabenkind wird zum Schluss die These geäußert, dass Albanien seinen Weg nach Europa künftig noch finden wird, was als ein erneuter Beweis für das tief verankerte Denkmuster des zivilisatorischen

„Nachholbedarfes“ interpretiert werden kann.

157 Vgl. Birgfeld [2003]: S. 91.

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 50-54)

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