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Die Betrüger aus der Regierung verjagt? - Osteuropa als Schauplatz der politisch-wirtschaftlichen Transformationsprozesse

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 89-92)

Keine/r der ausgewählten AutorenInnen zeichnet die geschichtlichen Ereignisse der politisch-wirtschaftlichen Transformation im osteuropäischen Raum nach. Auf der anderen Seite werden aktuelle politische Krisen der postsowjetischen Nachfolgestaaten thematisiert, die die jungen Demokratien erschüttern.

Wolfgang Büscher vermittelt in seinem Reisebericht die Wahrnehmung von Belarus als eines autoritär regierten Staates, in dem sich aufgrund der Missachtung der Menschen- und Bürgerrechte eine neue oppositionelle Bewegung formiert. Zu der Zeit der Präsidentschaftswahlen hält er sich in Minsk auf, wo er zum Augenzeugen wird, wie die EU-Länder durch die Entsendung von mehreren Reportern und Wahlbeobachtern Druck auf Lukaschenkos Regime auszuüben versuchen. Er schildert, wie sich in einer Atmosphäre voller Angst und Einschüchterung, nicht zuletzt durch die Bereitschaft der belarussischen Miliz erzeugt, in der Bevölkerung der Widerspruch aufkeimt: „Klamm vor Regen und Aufregung wärmte sich die Menge an ihrem eigenen Echo. >>Belarus – Freiheit! Belarus – Freiheit!<< Es half, es tat gut, körperlich gut, ein jeglicher ging hin und nahm sein kleines privates Zittern und seine kleine elende Angst und warf sie in den großen Chor, bis die Parole zündete und hochschlug und die verregneten Gesichter entflammte, sie staunten der Wucht ihrer tausendfach verstärkter Stimme nach, ungläubig, gläubig, erregt. Jubel brach durch, ein Lachen, wie man es von den Klassikern der Revolutionsfotografie kennt, auf denen es immer so frei aussieht, so eben gerade befreit.“ (BM, S. 128f.) In dieser Passage werden zwei Denkmuster angesprochen, die in den historischen und publizistischen Diskursen seit der Wende in Bezug auf die ost- und ostmitteleuropäischen Länder wiederholt auftauchen. Zum einen werden die Schwierigkeiten des Demokratisierungsprozesses in den neu gegründeten postsowjetischen Republiken bestätigt. Zum anderen wird aber das Widerstandspotential der osteuropäischen Gesellschaften vermittelt, die sich – trotz der Schikanen – für die Einführung der Demokratie und die Wahrung der Grundrechte einsetzen.

In den Plot des Romans Fremdgänger flicht Ronald Reng die Ereignisse der Orangenen Revolution ein. Der Autor setzt den Beginn der Erhebung auf den Hochzeitstag beider Protagonisten fest, womit die Möglichkeit symbolisiert wird, die unterschiedlichen Entwicklungen in Ost und West durch eine

feste Basis der gemeinsamen Werte und Zielvorstellungen zusammenzuführen. Dabei deutet der Autor darauf hin, dass trotz der scheinbaren Überwindung der bipolaren Teilung der Welt weder eine deutsch-ukrainische Ehe noch die Demokratisierungsbestrebungen in der Ukraine als eine Selbstverständlichkeit gelten. Die von Reng entworfenen westeuropäischen und ukrainischen Figuren schreiben den beiden Ereignissen unterschiedliche Beweggründe und Folgen zu, wodurch ihre Vorurteile und Dispositionen enthüllt werden. Es stellt sich heraus, dass der in Westeuropa sozialisierte Protagonist die politischen Ereignisse in der Ukraine aus einer egozentrischen und arroganten Sicht betrachtet. Zum einen belächelt er die von den Oppositionellen ausgesuchte Farbe

„deutscher Müllmänner“ und freut sich über die auf dem Unabhängigkeitsplatz versammelten Massen nur aus dem Grund, dass dafür vor dem Standesamt nur wenige Passanten anzutreffen sind.

Zum anderen macht sich seine Überheblichkeit an der Stelle deutlich, an der Larissa ihre Trauer artikuliert, nicht dabei gewesen zu sein und dem Heimatland bei dem Kampf für eine bessere Zukunft nicht geholfen zu haben. Bei ihren Selbstvorwürfen kann er nur „gerührt“ denken, wie jung und naiv seine Frau sei. (FG, S. 241)

Die ukrainischen Figuren lässt der Autor die Orangene Revolution als Erfolg werten. Bei einem Besuch in der Ukraine werden die Folgen des Aufbegehrens wie folgt beschrieben: „Ob sie es nicht an jeder Ecke spüren können, fragt Jelena, Kiew sei eine andere Stadt. Die Betrüger aus der Regierung verjagt. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte, sagt sie und macht eine Pause, um Dramatik entstehen zu lassen, lächle die Stadt.“ (FG, S. 284) Doch Rengs Roman vermittelt die ernüchternde Erkenntnis, dass das negative Denkmuster der Unveränderbarkeit der osteuropäischen Zustände aufgrund der politischen Entwicklung der jüngsten Vergangenheit bestätigt bleiben muss und der Optimismus der Ukrainer sich als verfrüht erweist. Tobias entdeckt bei einer wirtschaftlichen Recherche, dass ein als korrupt und verschwenderisch geltender Unternehmer zum neuen Chef der staatlichen Gasfirma gewählt wurde und in der ukrainischen Presse als Vertreter der „jungen, unbefleckten Führungskräfte“ gefeiert wird. (FG, S. 326) Dadurch vermittelt der Autor den Eindruck, dass der durch die Orangenen Revolution getragene Mythos der Freiheitskämpfer aufgrund der erstarrten und korrupten staatlichen Strukturen zum Scheitern verurteilt ist.

Obwohl die Ereignisse, die zum politisch-wirtschaftlichen Umbruch führten, von den deutschsprachigen AutorInnen nicht thematisiert werden, lassen sich in ihren Texten an mehreren Stellen die von der Systemtransformation hinterlassenen Spuren ausfindig machen. Der von ihnen konstruierte osteuropäische Raum zeichnet sich durch viele Zeichen tiefer struktureller Armut aus. Es wird vermittelt, dass die hohen Kosten der Transformation radikale Sparmaßnahmen vor allem im sozialen Bereich erzwingen. Bei Jens Sparschuh und Wolfgang Büscher tauchen alte Veteranen des

„Großen Vaterländischen Krieges“ oder die Invaliden des Afghanistan- oder Tschetschenienkrieges als Bettler auf. (SD, S. 278) Ronald Reng weist auf die schlechte Lage des landwirtschaftlichen Sektors hin, indem er die Eindrücke seiner Hauptfigur aus der Fahrt zu den ukrainischen Ölfeldern folgendermaßen schildert: „Auf einem Acker steht eine Gruppe Bauern, alte Leute allesamt, gebückt über dem verblassten Boden, Harken in den Händen. Das Einzige, was sie erreichen, denkt er, ist, die Vergeblichkeit ihres Tuns zu dokumentieren.“ (FG, S. 75) In seinem Roman finden sich mehrere Hinweise auf die niedrigen Löhne im öffentlichen Bereich. Von vielen Autoren wird die Beobachtung artikuliert, dass die Osteuropäer kaum Geld haben, um Restaurants oder Cafés zu besuchen – diese bleiben nur den westlichen Besuchern oder den „Neureichen“ vorbehalten. Wolfgang Büscher

beschreibt, dass er in den Kantinen oder Bars oft der einzige Gast gewesen sei. (BM, S. 193) Eine Projektion der wirtschaftlichen Wunschvorstellungen eines „typischen“ Russen konstruiert Ingo Schulze in der Geschichte Hallo – Mama, Papa. Ein auf dem Friedhof vor dem Grab der Eltern geführter Monolog enthüllt, aus welchen Bestandteilen der russische Traum vom Wohlstand zusammengesetzt ist: der Mann möchte als „technischer Direktor“ arbeiten, eine große Wohnung mit Kühlschrank und Videorecorder besitzen und die Hälfte des Gehalts in Dollar ausgezahlt bekommen. Ernüchternd wirkt das Ende der Erzählung, als sich herausstellt, dass der Protagonist den verstorbenen Eltern nicht von seinem Alltag, sondern von einer vorgetäuschten Scheinwelt berichtet hat.

In mehreren Texten werden osteuropäische Figuren geschildert, die als Folge der fehlenden staatlichen Fürsorge einen für WesteuropäerInnen ungewöhnlichen Geschäftssinn entwickeln. Dieser realisiert sich laut Wolfgang Büscher, Angela Krauß oder Jens Sparschuh in krummen Geldgeschäften, Kleinhandel und Warenverkauf am Straßenrand. Die AutorInnen beleuchten dabei auch die negativen Folgen des neu entwickelten rücksichtlosen Geschäftsinns. Es werden Figuren konstruiert, die die ausländischen Reisenden als eine Quelle des raschen Gewinns betrachten, wodurch das tradierte negative Wahrnehmungsmuster bestätigt bleibt. Büscher beschreibt beispielsweise das Angebot eines Belarussen, ihn für sechzig Mark in die Stadt zu fahren: „Die Summe war indiskutabel in einem Land, in dem ein warmes Essen plus Salat und Brot und zwei Flaschen Bier drei Mark kostet und eine Nacht im Hotel fünfzehn.“ (BM, S. 75) Als eine weitere negative Erscheinung wird von ihm die aufdringliche Frauenprostitution geschildert – ein Motiv, das ebenfalls bei Reng, Schulze und Sparschuh thematisiert wird. Der letztere Autor verfolgt in seinem Roman die Ansicht, dass der in kapitalistischen Verhältnissen freigesetzte Geschäftssinn kriminelle Tendenzen auslösen könne. Er konstruiert zwei Figuren der „russischen Geschäftsmänner“, die den Protagonisten im Petersburger Luxushotel begegnen. Die Gäste aus Deutschland werden von den Russen als potentielle Kunden für geraubte Ikonen betrachtet. Ihre aufdringlichen Versuche, ins Geschäft zu kommen, regen selbst den toleranten und phlegmatischen Alexander auf: „Allmählich hatte Alexander den Eindruck gewonnen, die beiden würden sogar ihre Großmutter (...) verhökern. Denen war wirklich nichts heilig!“ (SD, S. 5)

In modernen, postindustriellen Staaten fällt der größte Teil des BIP dem Dienstleistungssektor zu.

Dabei spielt die Tourismusbranche im Zeitalter der Billigflüge und der uneingeschränkter Reisefreiheit eine immer größere Rolle. Dass in dieser Hinsicht in Osteuropa immer noch Defizite bestehen, darauf macht Wolfgang Büscher aufmerksam. In diesem Kontext werden viele Denkmuster bestätigt, die in der sozialistischen Ära entstanden sind. Das Hotelzimmer in Grodno, das er als „ganz sozialistisch“ bezeichnet, wird wie folgt beschrieben: „Rohbau, getüncht, ocker oder braun. Jemand war da gewesen und hatte kontrolliert, ob wirklich jede Spur von Komfort, Schönheit und Sauberkeit beseitigt war.“ (BM, S. 68f.) Auf der anderen Seite sind auch andere „Überreste“ des sozialistischen Systems zu finden - im Moskauer Luxushotel „Ukraina“ – „Stalins Traum von Las Vegas“ – entdeckt der Erzähler die alten Überwachungsanlagen, die immer noch im Betrieb sind. (BM, S. 221)

Nicht nur in der Hotel-, sondern auch in der Transportbranche lassen sich anhand der Texte Defizite feststellen. Wolfgang Büscher beschreibt ungemütliche Wartehallen und Bahnhöfe, fehlende Kundenorientierung und die Unfreundlichkeit des Personals. (BM, S. 95f.) Die letzte Eigenschaft deutet der Autor allerdings nicht als einen russischen Charakterzug, sondern als eine Art Arbeitseinstellung der Beschäftigten in der Tourismus-Branche. Obwohl es nicht explizit genannt

wird, ist es eine Beobachtung, die auf das sowjetische Vermächtnis zurückgeführt werden kann:

bereits in früheren Texten, die die Reise in die SU thematisieren, haben die Autoren immer wieder ähnliche Situationen beschrieben. Da die Löhne der Kellner oder Hotelmitarbeiter nicht von den Umsätzen abhängen, legen sie keinen Wert auf die Zufriedenheit ihrer Gäste. Apathisch und widerwillig erfüllen sie ihre beruflichen Pflichten ohne zu reflektieren, dass diese Einstellung das Image der Stadt oder sogar des Landes beeinträchtigt. Einer der Gründe dafür, wieso bei dem Erzähler eine plötzliche Wut auf die russische Stadt Wjasma entflammt, ergibt sich aus den durch die Sozialisation in unterschiedlichen Wirtschaftsverhältnissen entwachsenen Mentalitätsunterschieden:

„Gut, das Hotel hatte wieder keine Dusche, aber das war es nicht. Eher schon das lang gezogene Schlürfen, mit dem die Frau an der Rezeption ruhig ihren Milchkaffee getrunken hatte, ohne sich davon irre machen zu lassen, dass ein Mann vor ihr stand, der die offenkundige Absicht hatte, sie zu bitten, ihm ein Zimmer zu überlassen, gegen gutes Geld.“ (BM, S. 191f.)

Wer sie sah, fand keinen Schlaf mehr – über den Charme der

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 89-92)

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