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Auf in die Blackbox hinter dem Eisernen Vorhang – über die Neuentdeckung des südosteuropäischen Raumes in der jüngsten deutschsprachigen

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 27-33)

Literatur

Die jüngsten deutschsprachigen Texte, die eine Reise in die balkanischen Staaten thematisieren, haben den Charakter eines Reiseberichts, dessen Ich-ErzählerIn mit dem/der VerfasserIn weitgehend identifizierbar ist. Der Debütroman von Juli Zeh Adler und Engel ist in diesem Kontext eine Ausnahme. Was den in den Fokus genommenen historischen Zeitraum betrifft, so wird der vor- oder kommunistischen Ära relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt; vielmehr ist die Gegenwart der südosteuropäischen Länder zum interessantesten Erkundungsraum für die deutschsprachigen AutorInnen geworden.

Als einer der ersten prominenten deutschsprachigen Schriftsteller, der einen in literarischer Form verfassten Kommentar zur Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens lieferte, gilt der bereits genannte Peter Handke119. Der dem breiten Publikum durch seine Romane, Erzählungen, Dramen, Hörspiele und Drehbücher bekannte Autor positionierte sich politisch als großer Anhänger des jugoslawischen Staates, was viele heftige Debatten auslöste. Mit seinem Zerfall geht für ihn, dem Enkel eines slowenischen Bauern, die Utopie eines harmonischen Vielvölkerstaates als Erbe der multikulturellen Donaumonarchie zugrunde.120 In seinem 1991 veröffentlichten Text Abschied des

118 Handke [2004, Erstausgabe 1986]: S. 199.

119 Die Texte des 1942 geborenen Peter Handke werden für die Analyse miteinbezogen, obwohl sich die Verfasserin bei der Bestimmung des Korpus auf die Werke der nach dem Krieg geborenen AutorInnen fokussierte. Handkes Stimme hat allerdings den gegenwärtigen Balkandiskurs im deutschsprachigen Raum dermaßen geprägt, dass auf die Analyse seiner Werke nicht verzichtet werden konnte.

120 Vgl. Kühlmann [2009]: S. 643.

Träumers vom Neunten Land brachte er die Enttäuschung über die Sezession Sloweniens und seine Neuorientierung als „Alpenvolk“ zum Ausdruck, wofür er viel Kritik seitens seiner slowenischen KollegInnen erntete.121 In den folgenden Jahren wandte sich Handke zunehmend dem schrumpfenden jugoslawischen Staat zu.122 Seine deutlich zum Ausdruck gebrachte Sympathie für Serbien mündete in eine eindeutige Parteinahme, als er während des Kosovo-Konfliktes das Land bereiste und durch „spektakuläre Inszenierungen mit einkalkulierter Medienwirksamkeit“123 Solidarität mit den Opfern der NATO-Luftangriffe manifestierte. Den Höhepunkt der öffentlichen Kontroversen markiert Handkes demonstrative Rückgabe des ihm zuerkannten Georg-Büchner Preises 1999.124 Am 18. März 2006 sorgte er erneut für Schlagzeilen, als er auf der Beerdigung von Milosevic als Redner auftrat. Wie er seine Kritiker wissen ließ, habe ihn dazu weniger die Einladung der Familie bewogen als vielmehr „die Reaktionen der durchweg feindlichen, nach dem Tod noch verstärkt feindlichen Westmedien, und darüber hinaus der Sprecher des Tribunals und auch des einen oder anderen >>Historikers<<.“125 Im Zusammenhang damit wurde sein Stück vom Spielplan des Pariser Comédie Française abgesetzt, was sowohl befürwortende als auch kritische Stimmen hervorrief. Am 2. Juni 2006 verzichtete er aufgrund der politischen Diskussionen auf den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf. Die durch seine Anhänger gesammelte Spende zwecks der Wiedergutmachung des Verzichts auf die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung hat Handke 2007 dem Bürgermeister des hauptsächlich von Serben bewohnten Dorfes Velica Hoca im Kosovo übergeben, was erneut eine Welle kritischer Stimmen auslöste.126

Nicht nur Handkes öffentliches Auftreten sondern auch die in diesem Zusammenhang veröffentlichten Schriften sorgten für Kontroversen. Im Jahr 1995 wurde in der Süddeutschen Zeitung (5./6. Januar 1996) der Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien abgedruckt. Der Text ist im gleichen Jahr in der Buchfassung im Suhrkamp-Verlag erschienen. Ihm folgten Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996) und Unter Tränen fragend (2000). Im Sommer 2004 besucht Handke Slobodan Milosevic im Gefängnis des Haager Tribunals und veröffentlicht anschließend die Reiseerzählung Die Tablas von Daimiel. Handkes neueste Schrift - Die Kuckucke von Velika Hoca – wurde nach seiner Reise in die serbische Enklave im südlichen Kosovo im Sommer 2008 vorgelegt.

Der im folgenden Teil zu analysierende Text, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, scheint schon deswegen blasphemisch gewirkt zu haben, weil er wenige Monate nach dem Massaker von Srebrenica veröffentlicht wurde. Die in diesem Zusammenhang geforderte „Gerechtigkeit“ stieß auf Empörung und Unverständnis breiter gesellschaftlicher Schichten. Die Emotionen haben dabei oft den Blick auf die klar festgeschriebenen Ziele des Textes versperrt: Handke verkündet, dass er weder „proserbisch“ noch „jugophil“ sei, sondern dass er sich lediglich sträube, blind an die „allzu schnell“ festgelegten „Rollen des Angreifers und des Angegriffenen, der reinen Opfer und der nackten Bösewichte“ zu glauben.127 Sein Beschluss,

121 Parry [2003]: S. 334.

122 Vgl. Parry [2005].

123 Parry [2003]: S. 338.

124 Vgl. ebd., S. 330.

125 Peter Handke zu seiner Anwesenheit bei der Beerdigung von Slobodan Milosevic im März 2006 in der Stellungnahme auf der Website des Suhrkamp-Verlags unter:

www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Handke_Stellungnahme.pdf vom 18.10.2010.

126 Vgl. Serbien-Kontroverse unter http://wikipedia.org/wiki/Peter_Handke vom 18.10.2010.

127 Handke [1996]. Weiter im Text mit Sigel WR und Seitenangaben.

nach Serbien zu fahren, sei nicht primär mit dem Überdruss an der westlichen Kriegsberichterstattung begründet, sondern mit der Tatsache, dass Serbien das ihm am wenigsten bekannte Land des ehemaligen Jugoslawiens sei. Er weist darauf hin, dass reines Medien-Wissen unzulänglich sei, um solche moralischen Kriterien wie Gerechtigkeit zu erörtern: „Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann?“ (WR, S. 30) Vom Bestreben, sein Wissen zu erweitern und dadurch der Gerechtigkeit näher zu kommen, sei seine Serbienreise motiviert.

Bereits Mitte der 1990er Jahre kristallisierte sich die Tendenz heraus, Handkes literarisches Werk und seine politische Haltung getrennt voneinander zu sehen. Dies wird damit begründet, dass er nicht wie viele andere SchriftstellerInnen zwischen einem politischen Essay und einem poetischen Text unterscheidet und die Trennlinie „zwischen Politik und Poesie (...) mitten durch Handkes Jugoslawien-Texte“ verlaufe.128 Christoph Parry fasst Handkes literarisches und öffentliches Verhalten wie folgt zusammen: „Peter Handke hält aber die Rollen nicht auseinander. (...) Er veröffentlicht aktuelle Texte in der Zeitung und zieht dann auf Tournee, um seine als publizistisch missdeuteten Texte vorzulesen und zu rehabilitieren.“ In seinen Texten und in der Verteidigung seiner Texte „fließen öffentliche Gespräche, private Autobiographie und Poetik unentrinnbar zusammen“, was die Aporie zwischen Erzählung und Geschichte sichtbar macht.129 Die Schärfte der Kontroverse entsteht dadurch, dass er sich mit seinen Texten an die breitere Öffentlichkeit wendet,

„die nicht unbedingt in die Erfahrungswelt des Dichters hineindringen wollte, sondern die zuvorderst eine politische Stellungnahme suchte.“130 Diese Art Schriften – und nicht die darin vertretenen Ansichten – würden sie „aus dem öffentlichen Diskurs zu aktuellen Themen“ ausschließen. Auf der anderen Seite, aufgrund des hohen Grades an Poetizität fügen sie „sich nahtlos in das poetische Projekt von Handkes Gesamtwerk“ ein.131 Auf welche Art und Weise Handkes „poetischer Blick“

Serbien als literarische Landschaft und politische Einheit wahrnimmt und entwirft, wird im Folgenden untersucht.

Die Balkanproblematik berührt in ihren Werken eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Autorinnen der jüngsten Generation, Juli Zeh. Als promovierte Expertin für internationales Völkerrecht und Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig entwickelte sie ihren charakteristischen schriftstellerischen Stil, in dem sie aktuelle juristische Fragestellungen mit anspruchsvoller Prosa voller „kühner Metapher“132 kombiniert. Nicht nur die Zahlen der verkauften Exemplare ihrer Bücher, sondern auch mehrere Preise und Auszeichnungen (u. a. Deutscher Buchpreis in der Kategorie „Erfolgreichstes Debüt“, Förderpreis des Bremer Literaturpreises, Hölderlin-Förderpreis, Gerty-Spies-Literaturpreis) zeugen von großer Anerkennung, mit der ihre Publikationen aufgenommen werden. Juli Zehs Romane (insbesondere Spieltrieb, Schilf, Corpus Delicti) intensivierten ihren Ruf als einer „moralischen Autorin.“133 Die dadurch erlangte Popularität, in Verbindung mit hoher juristischer Kompetenz, führte dazu, dass sie in mehreren

128 Brokoff [2010].

129 Parry [2002]: S. 117.

130 Ebd., S. 124.

131 Parry [2003]: S. 336.

132 Vgl. Preußer [2010]: S. 5.

133 Vgl. ebd., S. 6.

Fernsehsendungen, Presseartikeln und Hörfunkinterviews als eine meinungsbildende Instanz auftritt, die aktuelle politische Entwicklungen unter dem bürger- und menschenrechtlichen Aspekt erörtert.

Ein wichtiger Aspekt ihrer schriftstellerischen und öffentlichen Tätigkeit ist die Kritik des Überwachungsstaates, der zum Schutz vor Terrorismus Gesetze erlässt, die Menschen- und Bürgerrechte aufs Spiel setzen. Dem Thema der staatlich verordneten Bespitzelung der Bürger wird auch die jüngste Publikation Angriff auf die Freiheit gewidmet, die 2009 zusammen mit Ilja Trojanow herausgegeben wurde.

Das Leben der 1974 in Bonn geborenen Autorin ist durch zahlreiche Aufenthalte in Ostmittel- und Südosteuropa geprägt. Mehrmals hielt sie sich in Krakau auf, wo sie studierte und Arbeitsstipendien absolvierte. 2002 arbeitete sie in der Deutschen Botschaft in Kroatien; ein Jahr später war sie in der Wahlstation beim OHR in Sarajevo tätig. 2006 absolvierte sie einen Arbeitsaufenthalt im bulgarischen Belitsa. In einem Interview in Die Welt am Sonntag erklärt sie ihre Gründe für das Interesse für den Osten wie folgt: „Man sollte wohl nicht den langweiligen Westen gegen den aufregenden Osten abwägen. Mich persönlich hat’s ganz zufällig nach Leipzig verschlagen und von dort aus immer weiter gen Osten. (...) Es ist schon so, dass ich in den neuen Bundesländern nach wie vor das Gefühl habe, mich in einer anderen Welt zu bewegen, als in meiner Jugend. Und das ist für mich inspirierend und anregend. (...) Die Nachwende-Dynamik hält sich dort hartnäckig, was ich als sehr angenehm empfinde. Und in Osteuropa ist das noch sehr viel stärker zu spüren, als in Ostdeutschland. (...) Außerdem beherrscht man dort die Kunst, aus ganz wenig ganz viel zu machen, etwa mit vier Leuten und einer halben Flasche Wein eine tolle Party oder aus einer Kastanie und einem Korken eine Riesengeschichte.“134 Diese positive Haltung gegenüber den östlichen Regionen Europas wird in vielen anderen publizistischen Texten thematisiert, wovon der ursprünglich in der Zeit erschienene Artikel Dann fahr doch!135 zeugen kann.

Mit den beiden wichtigen Interessenschwerpunkten – Recht und Osteuropa – muss die Wahl der Thematik des am Literaturinstitut Leipzig zum Abschluss vorgelegten literarischen Werkes nur als konsequent erscheinen. In Adler und Engel (2002)136 entwirft die Autorin ein apokalyptisches Bild der balkanischen Kriege und ihrer Zerstörungen. Der Roman, der sich durch einen Mix „aus gesellschaftlichem Anspruch, rhetorischem Pathos und umgangssprachlichem Drive“ auszeichne137 erzählt die Geschichte des blutigen balkanischen Konflikts, der in Tod und Zerfall mündet. Der Reisebericht Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien138 entstand nach der einsamen Reise der Autorin quer durch Bosnien-Herzegovina im Sommer 2001. Im Gegensatz zu Peter Handke, der seine Reisen nach Serbien aus der Trotzhaltung gegenüber der westeuropäischen Kriegsberichterstattung unternommen hat, war es für Juli Zeh die auf einmal fehlende Präsenz des Balkans in den Medien, die sie zu ihrer Exkursion bewegte. Die Autorin konstatierte, dass sich nach dem Abschluss des Dayton-Abkommens ein mediales Vakuum einstellte, das sie fragen ließ, „ob [Bosnien-Herzegowina] zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist.“ (SiG, S. 11) Der zweite Grund für die Reise lässt sich dagegen mit Handkes Argumentation vergleichen. Die Medien vermitteln die geographischen Ortsnamen immer im Kontext gewisser Ereignisse, wodurch feste Wahrnehmungsmuster entstehen, die die kognitiven Karten prägen. Das

134 Zeh [2002].

135 Zeh [2003].

136 Zeh [2001]. Weiter im Text mit Sigel AE und Seitenangaben.

137 Preußer [2010]: S. 2.

138 Zeh [2002]. Weiter im Text mit Sigel SiG und Seitenangaben.

Bedürfnis der Rezipienten, die ihm aus eigener Erfahrung unbekannten Namen mit Inhalt zu füllen, wird dadurch gestillt. Die Autorin belegt durch persönliches Beispiel, dass im Prozess der Entstehung kognitiver Karten den Medien eine immense Rolle zukommt: „Jahre lag sie [die Stadt Sarajevo] für mich in der Blackbox hinter dem Eisernen Vorhang, war ein Ort, über den man auf der Weltkarte mit dem Finger hinwegfuhr. Bis die Stadt auf internationalem Parkett mit einem Kriegsauftritt debütierte, sich vorstellte mit qualitativ schlechten TV-Aufzeichnungen von dunklen Staubwolken und hochspritzenden Häusersplittern. >>Sarajevo<< ist ein verwirrender Kampf, bei dem man nicht weiß, wem die Daumen gedrückt werden sollen.“ (SiG, S. 61) Peter Handke plädiert in seinem Reisebericht dafür, über die festgelegten Zuschreibungen des bosnischen „Opfers“ und des serbischen „Aggressors“ hinauszukommen; Juli Zeh möchte im ähnlichen Denkverfahren unter anderem erreichen, dass die Namen der Städte Bihać oder Sarajevo mit anderen Inhalten als die durch Medien festgeschriebenen Attributen wie „Moslemenklave“ oder „Belagerung“ gefüllt werden. (SiG, S. 11). Die balkanische „Blackbox“ sollte mit eigens erfahrenem und gesehenem Inhalt gefüllt werden. Im Bestreben, eine eindimensionale Wahrnehmung der balkanischen Staaten durch eine Vielfalt der Facetten, die nur durch Er-fahrung entstehen kann, zu ersetzten und verschiedene Bereiche des Alltagslebens darzustellen ähnelt sich der Charakter beider Reiseberichte.

Bosnien-Herzegowina wird im Jahr 2005 zum Reiseziel von Michael Zeller. Der 1944 im damaligen Breslau geborene deutsche Autor studierte Literatur, Philosophie und klassische Archäologie und promovierte mit einer Arbeit über Thomas Mann. Neben der nachfolgenden Lehrtätigkeit an der Universität Erlangen schrieb er als Literaturkritiker für die F.A.Z. Seit 1982 lebt er als freier Schriftsteller an unterschiedlichen Orten. Als Dichter debütierte er 1981 mit dem Gedichtband Aus meinen Provinzen. Seitdem verfasste er mehrere Romane, Gedichte, Erzählungen und Essays. Im Roman Die Sonne! Früchte. Ein Tod (1987) wird den Abgründen des schriftstellerischen Schaffensprozess gewidmet. In seinen weiteren Büchern verknüpft er gesellschaftliche Gegenwart mit historischen Stoffen.139 Einen gewichtigen Platz in seinem literarischen Werk nimmt Polen ein.

Die politische Wende und die Öffnung der Grenzen ermöglichten ihm 1991 seine erste Reise nach Krakau. Die Stadt wurde zu einer wichtigen Inspirationsquelle – nach seinem Aufenthalt entstand der Roman Café Europa. Dafür wurde er von der Stuttgarter Robert-Bosch-Stiftung mit dem Internationalen Schriftstellerstipendium in Krakau ausgezeichnet. Die dort gesammelten Erfahrungen wurden von ihm im Erzählband Noch ein Glas mit Pan Tadeusz (2000) und nachfolgend im weiteren Roman Die Reise nach Samosch (2003) literarisch verarbeitet.140 Auch die Geschehnisse auf dem Balkan weckten das Interesse des Schriftstellers. Im Jahr 2005 erschien der Reisebericht Granaten und Balladen. Bosnisches Mosaik. Der mit dem Autor weitgehend identifizierbare Erzähler reflektiert die Neigung des Menschen dazu, seine Urteile allzu schnell und unbedacht zu fassen. Indem beschrieben wird, dass der Erzähler als Reiselektüre ein Band mit serbischen Heldengesängen aus dem Mittelalter mitnimmt, was ihm bei dem Versuch helfen soll, „gerecht zu bleiben und beide Seiten wahrzunehmen und zu verstehen,“141 wird die Notwendigkeit signalisiert, sich von dem in den Medien vorherrschenden Opfer-Täter-Diskurs zu distanzieren – ein Motiv, das auch bei Peter Handke und Juli Zeh deutlich wird.

139 Vgl. Kraft [2003].

140 Der Roman Die Reise nach Samosch wird in dem Ostmitteleuropa gewidmeten Kapitel noch ausführlicher besprochen.

141 Zeller [2005]. Weiter im Text mit Sigel GB und Seitenangaben.

Ein bewusster Versuch, eine kulturelle Annäherung zwischen Ost- und Westeuropa zu fördern, ist das deutsch-bulgarische Projekt „Die deutsche Reise nach Plovdiv.“ Die Träger der Initiative, die 1995 ins Leben gerufen wurde, sind das rheinland-pfälzische Künstlerhaus Edenkoben, die Stiftung Bahnhof Rolandseck und der bulgarische Verleger Emil Stojanow. Jährlich vergeben die beiden Institute ein Stipendium an eine/n deutsche/n Schriftsteller/in, der/die nach Plovdiv reist und anschließend die Erfahrungen mit Bulgarien und seinen Einwohnern in literarischer Form niederschreibt. Das Ziel des Projekts besteht darin, die gegenseitige Fremdheit zu überwinden und dem deutschen Lesepublikum den bulgarischen Raum näher zu bringen.142

Der 1954 geborene Lyriker und Übersetzer Hans Thill ist Mitbegründer des Verlags Das Wunderhorn, der die Reihe „Deutsche Reise nach Plovidv“ veröffentlicht. Nachdem er den Herbst 1999 in der bulgarischen Stadt verbracht hatte, beschrieb er seine Erfahrungen in einem im protokollarischen Stil verfassten Reisebericht Kopfsteinperspektive143. Das Projekt, im Rahmen dessen das Buch entstanden ist, impliziert, dass der Autor höchstens Unterschiede, aber keine unüberbrückbare Fremdheit zwischen Ost- und Westeuropa konstatieren wird.144 Im folgenden Teil wird untersucht, ob Thill dem Auftrag, eine historisch gewordene Entfremdung mit literarischen Mitteln überwinden konnte, gerecht wurde.

Ein weiteres Buch, das einen Beitrag zum deutschsprachigen Balkandiskurs auf der literarischen Ebene liefert, stammt von dem freien Autor und Journalisten Thomas Magosch, der etliche Jahre in Bulgarien wohnte und dort als Korrespondent für deutsche Medien tätig war. Im Jahr 2009 wurde sein Reisebericht Das gebrauchte Zepter am goldenen Sandstrand145 vom österreichischen Verlag Picus veröffentlicht. Das Buch erschien in der Reihe „Lesereisen und Reportagen“, die sich an bestimmtes, vom Fernweh erfasstes Publikum richtet. Der Verlag definiert die in der Reihe versammelten Texte als „Einstimmungslektüre für Reisewillige ebenso wie Sehnsuchtslektüre für jene, die nicht zum Reisen kommen“. Darüber hinaus, sollten die Bände „eine Brücke zwischen dem reinen Reiseführer und topographischer Belletristik“ bilden.146 Diesem Postulat wird Magoschs Bulgarienbericht gerecht. In seinem Buch entwirft er eine literarische Collage aus Einblicken in den Alltag, in die Mentalität, Bräuche und Absonderlichkeiten Bulgariens, wodurch ein facettenreiches Porträt des in Westeuropa weitgehend unbekannten Landes vermittelt wird.

Als letztes Buch soll in diesem Kapitel der Text von Arthur Fürnhammer Unterwegs nach Albanien.

Der Gastfreund147 analysiert werden. Der 1972 geborene und in Wien lebende Autor hat bereits längere Aufenthalte in Kapstadt, Neapel, Ankara und New York absolviert. Im Sommer 2006 führt ihn Neugier und Interesse nach Albanien – in „das schönste, aber ärmste Land Europas.“ Basierend auf seinen Tagebuchaufzeichnungen erzählt er von albanischen Landschaften, Menschen, Begegnungen und Lebensumständen, wobei er sich mit eigenen Vorurteilen und Neurosen auseinanderzusetzen

142 Birgfeld [2003]: S. 85.

143 Thill [2000]. Weiter im Text mit Sigel KP und Seitenangaben.

144 Vgl. Birgfeld [2003]: S. 86.

145 Magosch [2009]. Weiter im Text mit Sigel GZ und Seitenangaben.

146 Vgl. www.picus.at, vom 10.12.2009.

147 Fürnhammer [2008]. Weiter im Text mit Sigel UA und Seitenangaben.

versucht. Sein Buch kann nicht nur als eine Schilderung des albanischen Alltags gelesen werden, sondern primär als eine unbeabsichtigte Bestätigung der These, dass es den westeuropäischen Reisenden auch heutzutage schwer fällt, ost- oder südosteuropäische Länder mit anderen Kriterien als die der Ordnung und des Fortschritts wahrzunehmen. Insofern ist das Buch eine tiefere Analyse wert.

Siehst du den Großteil Europas verwüstet? – ehemaliges Jugoslawien als

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