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Eine ferne Insel oder ein Reservat der Seelen?

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 141-149)

Wenn man das Lemma „Osten“ im Deutschen Universal Wörterbuch Duden398 nachschlägt, mag es verwundern, dass neben den geographischen und räumlichen Bedeutungsebenen des Begriffs seine geopolitische Dimension nur auf die „frühere Gesamtheit der Ostblockstaaten“ reduziert bleibt. Die gängige Bedeutung des Wortes im Deutschen wird nicht berücksichtigt, obwohl die Erfahrung der Verfasserin sagt, dass wenn in Gesprächen der Deutschen das Wort „Osten“ auftaucht, dann ist damit relativ selten der „Ostblock“ oder gar Asien, sondern in erster Linie die ehemalige DDR gemeint.

Mit dem Auge des Historikers betrachtet, hat der ostdeutsche Staat eine relativ kurze Zeit existiert.

Dass die gängigen Denkmuster bis heute noch ihre Wirksamkeit zeigen, lässt sich damit erklären, dass sie hauptsächlich von den den Osten betreffenden, generationsübergreifenden und historisch tradierten Konnotationen abgeleitet und modifiziert, aber nicht unbedingt „neu erfunden“ wurden.

Die Spaltung Deutschlands in Ost und West prägte sich in den kognitiven Karten der Deutschen und EuropäerInnen nachhaltig ein, was als eine natürliche Reaktion auf die politische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg geschah. Bereits in den Gründerjahren (1949-1955) vollzog sich parallel zur Westintegration der BRD die Ostintegration der DDR. Während bis etwa Mitte der 1950er Jahre die DDR-Führung an ihrem gesamtdeutschen Anspruch festhielt, wurde Ostdeutschland von den meisten Westdeutschen und WestberlinerInnen als die „Sowjetzone“ oder verkürzt „Zone“ bezeichnet. Nach der Genfer Gipfelkonferenz und dem gescheiterten Versuch der Sowjetunion, den Beitritt der BRD in die NATO zu verhindern, wurde von Chruschtschow und Bulganin in Ost-Berlin die „Zwei-Staaten-Theorie“ offiziell verkündet. Die Doktrin der eventuellen deutschen Wiedervereinigung besagte, es sei die „Sache der Deutschen selbst“ und nur denkbar, wenn die „politischen und sozialen Errungenschaften der DDR“ gewährt blieben.399 Die SED-Führung gewann damit die Sicherheit, dass die DDR nicht für ein neutrales Gesamtdeutschland geopfert werden würde. Die Moskauer Politik richtete sich von nun an gezielt auf die verstärkte Einbindung der DDR in den Ostblock, was den Status quo besiegelte. Der Anspruch der BRD, auf der internationalen Bühne allein für ganz Deutschland zu sprechen, fand wiederum seinen Ausdruck in der „Hallstein-Doktrin“.

In den folgenden Jahrzehnten festigte sich die Spaltung Europas und somit auch Deutschlands. Die führenden Politiker beider Staaten scheuten sich nicht, zu propagandistischen Mitteln zu greifen, um das gegenseitige Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander zu beeinflussen und ihren Herrschaftsanspruch über das gesamte Deutschland zu akzentuieren. Auf lange Sicht wurde so zur Herausbildung und Festigung bestimmter Denkmuster beigetragen. Während der Gründungsmythos der DDR die Bundesrepublik in eine ununterbrochene Tradition mit dem NS-Regime stellte, wies die BRD einerseits auf die fehlende demokratische Legitimation der DDR und andererseits auf die Mangelwirtschaft und das Fehlen begehrter Konsumgüter hin.400 Es war insbesondere der letzte Faktor, der auf einen nahrhaften Boden fiel. In der Wahrnehmung vieler Westdeutscher markierte die Währungsreform den Beginn eines wirtschaftlichen Wachstums, das auf solche Eigenschaften wie

398 Duden Deutsches Universalwörterbuch [1996]: S. 1109.

399 Zit. nach: Pötzsch [2006]: S. 119.

400 Vgl. Münkler [2009]: S. 415f.

Fleiß und Leistungsbereitschaft zurückgeführt wurde.401 Die „Opfergesellschaft des Krieges“

wandelte sich allmählich zur Konsum- und Wohlstandgesellschaft, was mit einer verstärkten Identifizierung der Westdeutschen mit ihrem Staat einherging.402 Dies wiederum bewirkte eine weitere Abgrenzung von der DDR, weil die Uneffizienz der zentral gelenkten Wirtschaft eine verächtliche Einstellung der BRD-BürgerInnen begünstigte. Aus diesem Grund formuliert Herfried Münkler die These, dass es eben die Währungsreform war, mit der „die Weichen für die Teilung Deutschlands endgültig gestellt worden“ wären.403 Die im Propagandakrieg verbreiteten Parolen beschworen „die Wachsamkeit gegenüber der östlichen Bedrohung“ und warnten „vor einer zu weitgehenden Liberalisierung der politischen Kultur.“404 Mittels Plakaten, Flugblättern, Broschüren, Zeitungen und Radiosendungen wurde das ostdeutsche Regime als „dem Nationalsozialismus an Schlechtigkeit zumindest ebenbürtig“ hingestellt.405 In der ersten Phase des Kalten Krieges war bereits in der Titulierung der DDR die Absicht verborgen, die eigene Sicht auf Ostdeutschland verbindlich zu machen und die mit der Namensgebung vorgegebenen Charakteristika durch ständige Wiederholung glaubhaft zu machen – sie in ein nicht zu hinterfragendes Denkmuster zu verwandeln.406 Diese Sprachpolitik zielte darauf ab, die Bevölkerung dazu zu bringen, den anderen deutschen Staat so wahrzunehmen, wie sich das die Regierenden wünschten – als „fremd definiert“,

„nicht legitimiert“ oder parallel existierend zum „eigentlichen deutschen Staat.“407 Die Begriffe

„Zone“, „Sowjetzone“, „Pankow-Regierung“ und „Mitteldeutschland“ hatten einen festen Platz in der gängigen Nomenklatur gefunden. Es existieren keine verlässlichen statistischen Angaben, aber es wird geschätzt, dass drei von vier BRD-Bürgern keine Verwandten im Osten besaßen.408 Da sie daher keine unmittelbaren Erfahrungen mit der DDR-Bevölkerung machen konnten, ist davon auszugehen, dass sie für die durch die Propaganda vermittelten Denkschemen empfänglich waren.

Die öffentliche Meinung in der BRD wurde allerdings nicht nur von den politischen Parolen bestimmt.

Der Mauerbau lenkte das Augenmerk der JournalistenInnen auf das abgeschottete Bruderland und das Schicksal der ostdeutschen Bevölkerung. Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer unternahmen in den 1960er Jahren eine Reise in der DDR und legten abschließend den Sammelband Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR409 (1964) vor. Der langjährige Korrespondent großer Zeitungen, u. a. der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Joachim Nawrocki, beschrieb die Erfahrungen seines Aufenthaltes in Westberlin im Band Das geplante Wunder (1967)410. Hanns Werner Schwarze veröffentlichte 1970 einen Bericht über die Landwirtschaft der DDR.411 Der Titel seines Buches – Die DDR ist keine Zone mehr – signalisiert den Versuch, der gängigen Nomenklatur der BRD die Tatsache entgegen zu stellen, dass sich das kommunistisch regierte deutsche Gebiet zu einem souveränen Staat konsolidierten.

401 Ebd,, S. 460.

402 Ebd., S. 464.

403 Ebd., S. 460.

404 Schildt, Siegfried [2009]: S. 206.

405 Ebd.

406 Vgl. Jörg Roesler: „DDR“ und DBR. Sprachpolitik im Kalten Krieg, zit, nach: www.linksnet.de/de/artikel/19875 (28.06.2010)

407 Ebd.

408 Schildt, Siegfried [2009]: S. 478.

409 Dönhoff, Leonhardt, Sommer [1964]. Weiter im Text mit Sigel R und Seitenangeben.

410 Nawrocki [1967].

411 Schwarze [1970].

Als das wichtigste Charakteristikum der DDR wird von den AutorInnen ihre Andersartigkeit genannt.

Marion Gräfin Dönhoff und Rudolf Walter Leonhardt reflektieren beispielsweise, dass der Begriff der Freiheit in den politischen Systemen der BRD und der DDR unterschiedlich ausgelegt wird. Frei bewegen könne man sich in der DDR nur „für dortige Begriffe“, also „im Rahmen des Plans“. (R, S. 9, 21) Zahlreiche Kontrollen, Genehmigungen, und Anmeldungen bei der Polizei zeugen davon, dass man sich in einem bürokratisierten Überwachungsstaat befindet, was bei den westdeutschen Besuchern ein Gefühl von Unruhe und Angst hervorruft. (R, S. 12) Die AutorInnen weisen auf die fehlende Pressefreiheit und auf die in den ostdeutschen Medien herrschende Zensur hin. Aus dem Lehrbuch des Strafrechts der DDR wird ein Grundsatz zitiert, der die These stützt, dass unabhängige Gerichte – eine der unabdingbaren Grundlagen eines Rechtstaats – in der DDR praktisch nicht existieren. (R, S. 44) In den Beiträgen wird veranschaulicht, dass die sozialistische Propaganda bereits in der Erziehung der Kinder einen festen Platz hat. Wie Rudolf Walter Leonhardt nach dem Besuch in einer Schule festhält, „jeder Unterricht in der DDR, jede Schulstunde in welchem Fach auch immer, dient der Erfüllung eines Plan-Solls an Ideologie.“ (R, S. 69.) Auch der Bereich der Kultur und Kunst (mit der Ausnahme des Theaters, das von Leonhardt nur in Superlativen beschrieben wird) werde für die Zwecke der sozialistischen Herrschaft instrumentalisiert.

Andersartigkeit wird darüber hinaus im wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Sektor festgestellt.

Zwar überwiegt der Ton, dass der Wohlstand der DDR-Bürger allmählich steige, aber zugleich wird auf zahlreiche Defizite (beispielsweise im Dienstleistungsbereich) aufmerksam gemacht. Sowohl Marion Gräfin Dönhoff als auch Hans-Werner Schwarze bestätigen in ihren Beiträgen einen generellen Erfolg der Landwirtschaft in der DDR, was das gängige Bild der ostdeutschen Uneffizienz in Frage stellt. Der letztere Autor, der damalige Berliner Studio-Leiter des Zweiten Deutschen Fernsehens und „ebenso unvoreingenommene wie kritische Beobachter des anderen Deutschland“412 beschreibt zwar die schwierigen Anfänge der Kollektivierung und die brutalen Methoden der Erzwingung des Eintritts in die LPG, aber gleichzeitig weist er darauf hin, dass Ende der 1960er Jahre die Landwirtschaft Ostdeutschlands „besser als anderswo im kommunistischen Machtbereich“ funktioniert habe.413

Mit einem anderen gesellschaftlich-politischen Denkmuster setzt sich Marion Gräfin Dönhoff auseinander. Sie beschreibt die Wahrnehmung der kommunistischen Eliten aus der Sicht der BRD wie folgt: „Bei uns herrscht im allgemeinen die Vorstellung, Kommunisten seien bar jeder Moral. Man glaubt, (...) es gehe ihnen vielmehr nur um materielle Herrschaft und Machtausübung und also darum, ihre Bevölkerung physisch zu beherrschen und geistig bevormunden.“ (R, S. 45) Das, was sie nach den Gesprächen als am meisten überraschend beschreibt, ist ihre Beobachtung, dass die Kommunisten „von der moralischen Berechtigung ihrer Handlungsweise fest überzeugt“ seien und dass sie ihre „Gläubigen zu größter Hingabe und Opferbereitschaft zu inspirieren vermögen (...)“. (R, S. 45) Diese Feststellung wird allerdings durch die Aussage von Rudolf Walter Leonhardt relativiert, der darauf hinweist, dass die DDR-Bevölkerung nicht nur aus den überzeugten Parteifunktionären bestehe. Als andere Gruppen nennt er „Mitläufer, Gegenläufer, Resignierte und Opportunisten“, wobei die Mittelgruppe am größten sei, die aus BürgerInnen bestehe, „die weder aktiv für noch aktiv gegen die DDR und ihre Regierung ist.“ (R, S. 83f.)

In seinem Bericht Das geplante Wunder vermittelt Joachim Nawrocki die Wahrnehmung der DDR als eines sozial gespaltenen Landes, was im Widerspruch zu dem in der Propaganda verkündeten

412 Zit. nach: DER SPIEGEL, Nr. 42/1969, S. 52.

413 Ebd., S. 62.

Postulat einer „klassenlosen Gesellschaft“ steht. Der Journalist berichtet von einer dünnen, hermetisch abgeriegelten Schicht der Neureichen in der DDR, die viele Privilegien genießen würden, während die finanzielle Lage der Rentner dermaßen schlecht sei, dass sie nicht selten auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen seien.414

In vielen Berichten weisen die JournalistInnen darauf hin, dass das sozialistische Regime in der DDR nicht nur den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sektor, sondern auch den urbanen und ländlichen Raum präge. Als „typisches“ Markenzeichen der ostdeutschen Dörfer werden Wegweiser zu LPGs und sozialistische Transparente beschrieben. In ihren Texten vermitteln die AutorInnen die Ansicht, dass ihre Wahrnehmung der ostdeutschen Städte durch die sozialistische Architektur und grau-braune Farbe dominiert wird, was das Gefühl von Fremdheit und Tristesse potenziert. Als besonders befremdlich erscheinen den westdeutschen Reisenden die Grenzzonen, die durch ihre visuellen Merkmale – Schießanlagen, Absperrungen und Kasernenzäune – mit solch negativen Erscheinungen wie Krieg, Gewalt und Abschottung konnotativ in Verbindung gebracht werden.

Nicht zuletzt gehen die Autoren ausführlich auf das Problem der deutschen Zweistaatlichkeit ein.

Aufgrund des gemeinsamen historisch-kulturellen Vermächtnisses nehmen die JournalistInnen der Zeit die Teilung als „einen Schnitt“ durch „einen gewachsenen Organismus“ (R, S. 23) wahr.

Gleichzeitig reflektieren sie, dass sich trotz dieses Bewusstseins in Folge der politischen Entwicklung die gegenseitige Entfremdung nicht vermeiden ließ. Marion Gräfin Dönhoff bringt zum Ausdruck, wie sie sich mehrmals dabei ertappt, von „unserer Welt“ und „deren Welt“ zu schreiben. Auf ihrer kognitiven Landkarte ist die DDR zu „eine[r] ferne[n] Insel“ geworden, deren Bewohner – trotz der gemeinsamen Sprache und Geschichte – kaum noch Berührungspunkte mit den Westdeutschen haben. (R, S. 134)

Theo Sommer bedient sich des Oxymorons „permanente Provisorien“, um den Zustand der deutschen Zweistaatlichkeit zu beschreiben. Einerseits weist er auf die nicht akzeptable

„Unnatürlichkeit“ der Teilung hin, die den beiden Staaten den provisorischen Charakter verleiht. Auf der anderen Seite geht er davon aus, dass das System in der DDR nie so schlecht funktionieren werde, „daß sich die Menschen in purer Verzweiflung dagegen auflehnen.“ (R, S. 140) Um eine weitere Emanzipation der DDR zu vermeiden ruft er dazu auf, gemeinsame Kommissionen zu gründen, die die Aufgabe hätten, die Teilung zu „humanisieren“. (R., S. 131)

In seinem Bericht demontiert Hans-Werner Schwarze die pauschale Wahrnehmung des ostdeutschen Staates als eines „Provisoriums“. Er warnt davor, das dort herrschende System als „Terror-Regime, Willkürherrschaft, totalitäres Regime oder Diktatur“ zu bezeichnen415 ohne darauf zu achten, dass die erfolgreich entwickelten wirtschaftlichen und politischen Strukturen aus der „Zone“ einen „realen“

Staat machen. Gleichzeitig hebt er die konfrontative Stellung der beiden deutschen Staaten hervor, indem er dazu auffordert, den „Gegenspieler“ nicht zu unterschätzen.

Außer den journalistischen Berichten sind der Verfasserin nur wenige literarische Texte bekannt, die eine Reise in die DDR thematisieren. Als einer der wenigen westdeutschen Autoren bereiste Horst Krüger Ostdeutschland und verfasste abschließend das Reiseessay Fremde Heimat. Empfindsame

414 Nawrocki [1967].

415 Ebd., S. 67.

Reise durch die DDR Provinz416. Sein Interesse an diesem Reiseziel erklärt der Schriftsteller, der die exotischsten Länder der Welt erkundete und beschrieb, mit einer nostalgischen Sehnsucht nach der ostdeutschen Provinz, die in seiner kognitiven Karte als ein Raum fungiert, der von dem Chaos und der Anarchie des Westens verschont geblieben ist.

Die von Horst Krüger vermittelte Wahrnehmung des ostdeutschen Raumes setzt sich aus mehreren Aspekten zusammen. Ein wichtiges Denkmuster, das in der Schilderung des europäischen Ostens wiederholt auftaucht, ist die anziehende Kraft seiner idyllischen Landschaften. Mit seinen Beschreibungen konstruiert der Autor die DDR zu einem vitalen, sommerlichen Raum, der sich in den tradierten Mythos des östlichen Paradieses einschreibt. Gleichzeitig lenkt er das Augenmerk des Lesers auf die historischen Ereignisse, infolge deren sich der idyllische Osten zum Schauplatz des Krieges und zum Sitz eines totalitären Regimes umwandelte. Um diese These zu stützen, wird in einer bildhaften Szene voller apokalyptischer Anspielungen die Parade der Roten Armee in Potsdam entworfen: „Panzer rasselten, Kanonen auf Lafetten, Lastwagen dröhnten und warfen Hitze ab.“ (FH, S. 20) Der Durchmarsch der sowjetischen Soldaten wird von dem Autor zum Symbol der Beherrschung des deutschen Territoriums durch eine Terrormacht stilisiert: „Es war alles erstarrt auf Potsdams Hauptstraße. (...) Alles stand stramm, Habtacht-Haltung einer Stadt. Große Unterwerfung:

die Macht, das Licht aus dem Osten. Es dröhnten die eisernen Ketten über Preußens Asphalt. Sie sagten im Dröhnen: Das hier ist Rußlands Deutschland.“ (FH, S. 21)

Ähnlich wie die JournalistenInnen vermittelt Krügers Reiseessay die Andersartigkeit des in der DDR herrschenden politisch-wirtschaftlichen Systems. Negativ berichtet er über zahlreiche Polizeikontrollen, eingeschränkte Reisefreiheit, Missachtung der Menschen- und Bürgerrechte sowie Personenkult der Partei. Wie in anderen Texten, die eine Reise in die sozialistischen Staaten thematisieren, werden von Krüger große Defizite im Bereich der Dienstleistungen festgestellt. Der Erzähler ist sich dessen bewusst, dass er in seinem Reiseessay auf viele der bereits tradierten Denkmuster unkritisch zurückgreift, aber dieses literarische Verfahren rechtfertigt er mit der Beobachtung, dass wegen der provisorischen Lösungen in vielen Lebensbereichen „die große Idee des Sozialismus, die Idee, etwas Neues aufbauen zu wollen“ nicht standhalten kann.

Nicht zuletzt wird in Krügers Text die Meinung geäußert, dass das politische System die Mentalität der Gesellschaft nachhaltig prägte. Der Erzähler konstatiert, dass in der Bevölkerung „die Potenz, der Pfiff, der Witz“ fehlen und „die einfachen Leute (...) ganz brav, ganz still, fast untertänig“ geworden seien. Trotz der zum Ausdruck gebrachten gegenseitigen Entfremdung der Ost- und Westdeutschen stellt er allerdings zum Schluss die These auf, dass das kollektive Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Nation viel tiefer verankert sei, als man allgemein glaubt. Diese Ansicht vermittelt er durch die Schilderung einer Szene, in der ein ostdeutsche Junge, der im Radio übertragenes Fußballspiel Bayern gegen Madrid hört, laut über ein „Tor für uns“ jubelt. Dies veranlasst den Autor zur Mahnung, sich von der oberflächlichen Entfremdung nicht täuschen zu lassen, denn „so leicht kann man nicht auseinanderhauen, was schließlich historisch gewachsen ist über Jahrhunderte: Deutschland.“ (FH, S. 43)

Allen westdeutschen AutorInnen, die eine Reise in die DDR beschreiben, ist gemeinsam, dass sie ihr Bemühen um eine ausdifferenzierte und möglichst objektive Stellungnahme zum Ausdruck bringen.

Ersichtlich wird es am Beispiel von Theo Sommer, der konstatiert: „Es ist in der Tat vieles in der DDR

416 Krüger [1978]. Weiter im Text mit Sigel FH und Seitenangaben.

und an der DDR nur halb so schlimm, wie ich mir das immer vorgestellt habe. Manches jedoch ist auch doppelt so schlimm. Auf jeden Fall aber ist das Bild verzerrt, das wir von dem Deutschland jenseits der Elbe haben.“ (R, S. 95) Viele AutorInnen rufen dazu auf, im Namen des Humanismus mehr Interesse und Engagement für die ostdeutsche Bevölkerung aufzubringen. Dieses Postulat wird mit den dauerhaften historischen Bindungen begründet, die viel tiefer verankert seien, als man es in Westdeutschland wahrhaben wolle. Inwieweit aber diese Texte in der BRD-Bevölkerung rezipiert wurden und ihre Wahrnehmung der DDR beeinflussen konnten, kann aus der heutigen Perspektive nicht mehr nachgeforscht werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass ihre Wirkungskraft im Vergleich zu den politischen Parolen als sehr gering eingeschätzt werden muss. In der Alltagsrealität wurden sich in der Zeit der Teilung die ost- und westdeutschen Gesellschaften zunehmend fremd, wovon die von Irmgard Scheitler zitierten statistischen Angaben zeugen mögen: „Schon 1971 waren die meisten Deutschen (65%) davon überzeugt, dass sich die Bürger der DDR und der BRD auseinander gelebt hatten. Die Wiedervereinigung wurde 1965 noch von 45% der westdeutschen Bevölkerung als wichtigstes politisches Thema eingestuft, 1970 nur mehr von 12%, 1978 nur mehr von 1% der Bevölkerung.“417

Während die erste Phase der politischen Neuordnung nach den Ereignissen des Jahres 1989 von einem beispiellosen Vereinigungsenthusiasmus begleitet wurde, wich bald die Freude über den Einigungsbeschluss zahlreichen Befürchtungen über seine finanziellen Konsequenzen und der ernüchternden Erkenntnis, dass viele kulturelle Unterschiede zwischen Ost und West nicht so leicht zu überbrücken sind, wie man anfangs angenommen hatte. Zum spannenden Forschungsfeld für viele deutsche und ausländische PolitologenInnen und SozialwissenschaftlerInnen wurde die Fragestellung, wie sich nach der deutschen Wiedervereinigung das gegenseitige Verhältnis der Ost- und Westdeutschen zueinander entwickelte. Aufgrund der Tatsache, dass das Leben der Ost- und Westdeutschen durch unterschiedliche Werte und Praktiken bestimmt war, ließen sich häufig Kommunikationsprobleme beobachten. Dank der neuen Reisefreiheit erhielten viele Westdeutsche zum ersten Mal die Möglichkeit, in einen direkten Kontakt mit der ostdeutschen Bevölkerung zu kommen. Die Erwartung, dass im Prozess der Begegnung und Erfahrung Klischees abgebaut werden würden, hat sich im Falle der ost- und westdeutschen Bevölkerung nicht bestätigt. Im Gegenteil – viele WissenschaftlerInnen konstatieren, dass durch den direkten Kontakt viele neue negative Wahrnehmungsmuster erst entstanden sind. Die BRD-Bürger, die von den Ostdeutschen aus der Perspektive ihres Wohlstands wahrgenommen wurden, erhielten die Attribute der „kaltblütigen Betrüger“ und „ständigen Besserwisser.“ Die Herausbildung der negativen Wahrnehmungsmuster hatte ihre Ursache u. a. im oft misslungenen Prozess der Übernahme der ehemals staatlichen DDR-Unternehmen von den westdeutschen Konzernen, die sie nicht wie erhofft sanierten, sondern absichtlich in den Bankrott trieben.418 Als 1995 die Treuhand-Schulden in den sog.

Erblastentilgungsfonds überführt wurden, demonstrierte die Bezeichnung den Westdeutschen, dass sie für die Uneffizienz des sozialistischen Systems mitbezahlen müssten.419 Der gegenseitigen Annäherung stand das genauso im Weg, wie das Gefühl der Ostdeutschen, von den Westdeutschen permanent belehrt zu werden.

417 Scheitler [2001]: S. 325.

418 Schildt, Siegfried [2009]: S. 475.

419 Ebd.

Unter diesen Umständen avancierte der Begriff „die Mauer im Kopf“ zum terminus technicus, der die gegenseitigen Beziehungen charakterisierte. Axel Schildt und Detlef Siegfried konstatieren: „Die Ostdeutschen erhielten (...) Anfang der 90er Jahre ihren Platz als >>die neuen Ostfriesen, als prämoderne Witzfiguren der Westdeutschen<<. Die >>Ossis<< wiederum wehrten sich gegen die

Unter diesen Umständen avancierte der Begriff „die Mauer im Kopf“ zum terminus technicus, der die gegenseitigen Beziehungen charakterisierte. Axel Schildt und Detlef Siegfried konstatieren: „Die Ostdeutschen erhielten (...) Anfang der 90er Jahre ihren Platz als >>die neuen Ostfriesen, als prämoderne Witzfiguren der Westdeutschen<<. Die >>Ossis<< wiederum wehrten sich gegen die

Im Dokument Nicht anders als anderswo (Seite 141-149)

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