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Motiv XI: Überidentifikation

Im Dokument Kino im Kopf - "Kopf" im Kino (Seite 80-83)

B: Hauptprogramm: Triple Feature

1.2. Kino der Identität, geordnet nach Motiven

1.2.11. Motiv XI: Überidentifikation

1.2.11.0. Beschreibung

Eine Person identifiziert sich in einem solchen Ausmaß mit einer anderen Person, daß sie sich schließlich (zumindest psychisch) in das Identifikationsobjekt verwandelt.

1.2.11.1. Filmbeispiel: Der Mieter

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Trelkovsky (Roman Polanski), ein kleiner Angestellter "mit dem Charakter eines feuchten Händedrucks"176, befindet sich im Paris der 70er Jahre - gezwungenermaßen - auf Wohnungssuche. Als "Glücksfall" erweist sich für ihn der Selbstmordversuch einer gewissen Simone Choule: Wohnungseigentümer Zy erklärt sich bereit, Trelkovsky in deren Todesfall ihr kleines Zweizimmerappartement in einem großen Mietshaus zu überlassen. Bei einem Besuch im Krankenhaus kommt der Mieter in spe gerade noch rechtzeitig um zu erleben, wie Choule mit einem markerschütternden Schrei ihr Leben aushaucht.

in diesem Kontext auch das Plädoyer für das männliche Glied, Montaignes klassisches Essay über die Ungebärdigkeit und den vermeintlichen oder tatsächlichen Eigenwillen der Körperpartie n.

175 Originaltitel: Le Locataire (USA, F 1976. Regie: Roman Polansk i), nach dem Roman Le Locataire chimérique von Roland Topor. Weitere Filmbeispiele für dieses Motiv: The Fan (O.: The Fan). USA 1998. R.:

Tony Scott: der Handelsvertreter Gil Renard (Robert De Niro) ist von dem Baseballstar Bobby Rayburn (Wesley Snipes) regelrecht besessen; I am You - Mörderische Sehnsucht (O.: How to change in 9 week s). AUS 2009. R.:

Simone North: die unscheinbare Caroline (Ruth Bradley) entwickelt eine Obsession bezüglich ihrer schönen und beliebten Schwester Rachel (Kate Bell).

176 Jay Cock s im Time Magazine, zitiert nach: Topor, Rückumschlagstext.

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Trelkovskys neues Mietverhältnis steht allerdings von Anfang an unter keinem guten Stern: schon mit seiner Einweihungsparty bringt er seine lärmempfindlichen Nachbarn gegen sich auf, welche daraufhin eine Sammelbeschwerde gegen ihn einreichen. Auch sonst kann er in seiner neuen Umgebung nicht recht Fuß fassen, die Hausbewohner scheinen ihn wie einen Außenseiter zu behandeln. Obendrein entfremdet er sich durch sein anbiederndes Verhalten den neuen Nachbarn gegenüber von seinen alten Freunden. Auch wird seine Wohnung durchwühlt, außer Erinnerungsstücken fehlt aber nichts Wertvolles.

In dieser unbequemen Situation macht Trelkovsky nach und nach verstörende Entdeckungen: er findet einen Zahn seiner Vormieterin in einem Loch in der Wand; durch das Toilettenfenster, welches seiner Wohnung gegenüberliegt, beobachtet er ein eigenartig zombiehaftes Verhalten seiner Mitbewohner; und schließlich scheint er mehr und mehr die Gewohnheiten Simone Choules anzunehmen, worin er von seiner Umgebung scheinbar (?) auch noch bestärkt wird: er liest ihre Bücher, der Kellner im Cafe vis á vis serviert ihm Choules Frühstücksauswahl und ihre Zigarettenmarke. Immer mehr verfällt Trelkovsky der Vorstellung, seine Nachbarn wollten ihn in Simone Choule verwandeln, um ihn damit in den Selbstmord treiben!

Diese idée fixe nimmt immer groteskere Formen an: er legt Choules Schminke auf und trägt Frauenkleider und Perücke; er entdeckt, daß ihm plötzlich ein Zahn fehlt und der gefundene Zahn perfekt in die Lücke paßt. Durch das Toilettenfenster beobachtet er, wie die Selbstmörderin ihr entstelltes Gesicht aus den Bandagen wickelt.

Am Ende seiner Nervenkraft stürzt sich Trelkovsky - in Frauenkleidern - aus demselben Fenster wie die Vormieterin; den Schluß des Filmes bildet eine bizarre Zeitschleife: die Szene mit dem Todesschrei im Krankenhaus wiederholt sich, aber diesmal scheint es Trelkovsky zu sein, der sich offenbar endgültig in Simone Choule verwandelt hat177.

Selbstverständnis und Visualisierung von Identität in Der Mieter

Polanskis Le Locataire bildet den zweiten Teil seiner sogenannten "Mieter-Trilogie". Ebenso

177 Im Roman scheint der schreckliche Schrei Resultat der Erkenntnis Trelkovskys zu sein, daß er in dem sterbenden Körper von Choule gefangen ist und ihm möglicherweise eine endlose Reihe von alptraumhaften Déja Vus bevorsteht (vgl. Topor, S. 151 - 153). Der Film läßt auch noch eine andere Interpretation zu: eine Person namens "Trelkovsky" hat möglicherweise nie existiert un d ist nur Resultat eines ausgedehnten

"Todestraums", ähnlich wie bei Ambrose Bierces An Occurence at Owl Creek Bridge.

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wie Ekel und Rosemary´s Baby ist Der Mieter einerseits eine Studie paranoider Schizophrenie, andererseits eine beißende Kritik (urbanen) Konformisierungswahns.

Trelkovskys Problem, wenn man so will, ist seine eagerness to please: allzu bereitwillig paßt er sich den anmaßenden Wünschen des Hausherren und seiner Nachbarn an.

Nach der lärmenden Einzugsparty entfremdet er sich lieber seinen alten Freunden, als gegenüber den Mitbewohnern weiterhin als Querulant aufzufallen.

Seine letztendliche Unfähigkeit, sich mit der Masse zu assimilieren, stürzt ihn ins Unglück:

"Von welchem Augenblick an, fragte sich Trekovsky, besteht das Individuum als solches nicht mehr? Mir wird ein Arm amputiert, gut. Ich sage: ich und mein Arm. [...] Man haut mir den Kopf ab: was soll ich sagen? Ich und mein Körper oder ich und mein Kopf? [...] Aber es gibt Larven, Würmer und wa s weiß ich, die kein Gehirn haben. Gibt es für diese Wesen also irgendwo Gehirne, die sagen: ich und meine Würmer?"178

Diese Überlegungen Trelkovskys scheinen den drohenden Zerfall seiner Persönlichkeit schon vorwegzunehmen. Daß er sich schließlich in die Vormieterin

"verwandelt", hat natürlich nichts damit zu tun, daß die Person Simone Choule irgend eine besondere Attraktivität besäße, die zu imitieren er sich bemüht. Trelkovsky ist kein Fan, der sich in überzogener Weise an sein Idol anzugleichen sucht.

Es ist vielmehr die Rolle Choules, welche er auszufüllen wünscht: die Rolle einer Person, welche, allerdings nur vermeintlich, ein integrierter Teil ihrer Umgebung war. Diesen Status versucht er durch seinen auch visuell augenfälligen (Frauenkleider!) und somit sehr filmtauglichen Persönlichkeitswandel zu erreichen. "Stück für Stück war er von den Nachbarn ausgelöscht, ausradiert worden. Was sie anstelle ehemaligen Person entstehen ließen, war die geisterhafte Silhouette von Simone Choule."179

Trelkovsky ist allerdings ein nur allzu williger Komplize dieser Verwandlung; er verwendet wenig Mühe darauf, die Grenzen seines Ich deutlich zu ziehen, er ist ein wortwörtlich farbloser Charakter, ja, er ist nicht einmal individuell genug für einen Vornamen. Noch einmal Roland Topor: "Was war er, nur er? Was unterschied ihn von den anderen?

Was zeichnete ihn aus, welches Etikett? Was erlaubte ihm zu sagen ´Das bin ich´ oder ´Das bin ich nicht´? Er konnte lange suchen, er wußte es nicht. Er dachte an seine Kindheit zurück. An die erhaltenen Ohrfeigen, auch an die Ideen, doch er fand daran nichts Originelles."180

Daß am Schluß der Verwandlung der Selbstmord steht, ist natürlich äußerst konsequent:

178 Topor S. 51 f., paraphrasiert auch in der Filmfassung.

179 ibid., S. 112.

180 ibid.

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Trelkovskys "Tod" ist der endgültige Tod seiner Individualität, welche er der Masse geopfert hat.

Obwohl mehr Horrorfilm als Thriller und stilistisch nicht unbedingt ein Film Noir, hat Der Mieter dennoch viel mit dieser Gattung gemeinsam: insbesondere was die

"existenzialistische" Situation des Hauptprotagonisten betrifft: er ist gefangen in einer unzugänglichen, ja absurden Welt, seine Individualität ist ständig bedroht von der Masse, den Anderen, hier verkörpert durch Trelkovskys als Unmenschen imaginierte (?) Nachbarn, die alles andere als "Nächste" sind181.

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