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Lebendiger Spiegel... oder Dunkle r Sch irm?

Im Dokument Kino im Kopf - "Kopf" im Kino (Seite 176-179)

Film 2: "Negativbilder"

3. Film 3: Die Ka mera Gottes

3.6. Lebendiger Spiegel... oder Dunkle r Sch irm?

Ein wenig wie bei Hitchcocks Stage Fright wurde auch in dieser Arbeit bisher mit gezinkten Karten gespielt: immer wieder ist die Frage von Philip K. Dicks Romanfigur Bob Arctor, ob die Kamera in uns hineinsehen könne, als Ausgangspunkt genommen worden für Betrachtungen über die Bezüge zwischen personaler Identität und Kinofilm. Dabei interessiert sich Arctor allerdings überhaupt nicht für Kino und Spielfilm. Die Kamera, an welche er seine Frage richtet, ist eine Überwachungskamera.

Und was sagt eine Überwachungskamera über ihn - über uns - aus?

Zunächst einmal scheint dieses Instrument nicht die beste Wahl, wenn man mehr über sich zu erfahren wünscht. Überwachungskameras, so wie sie in Der dunkle Schirm erscheinen, tun ihr Werk entweder offen oder verdeckt.

Operieren sie offen, so soll ihre bloße Präsenz schon unerwünschte Handlungen unterbinden399.

Installiert man sie verdeckt, so spionieren sie Personen aus, welche sich durch ihr Nicht-Wissen um die Beobachtung im Nachteil befinden.

Dieser Nachteil ist allerdings bei jedem Überwachungsgerät serienmäßig eingebaut: es spaltet automatisch in zwei Lager: den Beobachter - den Beobachteten; den Wächter - und den Überwachten; den Aktiven und Überlegenen - den Passiven und Ausgelieferten. Hier ergibt sich schon automatisch eine Hierarchie und eine negative Distanzierung.

Wenn Polizeioffizier "Fred" sein Alter Ego Bob Arctor ausspäht, um mehr über "sich", über sein als authentisch angenommenes Ich, zu erfahren, so wird er mit Sicherheit Opfer seiner déformation professionelle: Zu welchem Zweck benutzt er in seiner Tätigkeit Überwachungskameras? Um Verbrecher, Schuldige oder zumindest Verdächtige zu beobachten, um Anhaltspunkte über verbotenes Tun zu sammeln. Wie wahrscheinlich ist es, daß er Bob Arctors Handlungen völlig unvoreingenommen beurteilt?

Selbst wenn man diese Unvoreingenommenheit voraussetzen könnte, scheint es unwahrscheinlich, daß der Beobachter sich mit der Person auf dem Überwachungsmonitor bruchlos identifizieren könnte. Sehr viel plausibler erscheint, daß sich ein befremdliches Gefühl einstellen wird, ähnlich wie wenn man die eigene Stimme als Tonbandaufzeichnung

399 Eine Art Heisenberg´sche Unschärferelation auf Makroebene: der Beobachter verändert direkt das Verhalten des Beobachteten - wenn auch hier in erwünschter Weise.

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hört400.

All dieses Gerede von Befremdlichkeiten stellt allerdings noch lang kein Argument gegen den Nutzen der Überwachungskamera als Mittel zur Selbsterforschung dar, insbesondere wenn man Gewöhnungseffekte einkalkuliert - für Schauspieler und Sänger etwa ist das Arbeiten an und mit der aufgezeichneten Stimme eine Selbstverständlichkeit.

Immerhin könnte man sich mit der Kamera auf behavioristische Weise erforschen.

Wenn die eigenen Gedanken keinen Sinn machen, vielleicht tun es die Handlungen?

Möglicherweise ist aus der Summe des objektiv beobachtbaren Tuns abzuleiten, was „mich“

letztendlich ausmacht, was gewissermaßen ungeachtet des Datenmülls im Bewußtsein als letzte Konsequenz, unter dem Strich, übrigbleibt. Wenn ich in der Gesamtheit meines Tuns ein stringentes Muster ausmachen kann, habe ich dann meinen Wesenskern erkannt?

Ob diese spezielle Erkenntnis im Falle Bob Arctors von Nutzen wäre? Was „erkennt“

er, wenn die Summe seines Handelns nichts ist als immer weiter zerfallende Dialoge mit den anderen Junkies? Die Kamera hat vielleicht nicht die Vorgeschichte aufgezeichnet, die zu dieser Situation geführt hat. Im Auge der Kamera hat er sich für das Leben eines Drogensüchtigen entschieden; unsichtbar bleibt jedoch, daß sein Zustand auch, oder sogar in höherem Maße, das Resultat von zahllosen Entscheidungen gegen bestimmte Umstände (bürgerliche Konformität, staatliche Kontrolle, Militärdienst o.ä) ist, welche alle nicht im Bild erscheinen; daß diese Entscheidungen durch emotionale Dispositionen und ethische Grundsätze, ob nun bewußt oder unbewußt, motiviert wurden, erschließt sich nicht durch die Bandaufzeichnung. Wenn Arctor sein Leben im Spiegel der Videoüberwachung studiert, bleibt ihm nur ein Bild des Jammers, ein Negativbild seiner selbst401. Daß sein unerfreulicher Zustand auch Resultat von ethisch richtigen Entscheidungen war, deren gesellschaftliche Konsequenzen er nicht absehen konnte, bleibt verborgen402.

400 Man könnte sagen, daß auch die Außenperspektive (bei heimlicher Beobachtung) eine Art „privileged access“ darstellt, in dem Sinne, daß diese Perspektive für einen selbst normalerweis e nicht zugänglich ist. Da man nur die vom Bewußtsein "kommentierte" Innenperspektive kennt, muß der Anblick des aufgezeichneten physischen Selbst in der Tat befremden. Der Aufzeichnung fehlt die begleitende Innensicht, sie wirkt wie amputiert, regelrecht wie ein "Zombie" im Sinne von David Chalmers.

401 Möglicherweise konnte er nichts besseres erwarten. Marshall McLuhan gibt eine sehr negative Einschätzung der menschlichen Natur ab, indem er befürchtet, daß dem Betrachter bei ungefilterter Wiedergabe eine Art Medusenhaupt aus dem Spiegel entgegenblicken könnte: "Nicht Replik, sondern Repräsentation -Nachbild. Und genau dieses geschieht, wenn wir unsere körperlichen und psychologischen Funktionen in die Außenwelt spiegeln. Wir ´amputieren´ sie, weil wir es nicht ertragen, ein so unheilvoll realistisches Playback unseres Selbst anzustarren. Es ist in einem gewissen Maße die Funktion der Kunst, eine erträgliche Distanz zu schaffen."

McLuhan 1968, S. 120 f..

402 Wenn André Bazin davon spricht, daß der Film letztendlich aus der Drang zur Mumifikation, zur Erhaltung,

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Was die Gesamtheit seiner Person, und somit die Kernfrage der Identität betrifft, bleibt der Schirm hier in der Tat dunkel, und zwar ganz ungeachtet der Tatsache, daß die Kamera nicht zur direkten Aufnahme von emotionalen Dispositionen und inneren Haltungen tauglich ist.

Er bleibt dunkel, weil Arctor nicht für sich allein lebt; zu viele seiner Handlungen oder Nicht-Handlungen haben Konsequenzen, die das starre, auf ihn fokussierte Kameraauge nicht erfaßt, die sich, filmisch gesprochen, im "Off" abspielen. Wenn diese Konsequenzen dann sichtbar auf ihn zurückschlagen, ist nicht mehr nachvollziehbar, was sie bewirkt hat. Der Komplexität der Welt wird die Überwachungskamera nicht gerecht, ein "Erkenne Dich selbst" kann sie schon aus diesem Grunde nicht leisten.

Damit muß man die Kamera als solche aber noch nicht zum epistemologischen Sperrmüll geben. Als philosophisches "Meßinstrument" scheint ihr Wert paradoxerweise größer, wenn sie nicht veristisch wie ein Überwachungsgerät strikt fixierte Bereiche der visuellen Realität aufzeichnet. Es muß vielmehr jenes Element hinzutreten, welches William Rothman mit angemessenem Doppelsinn das " ´ I ´ of the Camera"403 nennt. Obwohl Rothman hier in erster Linie auf den Spielfilm als individuellen Ausdruck der Person des Regisseurs abhebt404, kann dieses Bild in einem noch weit umgreifenderen Sinne gebraucht werden: zu einem lebendigen Spiegel405 menschlicher Existenz kann Film nur als Spiel-Film werden, indem er einen eigenen, kontrollierten Mikrokosmos - eine "Monade" um das Ich des Protagonisten herum erschafft. Alle Aspekte eines Filmes beziehen sich letztendlich auf dieses Ich. Das Chaos der Sinneseindrücke wird überführt in den Kosmos des Films, wie Hugo Münsterberg es ausdrückt406.

Erst durch diese Analogie der inneren Anordnung wird der Mikrokosmos des Films

hervorgegangen ist, so erweist sich diese Aussage möglicherweise noch auf einer ganz anderen Ebene als wahr:

wenn Film lediglich dazu benutzt wird, um "Realität" aufzuzeichnen (wie bei der Überwac hungskamera), so mumifiziert er tatsächlich: er hält all das fest, was aus dem Reich der lebendigen Möglichkeiten - die unsichtbar bleiben müssen - sich aktualisiert hat und somit erstarrt ist.

403 William Rothman: The "I" of the camera. Essasys in Film Criticism, History, and Aesthetics. New York und Melbourne 1988.

404 Kino ist unbestreitbar ein visuell gewordener Synergieeffekt, das Zusammentreffen der individuellen Bemühungen zahlreicher Individuen: Produzenten, Drehbuchautoren, Schauspieler, Kameraleute, Beleuchter, Cutter etc...; wie Rothman allerdings deutlich am Beispiel Alfred Hitchcocks herausarbeitet, kontrolliert der Regisseur genügend Aspekte seines Oeuvres, daß im fertigen Produkt seine individuelle Handschrift erkennbar bleibt (Hitchcock gilt zwar als dezidierter "Autorenfilmer", dennoch scheint diese These auch für die Masse der Auftragsregisseure haltbar).

405 Für eine andere, von Jaques Lacan und der Psychoanalyse inspirierte Interpretation des Films als Spiegel vgl.

Früchtl S. 225 bis 234.

406 vgl. hierzu Stam 2000, S.30.

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transparent und Identifikation kann gelingen. Der Zuschauer projiziert sich in den ephemeren Körper, den Zelluloid und Licht für ihn kreieren. Für kurze Zeit erschafft er sich in diesem Mikrokosmos neu.

Um dies noch einmal mit Leibniz und dem Konzept der Monaden zu parallelisieren: wenn jede Monade einen lebendigen Spiegel darstellt, welcher eine ganz bestimmte Perspektive auf die Schöpfung aufzeigt, so erlauben, in bescheidener Weise, die "Film-Monaden" dem Zuschauer, einmal den Blickwinkel Gottes einzunehmen: er hat die Möglichkeit, die Schöpfung in zahllosen Facetten wahrzunehmen, sich ein Panoptikum auf Wirklichkeit und Möglichkeit zu eröffnen, das seine Beschränkung, ein Einzelner zu sein, aufhebt407.

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