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Motiv IX: Biographischer Bruch

Im Dokument Kino im Kopf - "Kopf" im Kino (Seite 63-70)

B: Hauptprogramm: Triple Feature

1.2. Kino der Identität, geordnet nach Motiven

1.2.9. Motiv IX: Biographischer Bruch

1.2.9.0. Beschreibung

Ein einschneidendes Ereignis bewirkt die Zerstörung der ursprünglichen Persönlichkeit, welche durch eine völlig anders geartete ersetzt wird135, es liegt also ein Fall von Diskontinuität der psychischen Identität vor.

1.2.9.1. Filmbeispiel (1): Number 23

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Inhalt: Dank eines handgetippten Romanfragments aus einem Buchantiquariat ist Hundefänger Walter Sparrow (Jim Carrey) sich sicher, den großen Geheimnissen der Menschheit auf der Spur zu sein: das Manuskript „The Number 23“ handelt von einem Police

133 Hier stellt sich evtl. noch eine hypothetische Frage: hätten Troy oder Archer in irgend einer Weise Selbstmord begangen, wenn sie die Körperhülle töten, mit der sie sich selbst identifizieren und mittels der sie von anderen identifiziert werden?

134 Dieser Satz läßt natürlich auch andere interpretatorische Möglichkeiten anklingen. So gemahnt diese Szene, in der sich Troy und Archer als „lebende Spiegel“ gegenüberstehen, auch an jene Auffassung des Körpers als Spiegelbild der Seele, bzw. die Vorstellung des Spiegelbildes (oder etwa auch der Fotografie) als Abbildung nicht des Körpers, sondern der Seele (vgl. hierzu auch McNeill, S.158 f.). In gewisser Weise charakterisiert sich darin auch die Kardinalfrage dieser Arbeit: kann der Film die Seele (oder, wenn man so will: den Wesenskern, die Essenz) des Menschen einfangen oder doch nur sein Äußeres?

135 Während beim Motiv der Amnesie lediglich das Gedächtnis betroffen ist, die Persönlichkeit in ihren Grundlinien aber dieselbe bleibt.

136 Originaltitel: The Number 23. USA 2007. Regie: Joel Schumacher.

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Detective, der zunehmenden in den Bann der Zahl „23“ gerät - eine Zahl, die in Bezug zu jedem wichtigen (tragischen) Ereignis in der Geschichte steht137! So verfällt auch Sparrow langsam der „23“, insbesondere, da er deutliche Parallelen im Leben der Romanfigur mit seiner eigenen Existenz zu erkennen meint. Mit jedem Kapitel, das er liest, entfremdet er sich immer mehr seiner Familie, bis Erinnerung, literarische Fiktion und Wahnvorstellung kaum mehr auseinanderzuhalten sind. Trotz Sparrows galoppierender Paranoia haben Frau und Sohn ihn jedoch noch nicht aufgegeben. So entdecken sie auf der letzten Seite des Manuskripts einen Hinweis auf den Verfasser „Toppsy Crets“, der sich als (ebenfalls paranoider) Psychiater „Sirius Leary“ entpuppt, welcher dann prompt vor den Augen der Familie Selbstmord begeht. In den Hinterlassenschaften des Psychiaters findet Walters Frau Agatha den Schlüssel zu „Number 23“: die Ereignisse in dem Manuskript wirken auf Walter deshalb so vertraut, weil er es „selbst“ verfasst hat! Präziser gesagt: eine ganz andere Person als der unbedarfte und liebevolle Familienvater, der Sparrow vor dem Fund des Manuskripts gewesen ist. Der „ursprüngliche“ Walter Sparrow war ein durch den frühen Tod seiner Eltern höchst verstörter Jugendlicher, der seine Kindheit in Erziehungsheimen verbracht hat. Als Student schließlich tötete er seine Ex-Freundin, von der er sich betrogen fühlte, ein Verbrechen, das damals einem Unschuldigen angelastet wurde. Sparrow versuchte, sich seine Schuld von der Seele zu schreiben, in verfremdeter Form als Thriller „Number 23“. Da sich die erhoffte Entlastung aber nicht einstellte, beging Sparrow einen Selbstmordversuch, der ihn mit Schädeltrauma und Gedächtnisverlust in eine psychiatrische Anstalt brachte. Dort konstruierte man eine völlig andere Persönlichkeit, die mit dem ursprünglichen Sparrow nichts mehr gemein hatte außer verschütteten Erinnerungen, die erst das Manuskript wieder ans Tageslicht brachte (wobei Leary offensichtlich über der Behandlung selbst verrückt wurde und das Manuskript zu „Number 23“ vervollständigte).

137Dies funktioniert natürlich ebenso für jede andere Zahl, wenn man nur lange genug nach dem Prinzip der freien Assoziation addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert, so wie es hier vorgeführt wird. Das es in diesem Film ausgerechnet die Zahl „23“ ist, welcher eine derart mystische Bedeutung zugeschrieben wird, ist wohl kein Zufall sondern ein einen wohlgezielter Seitenhieb auf die Verschwörungstheoretiker-Mythologie um die Illuminaten, populär gemacht durch die immer wieder vom Buchhandel neu aufgelegte „Illuminatus!“ -Trilogie von Robert Anton Wilson aus den 1960er Jahren und durch den Hype um Dan Browns Roman

„Illuminati“. Leider wird auch außerhalb der literarischen Fiktion die bis ins Groteske aufgeblähte Macht von Adam Weishaupts Ingolstädter Studentenverein und die Symbolkraft der „23“ von wirren Geistern immer n och für bare Münze genommen, wie zahlreiche Internetseiten zu diesem Thema belegen (vgl. hierzu auch die Einträge „Illuminaten„ und „23„ in Wilson S. 219 respektive S. 141 - 143). Konsequenterweise erweist sich das Mysterium der „23“ in Joel Schuhmachers Film als das, was es letztendlich ist: als reine paranoide Phantasie, ein filmischer McGuffin , um den Zuschauer auf eine falsche Fährte zu locken und für die eigentliche Auflösung letztendlich ohne Belang.

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Obwohl der „neue“ Walter eigentlich keinen echten (psychischen) Bezug zu dem Verbrechen seines „Vorläufers“ hat, stellt er sich selbst, um den unschuldig Inhaftierten zu entlasten. Trotz der langen Gefängnisstrafe, die möglicherweise auf ihn wartet, zeigt die Kamera am Schluß einen gelassenen, wie erlöst wirkenden Walter Sparrow.

Adäquaterweise endet der Film mit einer Texttafel, Numeri 32, 23: „Wisset, daß eure Sünde auf euch zurückfallen wird.“

Selbstverständnis und visuelle Darstellung von Identität in Number 23

Im Gegensatz zu den „Amnesie“ - Filmen, bei denen Gedächtnisverlust zumeist nur als Anstoß für eine gängige Thrillerhandlung dient und die Helden auch ohne Kenntnis ihres Vorlebens gut zurechtzukommen scheinen, handelt es sich hier aus philosophischer Sicht um einen ganz anderen Sachverhalt: Number 23 erzählt offensichtlich von einem echten Bruch der personalen Identität: Walter Sparrow ist im Lock´schen Sinne noch derselbe Mensch, doch möglicherweise nicht dieselbe Person in diesem Körper. Weiter auf dieser Schiene argumentierend könnte man sagen, daß die ursprüngliche Person tatsächlich bei dem Selbstmordversuch ums Leben gekommen ist. Eine offensichtliche Kontinuität existiert weder im Charakter (der verstörte Jugendliche hat kaum Berührungspunkte mit dem liebevollen und ausgeglichenen Familienvater), noch in der Erinnerung (ohne das Manuskript hätte Walter wohl nie von seinem „ersten Leben“ erfahren; Hundefänger-Sparrow erinnert sich an eine ereignislose Kindheit auf dem Lande, den verdrängten Selbstmord hat er in seiner Erinnerung auf eine Nachbarin übertragen). So gesehen scheint es geradezu kontraintuitiv, wenn er sich am Schluß selbst beschuldigt und mit der Tat eines anderen identifiziert. Man könnte sagen, anstelle des einen Unschuldigen kommt nun lediglich ein weiterer hinter Gitter.

Die Logik dieser Handlung erschließt sich erst aus einer substanzdualistischen, präziser gesagt aus der christlichen Perspektive. Die Legitimation dieser Sichtweise liefert der Film selbst durch den abschließenden Bibelverweis. Man könnte einwenden, dass es sich hierbei um bloße „postmoderne“ Attitüde handelt: wenn Kapitel 32 Vers 23 im Buch Numeri (!) einen guten, zur Handlung passenden Spruch liefert, warum nicht?138 Diesen Einwand kann

138 Face/Off etwa quillt geradezu über vor christlicher Ikonographie und Symbolik: Kreuzigungsposen, Schwärme weißer Tauben, Heiligenbilder, der Showdown findet in einer katholischen Kirche statt. Trotzdem haben diese Stilelemente nur Versatzstückcharakter oder bestenfalls rein ästhetischen Wert - sie stehen in keinem nennenswerten Zusammenhang mit dem Selbstverständnis dieses Films.

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„Verantwortung“ liefert das Stichwort für eine zweite philosophische Quelle, welche der Film preisgibt. Wenn Walter darüber nachsinnt „…dass es im Grunde nur eine philosophische Frage gibt: ob man Selbstmord begehe oder nicht.“, so paraphrasiert er ganz offensichtlich Camus140. Christentum und Existentialismus weisen in diesem Punkt - menschliche Freiheit und die daraus resultierende Verantwortung für das eigene Handeln - allerdings ohnehin deutliche Berührungspunkte auf.141.

Die Frage nach Freiheit, Determinismus und den Folgen für die menschliche Identität spiegelt sich auch ganz bewußt in der visuellen Umsetzung wider. So werden Sparrows als Romanhandlung verfremdete Erinnerungen dem Zuschauer in Dekor und Stil der Schwarzen Serie vorgeführt, mit geradezu hyperbolischen Hell-Dunkel-Kontrasten142. Dies ist insofern bedeutsam, als in der Filmtheorie der uhrwerkhafte Determinismus, mit dem die Protagonisten auf ihr Verderben zusteuern, als eines der zentralen Gattungsmerkmale des Film Noir gilt143.

139 Es bleibt der Einwand, dass Sparrow natürlich immer noch dasselbe Gehirn hat und daß sein Persönlichkeitswandel Folge einer Gehirnschädigung in Folge seines Selbstmordversuchs war. Wohlgemerkt:

die Argumentation zielt in diesem Stadium auf das Selbstverständnis des Films und die dazu verwendeten Darstellungsmittel ab. Number 23 liefert aber keine Hinweise, die in irgendeiner Form auf eine biologistische Sichtweise hindeuten, ganz zu schweigen davon, daß Sünde keinen Platz im materialistischen Wörterbuch hat.

140 "Es gibt nur ein wirkliches ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.“ Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Hamburg 2000, S.9. Vgl. hierzu auch: Christian Aichner: "Der Mythos des Sisyphos" von Albert Camus. Theoretische Betrachtungen über das Absurde. München und Ravensburg 2007.

141 Ein Umstand, der nicht verwundert, wenn man den Ursprung dieser Denkrichtung in der christlichen Philosophie Sören Kierkegaards bedenkt. Das später durch Camus und andere betonte Element des Absurden und die daraus folgenden weltanschaulichen Konsequenzen übernimmt Number 23 allerdings nicht.

142 Hier kann man auch ein für die Filmsprache typisches Element beobachten, das man vielleicht

„Exteriorisierung des Menschen“ nennen könnte. Das unsichtbare menschliche Interieur wird ins wahrnehmbare Exterieur der Farben, Beleuchtung oder tonalen Effekte übersetzt, der Mensch wird gewissermaßen auf seine Umgebung hinausprojiziert. Konkretes Beispiel: wenn Sparrows „Roman -Ich“ in drastischen Hell-Dunkel - Kontrasten beleuchtet wird, so verweist dies direkt auf das gebrochene Inn enleben der Figur.

143 "In der Welt des Film noir dreht sich alles um die Kausalität von Ereignissen, die allesamt unentrinnbar miteinander verbunden sind und unvermeidlich auf ein lang vorausgedeutetes Ende hinauslaufen. Im Universum der Vorbestimmung sind Psychologie, Zufall und sogar die Gesellschaftsstruktur letztlich in der Lage, jegliche eventuell vorhandene gute Absicht oder hehre Hoffnung ihrer Hauptfiguren außer Kraft zu setzen." (Silver, Ursini S. 15). Und Paul Werner: "War der Held des Gangsterfilms noch eine Figur, die sich für den Aufstieg entschieden hatte,... so hat der negative Held des Film noir eine solche Wahl der Ziele und Methoden nicht. Sein

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Nahtlos fügt sich hier auch Walters akribische Erzählung der Kausalkette ein, die scheinbar zwangsläufig im Fund des verhängnisvollen Manuskripts resultiert.

Allerdings ist Number 23 die Geschichte eines Ausbruchs aus jener deterministischen Dominokette. Der „erste“ Walter Sparrow, der einen Unschuldigen ins Gefängnis gehen läßt und sich durch Selbstmord aus der Affäre ziehen will, bleibt ein Gefangener der blinden Kausalität, repräsentiert durch die mathematische (Pseudo-) Zwangsläufigkeit der „23“, die aber eben nur scheinbar alles beherrscht, und filmisch umgesetzt durch den Film Noir-Stil. So lange er sich seiner Verantwortung entziehen will, so oft „fällt seine Sünde auf ihn zurück“.

Erst der zweite Walter Sparrow, der „Neue Mensch“, handelt eigenverantwortlich und erwirbt so die Möglichkeit zur Wahl: gerade durch die Entscheidung für die Unfreiheit des Gefängnisses gewinnt er wahre Freiheit144. Wie Walter kurz vor Ende des Films sagt:

Es gibt kein Schicksal. Es gibt nur Entscheidung en.“

1.2.9.2. Filmbeispiel (2): Memento

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"Erinnerung ist Verrat!"

Inhalt: Der ehemalige Versicherungsdetektiv Leonard Shelby (Guy Pearce) ist auf dem Kriegspfad: er will sich an dem ominösen „John G.“ rächen, der Shelbys Frau vergewaltigt und ermordet hat. Das größte Hindernis auf dem Weg der Vergeltung ist Shelby selbst: bei dem Überfall auf seine Frau wurde er am Kopf verletzt und besitzt seitdem nur noch ein eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis: nach wenigen Minuten weiß er nicht mehr, was er

Schicksal ist ihm aus der Hand genommen. Er wird getrieben, verstrickt sich in widersprüchlichen Handlung und weiß am Ende nicht, was er eigentlich wollte." ( Werner, S. 15)

144 Was hier geradezu wie eine wortwörtlich genommene, ironische Umsetzung von Sartres Diktum: „Wir sind frei, aber im Gefängnis“ wirkt.

145 Originaltitel: Memento (USA , Regie: Christopher Nolan,) basierend auf einer Kurzgeschichte von Jonathan Nolan. Für ein detailliertes Szenenprotokoll vgl. Singer, S.109 - S.112. Zur Deutung von Memento aus der Perspektive der analytischen Philosopie unter besonderer Berücksichtigung der Thesen Derek Parfits vgl.. ibid.

S.26 - S.28 respektive S. 53 - S.72. Desweiteren vgl. Görtz S.113 - S.125 für eine Interpretation nach Methoden der narrativen Psychologie. Desweiteren: Basil Smith: John Locke, Personal Identity and Memento. In: Mark T.

Conard (Hg.): The Philosophy of Neo-Noir. Lexington 2006 für eine Auseinandersetzung mit den klassischen Thesen John Lock es.

Beispielhaft für andere Filme mit dem selben Motiv: The Jacket (O.: The Jack et). D, GB, USA 2005. R.: John Maybury: der Golfkriegsveteran Jack Starks (Adrian Brody) wird durch psychiatrische Experimente in den Wahnsinn getrieben; The Machinist (O.: The Machinist). USA 2003. R.: Brad Anderson: Trevor Reznik (Christian Bale) hat seit über einem Jahr nicht geschlafen und verliert dadurch den Verstand; Jacob´s Ladder - In der Gewalt des Jenseits (O.: Jacob´s Ladder). USA 1990. R.: Adrian Lyne: der Vietnam-Veteran Jacob (Tim Robins) wird von alptraumhaften Visionen geplagt und weiß nicht mehr, ob er noch lebt oder schon tot ist.

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gerade tut oder getan hat146. So vergißt er etwa mitten in einer Verfolgungsjagd, daß er nicht etwa der Jäger, sondern der Gejagte ist, ein Fehler, der ihn fast das Leben kostet. Um sich wenigstens zu erinnern, wem er schon begegnet ist und welche Gespräche er geführt hat, bedient sich Shelby einer Sofortbildkamera und zahlloser Notizzettel. Die wichtigsten Axiome seiner neuen Existenz, wie etwa seinen Racheschwur, hat er dauerhaft als Tätowierung auf seinem Körper fixiert. Mit Informationen wird Shelby nur von dem Undercover-Polizisten „Teddy“ (Joe Pantoliano) versorgt. Mit Hilfe der Kellnerin Natalie (Carrie-Anne Moss), der er einen wertvollen Dienst erweist, realisiert Shelby schließlich, daß er die ganze Zeit von „Teddy“ manipuliert wurde: der korrupte Polizist hat ihn - schon mehrfach - auf beliebige „John G.s“ aus dem Dealermilieu angesetzt, um deren Gelder einzukassieren , nachdem Shelby sie umgebracht hat. Schließlich „re-programmiert“ sich Shelby so, daß er Teddy erschießt, der eigentlich John Edward Gammell heißt.

Diese Inhaltsangabe vermittelt allerdings nur ein sehr vages Bild des Films: Memento versetzt die Zuschauer in eine ähnliche Lage wie Leonard Shelby, indem er die Kausalkette der Ereignisse in einzelne Szenen zerfallen läßt, die in chronologisch umgekehrter Reihenfolge gruppiert sind. Der Film beginnt mit dem Tod des Undercovercops und endet mit Teddys (für Shelby allerdings erst einmal wertloser, da sofort wieder vergessener) Enthüllung, dass er ihn die ganze Zeit nur mit falschen Informationen fremdgesteuert hat.

Verklammert werden die Einzelszenen durch eine Rahmenerzählung in Schwarz-Weiß, in der Shelby die Geschichte eines vermeintlichen Versicherungsbetrügers erzählt, der durch einen identischen Defekt wie Shelby unwissentlich den Tod seiner Ehefrau verschuldete. Wie der Zuschauer jedoch später erfährt, ist dies aber offensichtlich nur eine Verdrängungsphantasie Shelbys, dessen Frau den Überfall überlebte und erst später ein indirektes Opfer von Leonards

„Problem“ wurde. Selbst die wenigen sicher geglaubten Konstanten in Leonard Shelbys Leben und die eigentlichen Triebfedern seiner Existenz erweisen sich letztendlich als Täuschung.

Selbstverständnis und visuelle Darstellung von Identität in Memento:

Falls Number 23 das psychische Äquivalent eines sauberen Knochenbruchs darstellt, so ist Memento eine Trümmerfraktur. Es ist Shelby nicht möglich, in sinnvoller Weise neue

146 Er besitzt allerdings seine Erinnerungen bis zum Zeitpunkt des Überfalls. Zumindest glaubt er das.

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Erfahrungen zu sammeln. Seine Polaroidfotos und Notizen sind höchst unvollkommene Hilfsmittel147 und es scheint überhaupt verwunderlich, wie er seine Ziele verfolgen kann, wo er doch gewissermaßen alle paar Minuten ein neues Leben beginnt. Leonard selbst erklärt dies mit „Selbstdisziplin“, daß er sich selbst auf sein Ordnungssystem „konditioniert“ habe - ob man diese Automatismen allerdings mit dem Begriff „Identität“ etikettieren darf, steht auf einem anderen Blatt.

Mehr als alles andere ist Memento ein kartesischer Thriller, wenn es je einen gab148. Angesichts seines Zustandes ist es kaum verwunderlich, daß Shelby selbst die elementarsten Voraussetzungen seiner Identität in Frage stellt: „Ich muß an eine Welt außerhalb meiner eigenen Gedanken glauben. Ich muß daran glauben, daß das, was ich tue, auch einen Sinn hat, selbst wenn ich mich nicht erinnern kann. Ich muß daran glauben dasß wenn ich die Augen schließe, die Welt noch da ist. Glaube ich, daß die Welt noch da ist?“

Shelbys „Welt“, das ist eigentlich nichts anderes mehr als die monomane Fixierung auf seine Rache. Er besitzt in Gestalt von Teddy sogar seinen eigenen Genius Malignus:

Teddy kontrolliert Shelbys „Welt“, indem er ihn mit Informationen versorgt, die ganz, teilweise oder überhaupt nicht korrekt sind. „Don´t believe his lies“ schreibt Shelby unter das Polaroid-Porträt von Teddy. Aus dieser Einsicht resultiert aber noch lange keine Befreiung aus dem deterministischen Teufelskreis. Um sich ein berühmtes Diktum von Hegel auszuleihen: Shelbys einzig verbleibende Freiheit ist seine Einsicht in die Notwendigkeit. Er weiß, daß er „John G.“ töten wird, wenn er diesen Prozess mit einer bestimmten Information,

147 Memento ist ein Film, der Platon gefallen hätte, dokumentiert er doch eindringlich die schlimmen Folgen unkommentierter Schriftlichkeit. Die geschriebenen Notizen ermöglichen es Shelby zwar, weiterhin zu

„funktionieren“, aber eben nur in der Art eines Automaten. Die falschen Schlußfolgerungen, die Leonard aus seinen Dokumenten zieht (welche von Teddy ausgewählt und zensiert wurden), ermöglichen gleichzeitig seine ständige Manipulation. In gewissem Sinne könnte man Memento als Parabel auf die Menschheitsgeschichte auffassen: Leonards kurze Bewußtseinsspannen steht für ein Menschenleben oder für eine Generation; die Aufzeichnungen, die er anfertigt , sind aufgrund der Kürze der Zeit nur winzige Fragmente einer bloß bruchstückhaft erfaßten Komplexität, und diese werden obendrein von künftigen „Ichs“ oder Generationen aufgrund des fehlenden Kontextwissens falsch interpretiert. Wenn Shelby programmatisch sagt: „Erinnerung ist Verrat!“ könnte er genauso gut sagen: „Schrift ist Verrat“. Zur Schriftkritik vgl. Platon, Phaidros 274b–278e [Zitation gem. Stephanus -Paginierung].

148 Christopher Falzon zufolge gibt es zumindest einen weiteren: Suture (USA 1993, Regie: David Siegel; Scott McGehee), die Geschichte der eineiigen Zwillingsbrüder Vincent (Michael Harris) und Clay (Dennis Haysbert).

Diese Zwillingsbrüder sind aber kurioserweise nur für die Personen im Film ununterscheidbar, eigentlich sehen sie vollkommen unterschiedlich aus (Dennis Haysbert ist Afroamerikaner, Michael Harris nicht!). Obendrein agiert im Film eine plastische Chirurgin namens Renée Descartes (Mel Harris). Falzon: „and indeed, if we see the film as alluding to dualism in its Cartesian form, it begins to make more sense. On the dualist view, radical physical differences do not imply that we are dealing with different people. It would thus be entirely possible for people to think that two individuals were the same person even if they were physically very different.

Seemingly, the film suggests what the world would be like if dualism were true." (Falzon, S. 74 f.). Diese zweifellos interessante Interpretation läßt aber offen, nach welchen Kriterien die Substanzen dann unterscheidbar wären - Vincent etwa ist im Gegensatz zu Clay ein ausgemachter Bösewicht.

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einem Programmierschritt, in Gang setzt. Anstatt Teddy sofort zu töten, was ihm ohne weiteres möglich gewesen wäre, muß er mit dem tumben Automatismus einer Maschine erst alle „Arbeitsschritte“ durchlaufen - ein Prozeß, der ihn aber gleichzeitig von allen Schuldgefühlen befreit, da er ja am Schluß glauben muß, den wahren Schuldigen erwischt zu haben

Memento ist ein kartesischer Film, aber, wenn man so sagen darf, nur bis zur Hälfte der Meditationes. Gott kommt in dieser Welt nach Nietzsche nicht vor, nicht mit einem Wort.

Wenn man Shelbys Resümee: „Wir alle brauchen Erinnerungen, um zu wissen, wer wir sind.“ in Kontrast setzt zu seinem Slogan „Erinnerung ist Verrat“, dann ist klar, daß er gar keinen Genius Malignus mehr nötig hat, um sich zu täuschen. Wenn man auf nichts mehr vertrauen kann, bleibt nur die Notwendigkeit der - bewußten - Selbsttäuschung, um das Leben zu bewältigen.

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