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Über die Versuchstechniken berichteten CASPARI und ZUNTZ (1911) im „Handbuch der physiologischen Methodik“ ausführlich. Abbildungen der verwendeten Versuchsstände für Ochsen stammen von GROUVEN (1864) (Abb. 8) und für Schafe von HOFMEISTER (1873) (Abb. 9). Andere Autoren begnügten sich hingegen mit verbalen Beschreibungen, wie STOHMANN (1870) z.B. über die Stände für weibliche Tiere.

Abbildung 8: Versuchsstand für Ochsen nach GROUVEN (1864)

Abbildung 9: Versuchsstand für Schafe zur Durchführung von Bilanzversuchen nach HOFMEISTER (1873)

In den 40er Jahren des 19. Jh. beginnen erste Ausnutzungsversuche, jedoch ohne vollständige Quantifizierung der Exkremente. HAUBNER (1845, S. 274) ermittelte (mit ROHDE) die Verdauung von Kartoffeln bei Schafen (in Kombination mit Heu) durch Erfassung der fäkalen Stärkeabgabe. Bei den späteren Versuchen mit vollständiger Kotsammlung blieben die Versuchsperioden oft noch sehr kurz, z.B. drei Tage bei HENNEBERG und STOHMANN (1859).

8.2 Chronologie und Umfang der Verdauungsversuche

Der Beginn sachgerechter Verdauungsversuche bei Wiederkäuern ist in Deutschland für 1854 anzusehen. Damals gelang es HAUBNER, die Verdaulichkeit der Holzfaser (Rohfaser) beim Rind nachzuweisen, ein entscheidender Befund für die Beurteilung der Verdauungskapazitäten von Wiederkäuern2. Die Frage nach der Zelluloseverdauung wurde in den folgenden Jahren immer wieder überprüft und bestätigt. Es stellte sich heraus, daß die Rohfaser bestimmend für die Gesamtverdaulichkeit eines Futtermittels ist (WOLFF 1874, S.

186). Neben dieser Frage wurden nach und nach diverse Futtermittel überprüft, vor allem aber auch die Interaktion zwischen Rauhfutter und anderen Nährstoffen, die zugesetzt wurden, wie Proteine, Stärke oder Öl. Nachdem die ersten Verdauungsversuche bei Pferden und Wiederkäuern in Deutschland an der Königlichen Thierarzneischule Dresden durchgeführt worden waren (die HOFMEISTER in den 60er Jahren des 19. Jh. fortsetzte), folgten weitere Versuche in Möckern, der ältesten landwirtschaftlichen Versuchsstation in Deutschland (gegr.

2HAUBNER hatte die Ergebnisse der von ihm geplanten Versuche zunächst 1854 in dem „Amts- und Anzeigenblatt der landwirthschaftlichen Vereine im Königreich Sachsen“ veröffentlicht. 1855 folgten dann Publikationen mit SUSSDORF in der „Zeitschrift für deutsche Landwirte“. In den Jahren 1858 und 1859 berichtete dann SUSSDORF im „Bericht über das Veterinärwesen im Königreich Sachsen“

über weiterführende Versuche bei Schafen, die von HAUBNER initiiert und von STÖCKHARDT analytisch unterstützt wurden.

1851, WOLFF 1874, S. 222), vor allem aber in Weende. Dort wirkte seit 1857 W.

HENNEBERG, dessen Arbeitsgruppe in den folgenden Jahrzehnten die Erforschung der Wiederkäuerernährung entscheidend vorantrieb. Einer seiner Schüler (STOHMANN) arbeitete seit 1865 in Halle, ein anderer (G. KÜHN) von 1867 bis 1892 in Möckern (LENKEIT 1975).

Weniger nachhaltig waren die umfangreichen Untersuchungen von GROUVEN in Salzmünde, der 1861 mit seinen Versuchen begann und sie 1864 ausführlich publizierte.

Andere Versuchsstationen wie Eldena und Dahme lieferten Einzelbeiträge, während aus Proskau ähnlich wie aus Möckern auch nach 1870 über zahlreiche Versuche berichtet wurde (SCHNEIDER 1947) (Tab. 9).

Am landwirtschaftlich-chemischen Institut der königlichen landwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim begannen ab 1866 zahlreiche Untersuchungen bei verschiedenen Haustieren, nachdem E. WOLFF die Leitung 1856 übernommen hatte. Nach seinen Angaben wurden dort zwischen 1866 und 1876 über 400 Einzelversuche über die Verdaulichkeit der verschiedensten Futterarten und Futtermischungen bei landwirtschaftlichen Nutztieren ausgeführt (WOLFF 1874, S.184). Im Jahre 1874 wurde die Gesamtzahl der Verdauungsversuche bei allen Haustieren von WOLFF auf über 1000 geschätzt. Die Versuchstätigkeit nach 1870 ist bei SCHNEIDER (1947) weitgehend vollständig dokumentiert.

Tabelle 9: Verdauungs- und Bilanzversuche bei Wiederkäuern (bis 1870)

Jahr Autor Ort Spezies Fragestellung bzw.

untersuchte Futtermittel 1839 BOUSSINGAULT Frankreich laktierende Kuh N-Bilanz

1854 BOUSSINGAULT Frankreich laktierende Kuh Heu, Rüben, Kartoffeln

1854 HAUBNER Dresden Kuh Holzfaser, Papierbrei

1858 SUSSDORF Dresden Schaf Holzfaser, Pappel- und

Kieferholzspäne 1859 RITTHAUSEN u.

SCHEVEN

Möckern Kuh Pflanzenfaser

1859 SUSSDORF Dresden Schaf u.a. Papierbrei

1859 LEHMANN München Kälber ganze u. gequetschte

Hafer- und Gerstenkörner 1859 HENNEBERG u.

STOHMANN

Weende Ochse Stroh, Rüben, Raps, Bohnen

< 1861 JÖRGENSEN Eldena Hammel Wiesenheu

<1861 FRAAS -3 Kuh Wiesenheu, Treber

1862 HENNEBERG Weende Ochse Verdaulichkeit von

Rohproteinen

1863 PETERS - Hammel Holzfasern

1864 GROUVEN Salzmünde Ochse Roggenstroh mit Stärke,

Gummi, Pektin, Wachs, Zucker

1864 HOFMEISTER Dresden Schaf Wiesenheu, Hafer,

Rapskuchen

1864 HENNEBERG et al. Weende Rind Heu, Stroh; Zusatz:

Proteine

1865a WILDT Keuschen Schaf Kartoffelkraut,

Pappellaub, Rübenblattsilage

1865b WILDT Keuschen Schaf animalische und

vegetabilische Proteine

1865 KÜHN et al. Weende Rind

1866 KÜHN et al. Weende Rind

Kleeheu, Stroh,

1866 STOHMANN et al. Weende Ziege Wiesenheu, Leinkuchen

3FRAAS war zeitweise in Weihenstephan tätig (NOBBE 1877, S. 176)

1866 HOFMEISTER Dresden versch.

1867 KÜHN et al. Weende Rind Kleeheu, Stroh,

Wiesenheu 1868/

1869

HOFMEISTER Dresden Schaf Wiesenheu, Stroh,

Rapskuchen, Kartoffeln, Rüben

1869 HOFMEISTER Dresden versch.

Schafrassen

Rapskuchen, Erbsen, Kartoffeln, Wiesenheu (Interaktion Protein, Stärke, Fett)

1869 KÜHN et al. Möckern Kuh junger Rotklee

1869 KÜHN u.

FLEISCHER

Möckern Kuh Wiesenheu, Rapsmehl,

Bohnenschrot

1869 KROCKER Proskau versch.

Schafrassen

Ausnutzung der Rohfaser

1869 N.N. Hammel Kleeheu, versch.

Wiesenheusorten 1870 STOHMANN et al. Halle Ziege N-freies/ N-reiches Futter

1870 STOHMANN et al. Halle Ziege Wiesenheu

1870 WOLFF Hohenheim Schaf diverse Futtermittel

1870 MOSER u.

SCHWACHHÖFER

Ung-Altenburg

Schaf Moharheu

1870a,b MÄRKER Weende Schaf Wiesenheu,

Kleberzusatz, Stroh, Bohnen, Grummert

1870 KÜHN et al. Möckern Ochse Rotkleeheu,Wiesenheu,

Kleber, Stroh

Von 1870 bis 1930 nahmen die Publikationen über Verdauungsversuche (nicht identisch mit ihrer Zahl) kontinuierlich zu, wobei sich immer mehr Länder beteiligten (Tab. 10).

Für die Jahre bis 1870 fanden sich zu diesem Thema nur Publikationen aus Deutschland, abgesehen von BOUSSINGAULTs (1839/54) Arbeiten aus Frankreich. Dort haben REISET (<1864) und BARRAL (1849) zwar Respirationsversuche unternommen, offenbar aber ohne Ergänzungen durch Verdauungsversuche. Auch von 1871-1900 liegen aus Europa lediglich Berichte aus Deutschland vor. Ab Mitte der 80er Jahre setzen umfangreiche Untersuchungen in den USA ein, insbesondere an den Versuchsstationen Pennsylvania und Maine. Aus Übersee stammt aus diesem Zeitraum eine Arbeit aus Japan von O. KELLNER, der von 1881-1892 dort arbeitete (COMBERG 1984, S. 702).

Nach der Jahrhundertwende (1900) änderte sich das Bild nachhaltig (Tab. 10). In Europa wurde außer in Deutschland, das auf diesem Gebiet immer noch dominierte, auch aus den

skandinavischen Ländern (Norwegen, Schweden), vom Balkan, aus Rußland, der Schweiz, Italien, aber auch von der britischen Insel, von entsprechenden Versuchen berichtet. In Nordamerika wurden – anders als in Europa – in den meisten Versuchen Rinder eingesetzt. In dieser Periode erschienen auch die ersten Versuchsberichte aus Australien, Japan, Südafrika und Ägypten. Einen Überblick über die quantitative Verteilung der Berichte aus den genannten Ländern liefert Tabelle 10.

Tabelle 10: Publikationen über Verdauungs- und Bilanzuntersuchungen bei Wiederkäuern (bis 1930)

bis 1870* 1871-1900** 1901-1930**

Rinder Schafe/

Ziegen

Rinder Schafe/

Ziegen

Rinder Schafe/

Ziegen

Deutschland 15 16 21 56 5 145

Übriges Europa 2 0 0 0 5 42

Europa, insges. 17 16 21 56 10 187

Nordamerika 0 0 24 36 57 46

Sonstige Länder 0 0 0 1*** 7 6

* s. Tabelle 9

** nach SCHNEIDER (1947)

*** aus Japan, publiziert von O. KELLNER

Als eine besondere Variante sind die während des 1. Weltkrieges durchgeführten Verdauungsversuche mit Stoffen zu nennen, die nur einen geringen Futterwert besitzen (Wollsaatmehl, Panseninhalt, Rosskastanienabfall, Hornmehl, entgerbte Lederabfälle etc.) (MORGEN et al. 1917).

9 Kommentar zur Verdauungsphysiologie

Die Erforschung der Verdauungsphysiologie der Wiederkäuer hatte eine fast ambivalente Entwicklung. Einerseits fiel die Besonderheit dieser Tierklasse, der mehrfach gegliederte Magen und das Wiederkauen, schon früh auf, auf der anderen Seite begannen die eigentlichen Untersuchungen zur Klärung der biochemischen Abläufe der Verdauung erst relativ spät in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh., als viele allgemeine Fragen der Verdauung beim Hund und Menschen schon geklärt waren (ALEXY 1998).

Schon ARISTOTELES (384-322 v. Chr.) beschrieb die Vormägen der Wiederkäuer (COLE 1944, S. 36), und GREW bezeichnete 1676 den Labmagen eindeutig als den eigentlichen Magen der Wiederkäuer – ähnlich dem des Menschen (COLE 1944, S. 15).

Nach AEMILIANUS` Buch (1584) „Naturalis de ruminantibus historia“ („Naturkunde über die Wiederkäuer“, LINKER 1995, S.143) war es vor allem der Schaffhäuser Mediziner J.

PEYER (1653-1712), der sich sowohl mit der Anatomie der Wiederkäuermägen als auch vor allem mit dem Wiederkauen beschäftigte.

Damit ist es nicht überraschend, daß schon im 17. und 18. Jh. sowie zu Beginn des 19. Jh. die wissenschaftlichen Arbeiten über die mechanischen Abläufe der Verdauung wie Kauen, Wiederkauen, Passage des Futters in den Vormagenabteilungen, Ructus etc. im Vordergrund standen (DAUBENTON 1795, FLOURENS 1832, HAUBNER 1837 u.a.). Jedoch war erst mit Hilfe der Röntgentechnik Anfang des 20. Jh. eine endgültige Aufklärung der Vorgänge möglich.

Die Beschäftigung mit den quantitativen Aspekten der Verdauung von Futtermitteln, damals Verwertung genannt, begannen erst nach der Jahrhundertmitte (19. Jh.), da man zunächst glaubte, die verdaulichen Futterstoffe spiegeln den Wert eines Futters wider.

Ein erster entscheidender Schritt gelang 1854 HAUBNER, der nachweisen konnte, daß Wiederkäuer Holzfasern (Rohfaser) in beachtlicher Menge zu verdauen vermögen. Diese Erkenntnis war Auslöser für die Fragen nach dem „Wo“ und „Wie“ der Verdauung, damit stieß man zu den zentralen Punkten der Verdauungsphysiologie bei Wiederkäuern vor. Das

„Wo“ wurde alsbald in den Vormägen erkannt (ZUNTZ 1879, WILDT 1879, HOFMEISTER 1881), doch das „Wie“ blieb noch für einige Jahre unklar. So prüfte man die verschiedenen Verdauungssekrete, Drüsen oder pflanzlichen Enzyme auf ihre zellulolytische Potenz (GILLAWARY 1877, SCHMULEWITSCH 1879, HOFMEISTER 1881, ELLENBERGER u.

HOFMEISTER 1888 u.a.). Hier zeigte sich, daß die inzwischen bekannten Abläufe der Verdauung durch körpereigene Enzyme bei Monogastriern die Klärung der Besonderheiten bei Wiederkäuern erschwerte. Was zunächst als Vorteil im Hinblick auf die bereits gewonnenen Erkenntnisse über die mechanischen Abläufe der Verdauung erschien, kehrte sich nun in das Gegenteil.

Der eigentliche Durchbruch in der Frage der Zelluloseverdauung kam erst mit der Entdeckung von TAPPEINER (1881/84), daß Mikroorganismen Zellulose zu zerlegen vermögen und dabei nicht nur Gase (CO2, CH4, H2), sondern auch flüchtige Fettsäuren bilden. Dabei gelang es ihm, neben den bereits bekannten Säuren (Essig- und Buttersäure) auch Isobuttersäure und Propionsäure nachzuweisen.

Während zu dieser Zeit ELLENBERGER und HOFMEISTER (1881/88/94) noch nach körpereigener und pflanzlicher Zellulase suchten, stießen die Ergebnisse bei HENNEBERG und STOHMANN (1885), die einige Rechengänge TAPPEINERs kritisierten, auf

weitgehendes Unverständnis („es ist nicht glaublich, daß Bakterien Cellulose fressen“;

HENNEBERG und STOHMANN 1885, S. 624).

Alsbald wurde aber klar, daß diese Säuren absorbiert (zunächst in Versuchen an Kaninchen, WILSING 1885) und auch metabolisiert werden (MUNK 1890, MALLÈVRE 1891). Diese wichtige Erkenntnis ging auch in Lehrbücher über (z.B. WOLFF 1899, S. 80), wo es ausdrücklich heißt, daß flüchtige Fettsäuren, hauptsächlich Essigsäure - außerdem aber auch Butter- und Propionsäure - absorbiert und verwertet werden. Um so unverständlicher ist es, daß dieser Befund erst wieder in den 40er Jahren des 20. Jh. ins Bewußtsein trat. Nachdem McANALLY und PHILLIPSON (1944) auf die erheblichen Konzentrationen an flüchtigen Fettsäuren im Pansen hingewiesen hatten, konnten BARCROFT et al. 1944 an Kaninchenherzen ihre Verwertbarkeit nachweisen. Selbst in dem Buch zur Geschichte der Veterinärmedizin von DUNLOP und WILLIAMS (1996, S. 528-529) wird noch hervorgehoben, daß ELSDEN (1945) erstmals die Propionsäure als Vergärungsprodukt nachgewiesen habe.

In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch schon in der frühen Phase der Erforschung der Verdauungsphysiologie – trotz der insgesamt geringen Zahl an Publikationen – manche Arbeit übersehen oder ignoriert wurde. So berichtet HENNEBERG (1859), daß Versuche über ausschließliche Kartoffelfütterung an Schafen nicht bekannt seien, obwohl entsprechende Versuche schon 1848 von HAUBNER in Eldena (mit detaillierten Angaben über die klinischen Folgen) beschrieben worden waren. Dieses wird von HENNEBERG aufgrund von Vorhaltungen HAUBNERs 1860 richtiggestellt. Auch die Erkenntnis HAUBNERs (1854), daß die Rohfaser von Wiederkäuern gut verdaut werden kann, wird 30 Jahre später von HENNEBERG und STOHMANN (1885) bei Herausstellung eigener Versuchsergebnisse nur noch en passant erwähnt.

Während die Arbeiten zur Verdauungsphysiologie der Wiederkäuer durch Vorstellungen über die Verdauung der Monogastrier zunächst erschwert wurden, kam es nachher umgekehrt zu Anregungen, die mikrobielle Verdauung auch bei Monogastriern zu überprüfen. Ab 1890 setzten z.B. verstärkt Untersuchungen über die Darmflora des Hundes ein (ALEXY 1998, S. 135). Die neuen Erkenntnisse trugen auch nachhaltig zur Klärung der Verdauungsvorgänge im Dickdarm der Pferde bei (KLINGENBERG-KRAUS 2001).

Die Arbeiten zur mikrobiologisch bedingten Verdauung führten in den ersten Jahren zunächst zu falschen Einschätzungen der Bedeutung von Infusorien und Bakterien. Da Infusorien aufgrund ihrer Größe bei mikroskopischen Betrachtungen eher ins Auge sprangen, wurde ihre Wirkung überschätzt. Andererseits erwies sich die Kultivierung der anaeroben Pansenbakterien als schwierig. Der Durchbruch gelang erst 1947/1950, als HUNGATE neue Verfahren zur Kultivierung anaerober Keime entwickelt hatte.

Die Vorstellung über die mikrobielle Verdauung in den Vormägen führte 1891 (HAGEMANN) zu einer weiteren für die Wiederkäuerernährung entscheidenden Erkenntnis mit weitreichenden ökonomischen Folgen: Sie besagte, daß Wiederkäuer auch mit weniger wertvollem Eiweiß und sogar mit einfachen NPN-Verbindungen auskommen können und sogar in der Lage sind, eiweißreiche Produkte (Milch und Fleisch) zu produzieren. Wenn auch noch nicht alle Zusammenhänge klar waren, so reichte schon diese (richtige) Hypothese zur Anregung zahlreicher Fütterungsversuche, deren Erfolge die Fütterungspraxis nicht unerheblich beeinflußten (HARMEYER 1972).

Es bleibt hervorzuheben, daß der Ausgangspunkt für den ruminalen N-Stoffwechsel aus vergleichenden Versuchen bei Hunden und Wiederkäuern von WEISKE et al. (1879/81) stammte. Sie beobachteten, daß die Asparaginsäure den N-Stoffwechsel bei Hunden im

Gegensatz zu Wiederkäuern nicht im Gleichgewicht halten kann. Diese Versuche liefern ein gutes Beispiel für die stimulierende Wirkung vergleichender Untersuchungen.

Das primäre Interesse der Verdauungsphysiologen bleibt auch nach der Jahrhundertwende (1900) der Pansen-/Haubenraum. Die Verdauungsvorgänge distal der Vormägen fanden weniger Beachtung. Dieses hat sich bis heute offenbar nicht geändert. Während der 50 Tagungen der Gesellschaft für Tierernährungsphysiologie von 1953-1996 entfielen rd. 100 Referate auf die Vormägen, ein Referat auf den Labmagen und sechs bzw. acht auf Dünn- und Dickdarm (BARTUSCH 1998, S. 41-44).

Bis 1930 blieben auch die Untersuchungen über den Labmagen sehr begrenzt, was unterschiedliche Ursachen hatte. Zum einen waren die Mägen monogastrischer Tiere leichter zugänglich und somit Operationen weniger aufwendig, zum anderen aber gestaltete sich auch die Versuchsdurchführung bei diesen Tieren einfacher, da das Futter zuvor keine drei Vormägen passieren mußte. Interesse wurde vor allem der proteolytischen Wirkung – insbesondere dem Lab – entgegengebracht, da sie sich von der anderer Tiere unterschied. Die Folgen der Labwirkung auf die Milch (bzw. auf das Casein) waren zwar schon lange bekannt (MAIR-WALDBURG 1974), doch die enzymatischen Zusammenhänge wurden erst zu Beginn des 20. Jh. aufgeklärt.

Bei der Erforschung der verdauungsphysiologischen Vorgänge im Dünn- und Dickdarm, inklusive Bauchspeicheldrüse, begnügte man sich weitestgehend mit Versuchsergebnissen von Hunden (ALEXY 1998, S. 65-86). Nur in wenigen Fällen wurde überprüft, ob diese Ergebnisse auch für Wiederkäuer zutrafen. Spezielle Angaben zur Aktivität verschiedener Verdauungsenzyme im Dünndarm stammen überwiegend aus dem 19. Jh. und wurden bis 1930 kaum nachgeprüft.

Andererseits haben schon frühe Untersuchungen mit Rindergalle – die bei Schlachttieren reichlich zur Verfügung stand – wichtige allgemeine Erkenntnisse gebracht, die auch auf andere Spezies übertragen werden konnten.

Aufgrund der heute als selbstverständlich geltenden Tierschutzmaßnahmen bei experimentellen Untersuchungen, soll an dieser Stelle die Problematik der Schmerzausschaltung bei Versuchen bis 1930 herausgestellt werden.

Die ersten Anästhesieformen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jh. entwickelt und nach Anwendung bei chirurgischen Eingriffen an Menschen auch verzögert bei tierexperimentellen Untersuchungen eingesetzt.

Mit Lachgas (Stickoxydul) gelang in den 40er Jahren des 19. Jh. erstmals eine praktische Anwendung einer Allgemeinanästhesie (s. BRANDT 1997, S. 53; 62-63). 1849 führte der Geburtshelfer SIMPSON das Chloroform als Anästhetikum ein, das sich durch seinen kurzen Wirkungseintritt, hohe Potenz und einfache Dosierung auszeichnete.

Nachdem bis zur Mitte des 19. Jh. bei tierexperimentellen Untersuchungen keine Schmerzausschaltung stattgefunden hatte, wurde 1855 zum ersten Mal von KÖLLIKER und MÜLLER bei einem Hund eine Allgemeinanästhesie mit einem Opiat vorgenommen. Trotz Streitigkeiten über den Einsatz von Narkotika kamen sie Ende des 19. Jh. immer häufiger zum Einsatz, wobei i.d.R. mehr die Ruhigstellung der Versuchstiere als die Schmerzausschaltung geschätzt wurde (ALEXY 1998, S. 227-231). Bei Wiederkäuern verwendete 1884 sowohl LEHMANN, zum Anlegen einer Darmfistel bei einer Ziege, als auch LUCHSINGER für seine intraabdominalen Untersuchungen Allgemeinanästhesien. Während LEHMANN (1884) Chloralhydrat anwendete, benutzte LUCHSINGER (1884) Morphin. Danach fanden auch bei Wiederkäuern operative Eingriffe fast ausschließlich unter einer Allgemeinanästhesie mit

Opiaten, Chloroform oder Chloralhydrat statt (AGGAZOTTI 1910, FOÀ 1910, BELOWSKY 1912 u.a.).

1926 verwendete WESTER beim Anlegen einer Pansenfistel eine Lokalanästhesie, wobei er jedoch Durchführung und verwendetes Lokalanästhetikum nicht beschreibt. Somit bleibt offen, ob es sich hier lediglich um eine Infiltrationsanästhesie handelte oder ob schon eine Epiduralanästhesie vorgenommen wurde. In jedem Fall stellte diese Methode einen weiteren Fortschritt dar, da man mit ihr in der Lage war, spezifische beim großen Wiederkäuer auftretende Narkosezwischenfälle (Ersticken oder Aspirationspneumonien infolge ausgeflossenem oder ausgewürgtem Vormageninhalt; Kreislaufschock durch Umfang und Gewicht der auf dem Zwerchfell und anderen Organen lastenden Vormägen; Tympanie durch einen Ausfall des Ructus) auszuschließen und trotzdem eine Schmerzausschaltung zu erzielen.

1927 verwendeten MANGOLD und KLEIN erstmals bei Wiederkäuern eine Hypnonarkose und keine Narkotika, um die Tätigkeit der Vormägen nicht negativ zu beeinflussen. Von der Ausführung dieser Hypnose gaben sie jedoch keine Beschreibung. Zwar wurde auf eine weitgehende Schmerzfreiheit hingewiesen, doch erscheint dies aus heutiger Sicht insbesondere für längere Eingriffe eher zweifelhaft.

Die Hypnose war 1888 auch ein Thema auf der Sitzung der „Belgischen Akademie der Medizin“. Zwar wies man darauf hin, daß die Hypnose erfolgreich u.a. bei Operationen eingesetzt werden könne, jedoch wurde zugleich vor möglichen psychosomatischen Nebenwirkungen gewarnt (N.N. 1890).

Die älteren Forschungsarbeiten zu den Verdauungsvorgängen bei Wiederkäuern (bis etwa 1850) waren offenbar primär durch Neugierde geprägt, die Besonderheiten des Magen-Darm-Kanals dieser Spezies zu verstehen. Praktische Aspekte gewinnen zwar schon vor der Mitte des 19. Jh. an Bedeutung, wie HAUBNERs Arbeiten in Eldena zeigen (MEYER 1998), traten dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jh. immer stärker hervor.

In diesem Zusammenhang muß berücksichtigt werden, daß sich die Zahl der Rinder in Deutschland während des 19. Jh. verdoppelte, die der Ziegen sogar verzehnfachte (Tab. 11);

lediglich die Zahl der Schafe nahm ab. Damit entstanden neue Aufgaben zur Förderung der Forschung.

Tabelle 11: Entwicklung der Bestände von Rindern, Ziegen und Schafen in Deutschland von 1800-1900 (BITTERMANN 1956) (in Millionen Stück.)

Jahr Rinder Ziegen Schafe

1800 10,1 0,34 16,2

1850 13,4 1,44 25,1

1900 18,9 3,26 9,7

Von den ab Mitte des 19. Jh. gegründeten landwirtschaftlich-chemischen Versuchsstationen (1. Gründung 1851 in Möckern/Leipzig, 1857 in Weende/Göttingen, 1866 in Hohenheim, WOLFF 1870, S. 222) gingen wichtige Impulse aus, die sich vor allem auch mit dem Futterwert und später vermehrt mit dem Energie- und Eiweißbedarf auseinandersetzten. Von

Mitgliedern dieser Stationen stammten die ersten wissenschaftlich fundierten Bücher allein zur Wiederkäuerfütterung (KÜHN 1861) oder auch tierartenübergreifend (WOLFF 1861).

An den veterinärmedizinischen Ausbildungsstätten fallen besonders die verdauungsphysiologischen Arbeiten aus Dresden, Leipzig und München auf. Bei diesen Untersuchungen sind Fragen zur Pathogenese von Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes der Wiederkäuer aber noch nicht zu erkennen, abgesehen von der Tympanie infolge Gasbildung. Diese Störung war schon lange bekannt (s. Kap. „Pansengase“). Pansenacidose, -alkalose oder Labmagenverlagerungen werden in der einschlägigen Literatur noch nicht erwähnt (z.B. HUTYRA u. MAREK 1922).

Wirft man einen Blick auf die Länder, in denen die Verdauungsphysiologie der Wiederkäuer vorrangig erforscht wurde, so ist es im 18. und beginnendem 19. Jh. besonders Frankreich, das durch wichtige Beiträge zur Vormagenmotorik hervortritt (DUVERNEY 1761, DAUBETON 1795, FLOURENS 1832, COLIN 1852). Nachdem das Interesse an diesem Forschungsgebiet geweckt war, fanden außer in Deutschland (u.a. HAUBNER 1837, HARMS 1877, STEINAUF 1921, MANGOLD u. KLEIN 1927) auch in Italien (Turin) (AGGAZOTTI 1910, FOÀ 1910), Österreich (CZEPA u. STIGLER 1925) oder den Niederlanden (WESTER 1926) wichtige Arbeiten statt. Aus den USA liegt lediglich eine verdauungsphysiologische Arbeit vor (SCHALK u. AMADON 1926) über Untersuchungen an Kühen mit Pansenfisteln.

HUFFMANN (1956) „präsentierte“ aus den USA das erste Bild einer Kuh mit Pansenfistel im

„Journal of Dairy Science“ 1939.

Auch waren es eigentlich Franzosen (GRUBY u. DELAFOND 1843), die mit ihrer Entdeckung der Panseninfusorien den Grundstein für die Erforschung der Vormagenverdauung legten. Später veröffentlichte der Franzose MALLÈVRE (1891) eine bedeutende Arbeit zur Verwertung mikrobiell gebildeter Produkte, die er jedoch bei ZUNTZ und MUNK in Berlin ausführte. Somit stammen bis zur Jahrhundertwende (1900) die meisten Arbeiten zur Verdauungsphysiologie aus Europa, vorwiegend aus Deutschland.

Bei den Verdauungsversuchen (Tab.9/10) ist eine ähnliche Tendenz zu erkennen, doch mit einem wichtigen zeitlichen Unterschied: Schon im letzten Jahrzehnt des 19. Jh. und verstärkt im 20. Jh. stammen immer mehr der primär auf die Fütterungspraxis ausgerichteten Verdauungsversuche aus den USA. Die hohe Beteiligung deutscher Wissenschaftler an der Erforschung der Wiederkäuerernährung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist zweifellos der weiten Verbreitung landwirtschaftlicher Versuchsstationen zu verdanken. Im Jahre 1877 befaßten sich allein 18 Stationen im Deutschen Reich mit der Frage der tierischen Produktion, davon fünf besonders intensiv mit der Verdauung und dem Stoffwechsel (Möckern, Weende,

Bei den Verdauungsversuchen (Tab.9/10) ist eine ähnliche Tendenz zu erkennen, doch mit einem wichtigen zeitlichen Unterschied: Schon im letzten Jahrzehnt des 19. Jh. und verstärkt im 20. Jh. stammen immer mehr der primär auf die Fütterungspraxis ausgerichteten Verdauungsversuche aus den USA. Die hohe Beteiligung deutscher Wissenschaftler an der Erforschung der Wiederkäuerernährung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist zweifellos der weiten Verbreitung landwirtschaftlicher Versuchsstationen zu verdanken. Im Jahre 1877 befaßten sich allein 18 Stationen im Deutschen Reich mit der Frage der tierischen Produktion, davon fünf besonders intensiv mit der Verdauung und dem Stoffwechsel (Möckern, Weende,