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3 Besonderheiten des deutschen und österreichischen Gesundheitswesens

3.2 Eine netzwerkanalytische Betrachtung der Entscheidungsstrukturen und Steuerungs-

3.2.2 Mesoebene

Neben der Makroebene spielt im deutschen und österreichischen Gesundheitswesen auch die Mesoebene – und damit verbandliche Akteure – eine bedeutende Rolle (Rosen-brock/Gerlinger, 2004, S. 13f). Im Folgenden wird als erstes die Mesoebene im deutschen und anschließend im österreichischen Gesundheitswesen beschrieben.

46 In einem Staatsvertrag werden die Gelder alle fünf Jahre zwischen Finanzminister und Landesfinanzreferenten aufgeteilt (Rudorfer/Dannhäuser, 2011, S. 62).

47 Seit 2006 sind die Landesgesundheitsfonds (öffentlich-rechtliche Fonds) mit der zugehörigen Landesgesund-heitsplattform für die Planung, Steuerung und Finanzierung des Gesundheitswesens auf Bundesländerebene zuständig (Rudorfer/Dannhäuser, 2011, S. 109). Da die E-Card aber zuvor eingeführt wurde, spielt dies im Zu-sammenhang dieser Arbeit keine Rolle.

3.2.2.1 Deutschland

Die ausgeprägte und mächtige Mesoebene verbandlicher Steuerung wurde bereits in Kapitel 3.2.1.2 angedeutet und ist für das deutsche Gesundheitswesen charakteristisch. Im deut-schen Gesundheitswesen sind die Verbände und Körperschaften auf Mesoebene – wie Kran-kenkassenverbände48, (Zahn)ärztekammern, Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen49 und Krankenhausverbände – mehr als nur politische Erfüllungsgehilfen50 (Bandelow, 2004, S. 97).

Zentralisierte Interessenverbände sind seit der Einführung des Krankenversicherungssystems an der politischen Entscheidungsfindung, Formulierung und Durchführung staatlicher Politik beteiligt.51 Sie versuchen selbst Themen auf die politische Agenda zu setzen und die von ihnen gewünschten Lösungen für existierende Probleme durchzusetzen (Bandelow, 2004, S.

97; Bandelow, 2004a, S. 49). Gesundheitspolitik ist deshalb nicht nur ein Top-down-Prozess.

Verbände und Körperschaften wirken auf staatliches Handeln und Normsetzungen auf Makro-ebene ein (Bottom-up-Prozess). Unterstützt wird dieser Prozess seit den 90ern durch zuneh-mend wettbewerbliche Steuerungsmechanismen (Gerlinger, 2002). Abbildung 5 stellt die in die nationale Gesundheitspolitik einbezogenen Interessengruppen der Makro- und Mesoebe-ne dar. Dazu sei festgehalten, dass es nicht nur zwischen den Interessengruppen, sondern auch innerhalb der Gruppen – z. B. zwischen Leistungserbringern – Konflikte und Interessen-unterschiede gibt. Abbildung 5 zeigt, dass die Verbände der Patienten und Verbraucher – da ihnen keine hoheitlichen Aufgaben (kein Körperschaftsstatus) übertragen sind – im Vergleich zu den Verbänden bzw. Kammern der Kostenträger und Leistungserbringer über weniger ge-sundheitspolitische Entscheidungskompetenzen verfügen bzw. in geringerem Maße in den gesundheitspolitischen Entscheidungsprozess eingebunden sind (Hart/Francke, 2002; Böcken et al., 2001; Sibbel, 2011). Überdies sei darauf hingewiesen, dass die EU weniger Einfluss-möglichkeiten auf die deutsche Gesundheitspolitik hat (siehe Kapitel 3.2.1.1), als die national-staatlichen Akteure (Makroebene) und die Verbände der Leistungserbringer und Kostenträger (Mesoebene).

48 Alle Krankenkassen werden auf Bundesebene seit dem 1. Juli 2008 vom GKV Spitzenverband vertreten. Zuvor waren die acht Kassenarten (Allgemeine Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Angestellten-Ersatzkassen, Arbeiter-Ersatzkassen, Landwirtschaftliche Krankenkassen, Seekrankenkasse und die Bundesknappschaft) jeweils in eigenen Bundesverbänden – jetzt Dachverbände der Kassenarten genannt – als Spitzenverbände der jeweiligen Kassenart organisiert (Bandelow, 2004, 2004a). Diese vertreten die Kassen auf Landes- und Bundesebene. Zu Zeiten der gesetzlichen Einführung der eGK waren die Krankenkassen noch nicht gemeinsam als GKV-Spitzenverband organisiert. Damals vertraten die genannten Dachverbände bzw.

Bundesverbände die jeweiligen Kassenarten auf Bundesebene.

49 Die wichtigsten Vereinigungen der Ärzte sind die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und die Ärztekam-mern, die jeweils auf Landes- und übergeordnet auf Bundesebene (KBV und BÄK) existieren. Für die Zahnärzte existieren eigene Kassenzahnärztliche Vereinigungen (KZVen bzw. KZBV auf Bundesebene) und die Zahnärz-tekammern (BZÄK auf Bundesebene). In diesen Verbänden bzw. Kammern sind alle Ärzte der Mitgliedschaft verpflichtet. Daneben gibt es noch eine Reihe freier Ärztezusammenschlüsse und -Verbände, wie den Hart-mannbund. Die KVen müssen aufgrund ihres gesetzlichen Sicherstellungsauftrages die Tätigkeiten der Ver-tragsärzte überprüfen. Gleichzeitig treten sie gegenüber Dritten als Repräsentant der VerVer-tragsärzteschaft auf – beispielsweise wenn sie mit Kassen die Art und den Umfang von Leistungserbringung aushandeln (Alber, 1992, S. 71).

50 Die Krankenkassen (§ 4 Abs. 1 SGB V), als auch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) (§ 77 Abs. 5 SGB V) sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und dadurch einem gesetzlich definierten Auftrag, i.S. des Ge-meinwohls verpflichtet. Sie sind die „mittelbare Staatsverwaltung“, da sie weder unmittelbar staatliche Einrich-tungen, noch gewinnorientierte privatwirtschaftliche Unternehmen sind (Rosenbrock/Gerlinger, 2004, S. 99).

51 Dies ist von den staatlichen Akteuren auf Makroebene gewünscht. Die Arbeiterschaft sollte unmittelbar in staats-tragende Aufgaben eingebunden werden, "um damit ein Gegengewicht zur Sozialdemokratie und den ihr nahe-stehenden Organisationen zu schaffen“ (Bandelow, 2004a, S. 49).

Leistungs-erbringer (z. B. Ärzte, Apotheker)

Kostenträger (gesetzliche Kassen und

deren Verbände)

Patienten und Verbraucher

Staatliche Akteure (EU, Bund,

Länder)

Pfeile: Beziehungsintensität

Abbildung 5: Interessengruppen und deren Beziehungen im deutschen Gesundheitswesen auf Makro- und Mesoebene

Quelle: Eigene Darstellung

Gesundheitspolitische Entscheidungen werden im deutschen Gesundheitswesen – innerhalb auf Dauer eingerichteter, hierarchisch strukturierter Institutionen – von den Spitzenverbänden der Kostenträger und Leistungserbringer und staatlichen Akteuren getroffen. Diese Struktur wird als Korporatismus52 bezeichnet (Döhler, 2002; Czada, 2005). Ferner ist das Gesund-heitswesen ein typisches neokorporatistisches53 Verhandlungssystem (Lehmbruch, 1988) und beinhaltet pluralistische54 Züge (Beck, 2014). Daneben gibt der Staat unter seiner Aufsicht Entscheidungskompetenzen an Verbände weiter, ohne dass er sich selbst direkt an der Ent-scheidungsfindung beteiligt. Dieses System wird gemeinsame Selbstverwaltung genannt (Döhler, 2002; Czada, 2005).

Die gemeinsame Selbstverwaltung

Im Rahmen der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen muss zwischen zwei Vari-anten unterschieden werden, der gemeinsamen und der innerverbandlichen Selbstverwal-tung55 (Alber, 1992, S. 21). Die gemeinsame Selbstverwaltung ist eine institutionelle

52 Korporatismus ist der "Fachterminus zur Bezeichnung unterschiedlicher Formen der Beteiligung gesellschaftli-cher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen" (Nohlen/Schultze, 2002, S. 449). Der Korporatismus ist eine Art der Verhandlungsdemokratie. Ihn zeichnet aus, dass seine politischen Ergebnisse "nicht aus Wahlen oder Abstimmungen hervorgehen" (Czada, 2003, S. 36).

53 Neokorporatismus ist eine Ausprägung des Korporatismus. Er beschreibt das Bestehen korporatistischer Groß-organisationen, die unter Kontrolle von staatlichen politischen Akteuren politische Gegenstände verhandeln und entscheiden sollen (Bandelow, 2004b).

54 Ein pluralistisches System zeichnet sich aus durch die offene Auseinandersetzung zwischen den vielfältigen und verschiedenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen(-verbänden, -parteien), aber auch durch die Konsens- und Koalitionsmöglichkeiten zwischen ihnen als einen wesentlichen Teil der politischen Willensbildung (Schubert/Klein, 2011).

55 Die innerverbandliche Selbstverwaltung (interne Organisation) beschreibt die Selbstverwaltung innerhalb einer Körperschaft der Träger der verschiedenen Zweige der Sozialversicherung und damit die Selbstverwaltung von rechtsfähigen Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 29 Abs. 1 SGB IV).

verwaltung von Versicherungs- bzw. Kostenträgern56 und Leistungserbringern. Dabei nehmen Krankenkassen und ihre Verbände gemeinsam mit den Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und Krankenhausträgern und deren Verbänden und Kammern sowie ein paar wenigen Patienten-vertretern (teilweise und je nach Thema sind auch weitere Interessengruppen beteiligt) „Auf-gaben bei der Qualitätssicherung und Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen wahr“

(Bandelow, 2004a, S. 49). Die gemeinsame Selbstverwaltung in Deutschland ist einmalig. In anderen europäischen Staaten werden die genannten Aufgaben von Regierungsbehörden wahrgenommen (AOK-Bundesverband, 2012a). Innerhalb der gemeinsamen Selbstverwal-tung und des Korporatismus werden gesundheitspolitische Entscheidungen auf der Grundlage von Verhandlungen getroffen. Dadurch werden die Entscheidungen zwar einvernehmlich ge-troffen und gelten somit als legitim, andererseits erschweren die vielen Akteure mit heteroge-nen Interessen die Entscheidungsfindung (Bandelow, 2004, S. 97). Es entstehen politische Blockaden und Steuerungsprobleme, die u. a. von institutionellen Verhandlungszwängen ver-ursacht werden (Naschold, 1967; Safran, 1967; Lehmbruch, 1988; Rosewitz/Webber, 1990;

Murswieck, 1990; Scharpf, 2000).

Verhandlungsdemokratie und Korporatismus

Im deutschen Gesundheitswesen finden gesundheitspolitische Entscheidungen unter instituti-onellen Zwängen zur Einigung innerhalb einer Verhandlungsdemokratie als "eine nicht-kompetetive Form der konsensualen Aushandlung von Entscheidungen" statt (Döhler, 2002, S. 25.). "Gesundheitsdemokratie ist somit ein Musterbeispiel für die Auswirkungen der bun-desdeutschen Konsensdemokratie" (Bandelow, 2006, S. 159). Das deutsche Gesundheitswe-sen besteht aus vielen institutionalisierten bzw. auf Dauer eingerichteten Gremien57, in denen Akteure der Mesoebene alleine oder gemeinsam mit Akteuren der Makroebene innerhalb von Verhandlungen58 (Verhandlungssystem) Konsensentscheidungen fällen. Die Reformblocka-den im Gesundheitswesen (siehe Kapitel 4.2.2) der letzten Jahrzehnte kommen hauptsächlich wegen Zielkonflikten zwischen Staat und Interessengruppen und zwischen Interessengruppen selbst zustande. Tabelle 3 veranschaulicht die bedeutendsten Gremien im deutschen Ge-sundheitswesen und die an den Verhandlungen beteiligten Akteure.59

56 Die Selbstverwaltung innerhalb der Verbände der gesetzlichen Krankenkassen wird gemeinsam und paritätisch durch Versicherte und Arbeitgeber ausgeübt (§ 29 Abs. 2 SGB IV) (lediglich die Selbstverwaltung der Ersatzkas-sen besteht aus historischen Gründen ausschließlich aus Versichertenvertretern). Die Träger der Sozialversiche-rung übernehmen eigenverantwortlich SteueSozialversiche-rungsaufgaben unter Rechtsaufsicht des Staates und im Rahmen von Gesetzen (§ 29 Abs. 3 SGB IV). Seit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1992 haben die GKVen – im Gegensatz zu den anderen Sozialversicherungsträgern – ein zweistufiges Modell der Selbstverwaltung. Dieses Modell besteht aus einem ehrenamtlichen Verwaltungsrat sowie einem hauptamtlichen Vorstand (§ 31 Abs. 3a SGB IV). Der Verwaltungsrat einer Krankenkasse ist dessen „Parlament“.

57 "Gremium" bezeichnet innerhalb der vorliegenden Arbeit eine Gruppe von Akteuren einer größeren Gruppe von Akteuren, die sich mit zentralen Anliegen befasst. Ein "Gremium" kann rechtlich determinierte Strukturen mit ge-setzlich oder vertraglich zugewiesener Entscheidungskompetenz haben, oder anlassbezogen und nicht instituti-onalisiert stattfinden. Die Zusammensetzung der Akteure kann variieren und die Verhandler haben nicht zwin-gend eine Abschlusskompetenz.

58 Verhandlungen sind ein Idealtypus der Entscheidungsfindung, genauso wie Hierarchie, Mehrheit und Los, wel-che im Gesundheitswesen eher nicht vorkommen (Eberlein/Grande, 2003).

59 In den in der Tabelle dargestellten Verhandlungen geht es nicht "nur" um den Preis. Gesetzlich vorgegebene Preisverhandlungen, z. B. über das Budget von Krankenhäusern oder zur Preisfindung von neuen Arzneimitteln sind nicht aufgeführt.

Tabelle 3: Bedeutendste Gremien und beteiligte Akteure im deutschen Gesundheitswesen Beteiligte Akteure Staat-Verbände Verbände-Verbände

Gremien Ausschüsse des Bundestags und Bundesrats

SVR-Gesundheit

Runder Tisch60 Gemeinsamer Bundesausschuss

Bewertungsausschüsse Zulassungsausschüsse

Prüfungsausschüsse (im Rahmen der Wirt-schaftlichkeitsprüfung)

Kollektivvertragliche Verhandlungen (KVen und Kassen-Verbände)

Selektivvertragsverhandlungen (z. B. Kas-sen(-Verbände) und Ärztegruppen)

Schiedsämter

Im neokorporatistischen deutschen Gesundheitssystem existieren viele Gremien, in denen das zentrale Regelungsinstrument der korporatistischen Steuerung bzw. der gemeinsamen Selbstverwaltung – die Verhandlung – stattfindet. Das Aufgabenspektrum der Gremien ist unterschiedlich und beinhaltet beratende Tätigkeiten genauso, wie rechtssetzende Dienst-pflichten. Bedeutende Gremien sind der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwick-lung im Gesundheitswesen (SVR-Gesundheit)61 – ehemals Sachverständigenrat für die Kon-zentrierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG) – und der Gemeinsame Bundesaus-schuss (G-BA)62. Allerdings verfügen nur die Selbstverwaltungsgremien63 über verbindliche Steuerungskompetenzen. Andere wie der SVR-Gesundheit haben lediglich die Kompetenz, Empfehlungen auszusprechen. Die langen und zähen Verhandlungen im Gesundheitswesen, die oft ohne Einigungen oder die Festlegung auf Lösungen aller Akteure (Konsens) enden, sind nicht zuletzt der "Schwachstelle der in Deutschland lange vorherrschenden Strategie des

`selektiven Korporatismus`… (bzw. dem) Unvermögen jeder Bundesregierung (geschuldet), eine Problemlösungsstrategie mit Hilfe geeigneter Beratungsinstrumente zu entwickeln und

60 "Runder Tisch" ist die Bezeichnung für den Versuch, politische Problemlösungen zu erarbeiten, wobei die gege-benen verfassungspolitischen Einrichtungen und Entscheidungsmechanismen zunächst nicht eingeschaltet wer-den. Am "runden Tisch" diskutieren Vertreter betroffener Interessengruppen mit politischen Akteuren, um eine möglichst einvernehmliche Lösung für politische Probleme zu erzielen, die möglicherweise dann den politisch zuständigen Entscheidungsgremien vorgelegt wird (Schubert/Klein, 2011).

61 Der SVR-Gesundheit ist ein aus sieben Wissenschaftlern bestehendes Expertengremium. Seine Aufgabe ist es, alle zwei Jahre „Gutachten zur Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung mit ihren medizinischen und wirt-schaftlichen Auswirkungen zu erstellen“ (§ 142 Abs. 2 SGB V). Das BMG kann sowohl den Gegenstand der Gutachten näher bestimmen als auch Sondergutachten in Auftrag geben.

62 Der G-BA ist das höchste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung. Er konkretisiert den vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen des Leistungskataloges der GKV. Außerdem legt der G-BA fest, welche Leistungen neu aufgenommen werden und welche Untersuchungs- und Behandlungsmethoden umgesetzt werden. Der G-BA wurde im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes zum 01. Januar 2004 von der KBV, der DKG e.V., den Bundesverbänden der Krankenkassen, der Bundesknappschaft und den Verbänden der Ersatzkassen gebildet.

Er ersetzt fünf bislang nebeneinander arbeitende Ausschüsse. Die genaue Zusammensetzung des G-BA sowie dessen Beschlussfassung können der Homepage des G-BA entnommen werden. Der G-BA ist zwar ein wichti-ges Gremium im deutschen Gesundheitswesen, spielt allerdings für die Einführung des elektronischen Karten-systems keine gesonderte Rolle. Die Einführung der eGK wurde nicht im G-BA (Gründung 2004) und dessen Vorläufer-Ausschüssen verhandelt, sondern auf Bundesebene im Bundesrat und Bundestag beschlossen.

63 G-BA, kollektivvertragliche Verhandlungen etc.

gegen Veto-Spieler im politischen System durchzusetzen" (Czada, 2003, S. 39). Die Ent-scheidungen bzw. Lösungen, welche im Gesundheitswesen zwischen den vielen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen zustande kommen, ergeben sich auf Grund der Tendenz zur negativen Koordination64 als Ausprägung des "Wettbewerbskorporatismus" (Urban, 2001). Mit Wettbewerbskorporatismus meint Urban (2001) ein Nebeneinander von kollektivvertraglichen und wettbewerblichen Formen der Steuerung. Es existiert im deutschen Gesundheitswesen ein Mischverhältnis aus korporatistischen und wettbewerblichen Mechanismen. Dabei über-wiegen in der GKV wettbewerbsförmige Elemente der Steuerung (Urban, 2001). Die Merkma-le des Wettbewerbskorporatismus sind die multilateraMerkma-len Akteurskonstellationen, das segmen-tierte Problemlösen, die sektorale Konzentrierung, bzw. Mesokonzentrierung und eben die Tendenz zur negativen Koordination als Interaktionsform (Nagel, 2009, S. 60).

3.2.2.2 Österreich

In Österreich existieren im Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten, wie vor allem Portugal und Spanien, aber auch Deutschland, wenige etablierte – aber sehr starke – Verbände auf Mesoebene. Die Verbände im österreichischen Gesundheitswesen sind hochzentralisiert und ökonomische Interessen werden konzentriert von (mitglied)starken Verbänden bzw. Kammern65 vertreten (Siegel/Jochem, 2003; Bandelow, 2004a, S. 59). Die traditionellen gesundheitspolitischen Verbände sind der Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherung (HV), die Österreichischen (Zahn)ärztekammern (ÖÄK bzw. ÖZÄK) und die Verbände der Krankenhausträger. Darüber hinaus sind die vier Sozialpartnerverbände – Bundesarbeitskammer (BAK), Österreichischer Gewerkschaftsbund (ÖGB), Wirtschaftskam-mer Österreich (WKÖ) und Präsidentenkonferenz der LandwirtschaftskamWirtschaftskam-mern (PRÄKO) – und die Industriellenvereinigung als Akteur im „Sozialpartnerkonzert“ zu nennen. Die großen Dachverbände sind an substantiellen Verhandlungen beteiligt bzw. in diese eingebunden (Konzertierung) (Lehmbruch, 1988). Insofern gibt es auch in Österreich keinen reinen Top-down-Prozess. Vielmehr nehmen die wenigen etablierten Verbände auch in einem Bottom-up-Prozess an politischen Entscheidungen der staatlichen Akteure auf Makroebene teil. Sie setz-ten sich für das Agenda Setting verschiedener Probleme und Themen ein und gestalsetz-ten Ver-handlungsergebnisse bzw. politische Entscheidungen mit. Auch in Österreich ist somit das Gesundheitswesen ein Verhandlungssystem (Obinger/Tálos, 2006).

Die gemeinsame Selbstverwaltung

Wie auch in Deutschland delegiert der Staat in Österreich Kompetenzen an Versicherungs-gemeinschaften sowie an gesetzliche Vertretungen der Leistungserbringer, die in Form der gemeinsamen Selbstverwaltung tätig sind. Die gesetzliche Sozialversicherung bzw. der HV bilden gemeinsam mit den Kammern ein korporatistisch organisiertes Versorgungsnetz. Unter Vorgabe des von staatlichen Akteuren auf Makroebene festgelegten Rahmens stellen sie die Versorgung und die Finanzierung durch diese Zusammenarbeit sicher (Hofmarcher, 2013, S.

30f). Der HV schließt die Gesamtverträge für die Sozialversicherungen mit den (Zahn)Ärztekammern – als Vertretung der Ärzte – ab und muss den Gesamtverträgen, die von den einzelnen Trägern verhandelt wurden, zustimmen (Rudorfer/Dannhäuser, 2011, S. 97).

64 Als negative Koordination wird eine Abstimmung zwischen Akteuren bezeichnet, bei welcher von den verhan-delnden Akteuren lediglich geprüft wird, ob eine Entscheidungsvariante einen negativen Einfluss auf den Status quo oder die Interessen anderer Akteure hat. Im Gegensatz zur positiven Koordination findet keine Prüfung mög-licher optimaler Kombinationen statt, welche für alle Akteure den größtmöglichen Nutzen hat. Dadurch entsteht ein wesentlich geringerer Koordinationsaufwand (Scharpf, 1993, 1996, 1998).

65 Österreich hat eine ausgeprägte Anzahl an Kammern, die im Vergleich zu den übrigen Verbänden, sehr starke

"Player" im Gesundheitswesen sind. Sie haben viele Mitglieder (Pflichtmitgliedschaft) (Karlhofer/Tálos, 2000).

Verhandlungssystem und Korporatismus

Das österreichische Gesundheitswesen kann wie der Rest des österreichischen Sozialstaats als konservativ-korporatistisch beschrieben werden (Tálos/Fink, 2001, S. 5).66 Im Sinne eines konservativen Systems, nehmen immer wieder die gleichen etablierten Akteure an politischen Entscheidungen teil. "Rasche politische Veränderungen (sind) auf Grund der relativ hohen Bedeutung von sogenannten ‚Vetospielern‘ … nicht oder nur sehr schwer möglich"

(Tálos/Fink, 2001, S. 22; Wagschal, 2000, S. 58). Auch die Machtressourcen – wie Kapital und Organisationskraft – der Sozialpartner erschweren gesundheitspolitische Entscheidungen (Obinger, 2008). Die herausragende politische Privilegierung der Sozialpartner ist an den

"weitreichenden Partizipationschancen betreffend Politikformulierung und Entscheidungspro-zessen ablesbar … Repräsentationsmonopol und Repräsentativität der Dachverbände sind damit in einem hohen Maße gesichert" (Tálos, 2001a, S. 36).

Trotz der etablierten und mächtigen Verbände bzw. Kammern, die im Rahmen der Selbstver-waltung tätig sind, hat in Österreich der öffentliche Sektor – und damit Bund und Länder – die wichtigste Rolle (Heitzmann/Österle, 2008, S. 63). Den Versorgungsauftrag – den in Deutsch-land die gemeinsame Selbstverwaltung übernimmt – haben in Österreich die Bundesländer gemeinsam mit den Sozialversicherungsinstitutionen – und hier vor allem der HV. Öffentliche Institutionen sind bei der Finanzierung und Leistungserbringung involviert. Das führt dazu, dass die Spitzenverbände der Leistungserbinger nicht in der Intensität wie in Deutschland unmittelbar an politischen Entscheidungen teilhaben können (Heitzmann, 2006). Allerdings nimmt der HV im österreichischen Gesundheitswesen eine bedeutende Rolle ein (Rudor-fer/Dannhäuser, 2011, S. 97). Abbildung 6 stellt die Interessengruppen im österreichischen Gesundheitswesen auf Makro- und Mesoebene dar. Die Abbildung veranschaulicht die inten-sive Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung. Es sei angemerkt, dass es nicht nur zwischen den dargestellten Gruppen von Akteuren, sondern auch innerhalb der der Leistungserbringer, der staatlichen Akteure oder der Sozialpartner etc. Konflikte und Interessenunterschiede gibt. Daneben hat die EU weniger Kompetenzen als die nationalstaat-lichen Akteure.

66 "Gesellschaftspolitisch konservative Vorstellungen haben die österreichische Sozialpolitik – als Produkt des Kompromisses divergenter Optionen der entscheidungsrelevanten Kräfte – durchgängig mitgeprägt" (Tálos/Fink, 2001, S. 20f).

Leistungs-erbringer (z. B. Ärzte, Apotheker)

HV, Sozial-partner

Patienten und Verbraucher

Staatliche Akteure (EU, Bund,

Länder)

Pfeile: Beziehungsintensität

Abbildung 6: Interessengruppen und deren Beziehungen im österreichischen Gesundheitswe-sen auf Makro- und Mesoebene

Quelle: Eigene Darstellung

Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern gibt es im österreichischen Gesund-heitswesen innerhalb des organisatorischen Aufbaus der österreichischen Sozialversicherung kaum institutionelle Aufsplitterung (Rudda, 2002, S. 124; Tálos, 2002, S. 16). Der HV bildet die Dachorganisation für die 22 Versicherungsträger. Alle Sozialversicherungsträger sind im HV vertreten. Innerhalb des HVs gibt es einen Verbandsvorstand, ein Verbandsmanagement und eine Trägerkonferenz67. Die Trägerkonferenz besteht aus Vertretern aller Sozialversiche-rungsträger, sowie drei Vertretern der mitgliederstärksten Organisationen des Seniorenbeira-tes. Der Verbandsvorstand68 wird durch sechs Vertreter der Arbeitgeber und durch sechs wei-tere Vertreter der Arbeitnehmer besetzt.69 Das Finanz-, Sozial- und Gesundheitsministerium bilden die beaufsichtigenden Behörden des HV. Sie können Beschlüsse beeinspruchen, ha-ben allerdings kein Stimmrecht in den HV-Gremien. "Aufgrund seiner Bedeutung ist der HV seit jeher politisch umkämpft" (Rudorfer/Dannhäuser, 2011, S. 98).

Gesundheitspolitische Entscheidungen werden in Österreich im Vergleich zu Deutschland konzentriert und zentraler getroffen. Das österreichische Gesundheitswesen besteht aus insti-tutionalisierten bzw. auf Dauer eingerichteten Gremien, in denen Akteure der Makroebene und der Mesoebene innerhalb von Verhandlungen (Verhandlungssystem) Konsensentscheidun-gen fällen. Tabelle 4 veranschaulicht die bedeutendsten Gremien und die beteiligten Akteure innerhalb des österreichischen Gesundheitswesens.

67 Die Trägerkonferenz hat satzungs- und budgetgebende Funktion.

68 Der Verbandsvorstand wird von der Trägerkonferenz für jeweils vier Jahre entsandt.

69 Seit Ende der 90er gab es innerhalb des HV mehrere Umstrukturierungen, die das Gleichgewicht zwischen Ar-beitnehmern und Arbeitgebern sowie zwischen SPÖ und ÖVP betrafen.

Tabelle 4: Bedeutendste Gremien und beteiligte Akteure im österreichischen Gesundheitswe-sen

Beteiligte Akteure Staat-Verbände Verbände-Verbände

Gremien Fachausschüsse des Nationalrates und des Bundesrates

Gesamtvertragliche Verhandlun-gen (z. B. HV und ÖÄK)

Runder Tisch

Koordinierungsausschüsse Bundesgesundheitskommission Gesundheitsplattform

Landesgesundheitsfonds

Bundes-Zielsteuerungskommission und Landes-Zielsteuerungs-kommissionen (seit 2014)

Wenn in Österreich von Verhandlungen die Rede ist, in denen Verbände mit staatlichen Akt-euren verhandeln, ist mit Verbänden oft lediglich der HV gemeint. Der HV – in dem auch die Sozialpartner vertreten sind – entsendet zumeist eine erheblich größere Anzahl an Personen als die Verbände der Leistungserbringer und Patienten. Ein Beispiel hierfür sind die Landes-gesundheitsfonds.70 Ansonsten sind die Kammern der Ärzte und Apotheken bzw. die Pharma-zeutische Gehaltskasse für Österreich und das Österreichische Hebammengremium als Kör-perschaften vertreten. Andere Verbände und deren Interessenvertreter haben kaum eine Chance an politischen Verhandlungen teilzunehmen (Hofmarcher, 2013).