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Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.3 Fallbeispiele

2.3.6 Konträre Strategien zur Kontextualisierung von Befundenvon Befunden

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allerdings alleine durch das Verhältnis des Umfangs eines ganzen Messzy-klus im Vergleich zum Umfang sämtlicher varianter Lesarten. Anhand der Auswertung des Materials des [JRP] beziffert Rodin die Varianz zwischen

~3% im Falle der M. L’homme armé seti toni und 1,28% im Falle der M.

Gaudeamus.

2.3.6 Konträre Strategien zur Kontextualisierung

2.3 Fallbeispiele Kritik übt sie somit nicht an seiner Kollationierung, sondern stattdessen an der Gewichtung, Bewertung und Einordnung varianter Lesarten:

„Taruskin bedient sich heterogener Kriterien zur Bewertung der Quellen: die Authentizität der Lesarten leitet er von musikanaly-tischen Aspekten ab, ohne den von ihm im Lesartenverzeichnis vollständig wiedergegebenen Kollationsbefund zu beachten, der aber dem vorgeschlagenen Stemma in eklatanter Weise wider-spricht.“264

Diese Kritik führt dazu, dass Urchueguía drei Quellen wesentlich anders einschätzt: [VatC 234], [VatSM 26] und [BarcBC 454] – im Gegensatz zu drei weiteren Quellen italienischer Herkunft.265Beide stellen fest, dass sich die Überlieferung in zwei Gruppen gliedert. Taruskin sieht auf der einen Seite [VatC 234] und [VatSM 26] gegenüber den italienischen Quellen, die er als „Roman redaction“ bezeichnet. Der Quelle aus Barcelona weist er stattdessen eine „maverick position in between“ zu.266 Seine Einteilung macht er an sieben „major conjunctive errors“ fest, darunter wird als zuerst ein Fehler imcantus firmus genannt, der bei bekannter Melodie leicht er-kennbar sei. Ebenso produziere die Version in [VatC 234] einen entschieden besseren Konktrapunkt.267In der Schilderung der weiteren Fehler unterlau-fen ihm auch weitere Bewertungen der römischen Lesarten, die sich auf die nicht mehr vorhandene Koordination mit dem Text wie auch die geringere Fülle der Harmonie beziehen.268 Als siebten und zentralen Fehler werden falsche Mensurzeichen im Christe und Benedictus angeführt, die der Struk-tur der Messe widersprechen, wie sie Taruskin in einem eigenen Abschnitt

264 Urc03, S. 189.

265 Auf eine genaue Nennung aller weiterer Quellen wird an dieser Stelle verzichtet.

Vgl. hierzu [Urc03, S. 187; Bus90, S. 1].

266 Vgl. Bus90, S. 8–9.

267 Vgl. Bus90, S. 9.

268 Vgl. Bus90, S. 10–11.

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ausführlich erläutert.269 Darüber hinaus führt Taruskin zahlreiche weitere stilistische Details an, in denen sich die ‚Roman redaction‘ vom Chigi-Codex unterscheide. So verfüge diese über mehr Verzierungen in Kadenzen wie auch die harmonische Glättung der teilweise rauen Dissonanzbehandlung – Züge, die Taruskin mit dem Schlagwort „Italianate“ zusammenfasst.

Urchuiguía dagegen positioniert, obgleich sie auch von einer zweiteiligen Überlieferung ausgeht, den Chigi-Codex als isoliert von den anderen Quellen.

Ihr Hauptkritikpunkt an Taruskins Einschätzung liegt in der Unterbewer-tung von [BarcBC 454], obwohl in dieser Quelle als einzige neben dem Chigi-Codex die korrekten Mensurzeichen überliefert werden.270 Taruskin stellt dies zwar ebenso fest, jedoch spricht er der Quelle aufgrund eini-ger unikaler Korruptelen die Glaubwürdigkeit ab und ignoriert sie im Verlauf der Diskussion.271 Stattessen nennt Urchuiguía einen signifikan-ten Fehler, der vielmehr die isolierte Position des Chigi-Codex zeige.272 Taruskin führt dieselbe Stelle in seiner stilistischen Charakterisierung an:

Den Korrekturversuch eines scheinbaren Fehlers deutet er vielmehr, da ein Auftreten desselben Fehlers in zwei Stimmen unwahrscheinlich sei, als auk-torial intendiert. Er bemerkt stattdessen, dass diese Fehler vielmehr guten Kontrapunkt erzeugen würden.273Im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen verweist Urchueguía auf Lesarten, die in Taruskins Kollation verzeichnet sind, aber nicht von ihm im Text erläutert werden. Sie problematisiert weiterhin die Stellung von [VatSM 26] und wägt mögliche Szenarien ab.

Auf textkritischer Grundlage nimmt sie aber keine Entscheidung zwischen diesen Alternativen vor. Entweder müsste, wenn die italienischen Quellen und [VatSM 26] sich unmittelbar an den Archetypus anlehnten, geklärt werden, wie [BarcBC 454] römische Lesarten gegen [VatSM 26] wie auch den

269 Vgl. Bus90, S. 11, 17–21.

270 Vgl. Urc03, S. 189.

271 Vgl. Bus90, 11, Fußnote.

272 Vgl. Urc03, S. 189–190.

273 Vgl. Bus90, S. 12.

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2.3 Fallbeispiele Chigi-Codex enthalten kann. Oder man postuliere auf der Basis gemeinsa-mer Lesarten der römischen Quellen und [BarcBC 454] einen gemeinsamen Hyparchetypen, der auch die Bindefehler zu [VatSM 26] überliefert. Dann muss die Frage beantwortet werden, wie diese Quelle wiederum Lesarten enthalten kann, die sonst nur im Chigi-Codex auftauchen. Auch wenn sie letztendlich keine der im Folgenden geschilderten Hypothesen zur Lö-sung dieser Frage bestätigt, sieht sie in der Annahme, dass [VatSM 26]

einen kontaminierten Textzustand überliefere, eine weniger willkürliche Erklärung.274

Auf der Grundlage dieses Werks und auch der zahlreichen weiteren diskutier-ten lassen sich Urchueguías Entscheidungsstrategien gut zusammenfassen.

Zunächst einmal wird einer Lesart, die als Bindefehler klassifiziert wird ein enormes Maß an Signifikanz zugewiesen. Ein solcher hat mehr Gewicht als gemeinsame korrekte Varianten und wird als „eindeutiger Beweis für die Stellung [...] im Stemma“275 betrachtet. Auch nutzt sie im Falle der be-reits erwähnten Messe Busnoys’ die Identifikation einerad-hoc-Emendation dazu, einen zusätzlichen Hyparchetypen zwischen dem Chigi-Codex und dem Archetypen zu positionieren, indem sie anhand einer Variante einen möglichen Fehler rekonstruiert und aufzeigt. Dass hierbei der Rhythmus einer anderen Stimme nachgebildet wurde statt der naheliegenderen Verlän-gerung einer einzigen Note, dient hierbei als Indiz über die Unkenntnis der Fassung in den anderen Quellen.276Ebenso werden einzelne Hyparchetypen direkt folgend auf den Archetypen eingefügt, indem ein in allen Quellen vorhandener Bindefehler angenommen wird.277 Damit wird deutlich, dass im Zweifel der Qualität einer Passage als Fehler mehr Bedeutung einge-räumt wird als der bloßen Feststellung abweichender Lesarten. Zudem zeigt sich hieran wie stillschweigend davon ausgegangen wird, dass der

274 Vgl. Urc03, S. 190–193.

275 Urc03, S. 192.

276 Vgl. Urc03, S. 190–191.

277 Vgl. Urc03, S. 208.

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Archetyp keine Fehler enthält. Die Rolle von Hyparchetypen ist insofern bemerkenswert, dass Urchueguía diese im Sinne von Traditionen oder Fas-sungen auffasst, wenn sie gleichzeitig Varianz auf eine größere Zahl von

„interpolierten Quellen“ zurückführt.278 Auch Zusammenhang stiftenden Elementen weist sie im Zuge des Lesartenvergleichs eine wichtige Rolle zu, zumal wenn ein prägnantes Motiv nicht Teil der Vorlage war. In einem derartigen Fall hält sie die Herstellung eines solchen Elementes in einer Revision für plausibler als dessen Tilgung.279 Ebenso führt sie an, dass die Veränderung von Ungewöhnlichem zu Gewöhnlichem plausibler sei als in umgekehrter Richtung der Wandel einer „unauffällige[n] formale[n]

Anlage in eine ungewöhnliche“.280 Schreibergewohnheiten misst auch sie grundsätzlich nur wenig Bedeutung bei. So spricht sie explizit von „unfesten Elementen“281 und schildert auch an anderer Stelle, dass beispielsweise Portamenti bei Klauseln zu den Phänomenen zählen, „die dem Schreiber zur freien Disposition standen“. Dabei spricht sie Klauselbildungen explizit einen stemmatologischen Wert ab, sofern diese keine „Abweichung von der Norm“ beinhalten.282

Zwei wesentliche Bemerkungen sind zudem noch zu machen. Zum einen ist auch hier die Betonung des Grundsatzesrecentiores non deteriores zu erkennen. So dient die Feststellung einer Korrelation „mit dem peripheren Entstehungsort der Quelle“ zur Verortung der Tradition näher am Arche-typen.283 Auch an anderer Stelle betont sie die Stellung als peripheren Zeugen, wenn die jüngste Quelle die älteste Fassung überliefert.284 Ob dieser Konstellation ein argumentativer Wert bei der Positionierung im Stemma zukommt, ist an dieser Stelle nicht zu sagen. Zum anderen ist zu

278 Vgl. Urc03, S. 196.

279 Vgl. Urc03, S. 214.

280 Vgl. Urc03, S. 212.

281 Vgl. Urc03, S. 193.

282 Vgl. Urc03, S. 220.

283 Vgl. Urc03, S. 194.

284 Vgl. Urc03, S. 207.

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2.3 Fallbeispiele bemerken, dass, obwohl Urchueguía sich – gerade im direkten Vergleich mit Taruskin – stilistischer Bewertungen weitestgehend enthält, sie dennoch auch Gebrauch vom Grundsatz derlectio difficilior macht. Im Rahmen der Analyse der Überlieferung von Heinrich Isaacs M. La Spagna begründet sie mit dieser Prämisse die Deutung von „rhythmisch komplizierteren oder graphisch anspruchsvolleren Alternativen als originale Lesarten“ die Ent-scheidung, die Lesarten einer Tradition als archetypisch zu betrachten.285 Gerade im Zusammenhang mit der bereits dargestellten starken Gewich-tung falscher Lesarten ist dies zu betonen, da sie den Eindruck des implizit vorherrschenden Verständnisses von Überlieferung im degenerativen Sinne verstärken. Ebenso zeigt sich, der hohe Stellenwert der Examinatio in ihrem Vorgehen, der sie selbst zentrale Bedeutung zuspricht:

„Die Vorbehalte, die die Musikwissenschaft gegenüber der von Lachmann entwickelten, von Maas erweiterten und von weiteren Wissenschaftlern [...] revidierten Methode der Stemmatologie hegt, sind m.E. grundlos. Entscheidend beim textkritischen Prozeß ist letztlich der Schritt der Examinatio, der nur auf der Grundlage höherer Kritik, d. h.cum grano salisin unserem Fall der musikalischen Analyse im weitesten Sinne, geleistet werden kann. So verstanden stellt die Methode eine vom Gegenstand völlig unabhängige Arbeitsgrundlage dar.“286