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Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.3 Fallbeispiele

2.3.7 Fazit – Was ist der Archetypus?

2.3 Fallbeispiele bemerken, dass, obwohl Urchueguía sich – gerade im direkten Vergleich mit Taruskin – stilistischer Bewertungen weitestgehend enthält, sie dennoch auch Gebrauch vom Grundsatz derlectio difficilior macht. Im Rahmen der Analyse der Überlieferung von Heinrich Isaacs M. La Spagna begründet sie mit dieser Prämisse die Deutung von „rhythmisch komplizierteren oder graphisch anspruchsvolleren Alternativen als originale Lesarten“ die Ent-scheidung, die Lesarten einer Tradition als archetypisch zu betrachten.285 Gerade im Zusammenhang mit der bereits dargestellten starken Gewich-tung falscher Lesarten ist dies zu betonen, da sie den Eindruck des implizit vorherrschenden Verständnisses von Überlieferung im degenerativen Sinne verstärken. Ebenso zeigt sich, der hohe Stellenwert der Examinatio in ihrem Vorgehen, der sie selbst zentrale Bedeutung zuspricht:

„Die Vorbehalte, die die Musikwissenschaft gegenüber der von Lachmann entwickelten, von Maas erweiterten und von weiteren Wissenschaftlern [...] revidierten Methode der Stemmatologie hegt, sind m.E. grundlos. Entscheidend beim textkritischen Prozeß ist letztlich der Schritt der Examinatio, der nur auf der Grundlage höherer Kritik, d. h.cum grano salisin unserem Fall der musikalischen Analyse im weitesten Sinne, geleistet werden kann. So verstanden stellt die Methode eine vom Gegenstand völlig unabhängige Arbeitsgrundlage dar.“286

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wird letztendlich, auch wenn ein ausführliches Bild der Kollation in einer Quellenbewertung geschildert wurde, argumentativ zumeist anhand eini-ger wenieini-ger griffieini-ger Passagen vorgegangen. Ebenso ist zu bemerken, wie eng methodisch stark strukturiertes Vorgehen und auf den ersten Blick mechanistisch anmutende Anteile mit der Entfaltung individueller Argu-mentationsstrategien und darunter erkennbaren geläufigeren Prämissen einhergehen.

Die Grundlagen der Recensio bleiben hierbei weitestgehend gleich, ins-besondere Bents Grundsätzen zur Etablierung direktionaler und direkter Beziehungen wird gefolgt. So zeigt sich auch, dass gerade in Fällen großer Quellennähe zumeist keine Komplikationen auftreten. Ebenso bilden insbe-sondere die Befunde über die Rolle der Messdrucke Petruccis und der sich auf diesen etablierenden Überlieferungstraditionen über alle betrachteten Fälle hinweg ein stimmiges Gesamtbild in der Vorgehensweise. Entsprechend offensichtlich wird das Überwiegen direkter Beziehungen in diesen Tradi-tionen. Inwiefern die einzelnen Schilderungen sich eventuell überschneiden könnten, wurde an dieser Stelle nicht gezielt überprüft, da der Fokus auf der Vorstellung der jeweilig gewählten Ansätze liegt. Basierend auf genau diesem Vorhaben zeigen sich zudem grundsätzliche Schwierigkeiten in der Vergleichbarkeit, die noch zu thematisieren sind. Im Falle der auf frühen Drucken basierenden Überlieferungen fallen diese aber um einiges geringer aus, als es sonst der Fall wäre. Hierfür eröffnet die Überlieferung in Drucken offensichtlich gute Bedingungen. Gerade Petrucci bietet eine vergleichbar große Menge Material aus bekannter Herkunft. Einen deutlichen Vorteil stellt die große graphische Homogenität dar – allein die Beschränkung auf zweiteilige Ligaturen ist ein für die Kontextualisierung von Quellen beson-ders wertvolles Charakteristikum. Darüber hinaus sind die Drucke zumeist datiert und gerade der Vergleich über spätere Auflagen und Nachdrucke hinweg bieten einen Untersuchungsgegenstand, an dem sich eine Recen-sio in ihrer kombinatorischen Grundform, basierend auf mechanistischen 126

2.3 Fallbeispiele Kopierfehlern, ausüben lässt. Insgesamt zeigt sich, dass hier von einem normierenden Einfluss gesprochen werden kann, durch den viele Aspekte, die unter dem Begriff Schreibergewohnheiten zusammengefasst werden, wesentlich weniger permutieren und auch indikativen Wert erhalten.

Als weiteren Teil des Vorgehens muss darüber hinaus auch die Examinatio betrachtet werden. Sie ist, wie anhand der Äußerung Urchueguías und im Rahmen der vorangegangenen Ausführungen gezeigt werden konnte, zentral für die Erarbeitung eines Stemmas. Allerdings zeigt sich, dass eine Systematisierung, in der sich Recensio und Examinatio klar voneinander ab-grenzen lassen, anhand der Fallbeispiele nicht vorgenommen werden kann.

An wesentlichen Punkten greifen beide Aspekte bei der Positionierung von Quellen innerhalb eines Stemmas untrennbar ineinander, begonnen bereits bei der Klassifizierung von Passagen hinsichtlich ihrer Signifikanz.

Sämtlichen Fallbeispielen gemein ist eine klare Gewichtung der Beweiskraft danach, ob eine Lesart als Fehler, Variante, im Sinne einer Abweichung von Tonhöhe und/oder Rhythmus, oder als ‚minor variant‘ klassifiziert wird.

Auch zeigt sich, dass üblicherweise ein komplexes Geflecht aus kleineren und größeren Fehlern wie auch Varianten gebildet wird, das argumentativ gegeneinander abgewogen wird. Wird hierbei einem Fehler bzw. einer Va-riante Leitcharakter zugesprochen, überwiegt die Beweiskraft immer die der – stellenweise auch zahlreichen – anderen Befunde. Deutlich lassen sich gerade in diesem Vorgehen individuell unterscheidbare Strategien wie auch situative Unterschiede beobachten. Gerade das Vorgehen Hudsons zeigt, dass insbesondere der Grad an Varianz innerhalb einer Überlieferung das Signifikanzniveau bestimmen kann. Der Fall der M. Faysant regretz verdeutlicht, dass auch scheinbar wenig signifikante Parameter für eine Einschätzung herangezogen werden können. Ebenso sticht auch Blackburns Argumentation heraus, indem sie den verwendeten Proportionszeichen eine derart hohe Signifikanz zumisst, dass sie diese ins Zentrum ihrer Argumen-tation stellt. Gerade in Hinblick auf das häufige Auftauchen der Drucke 127

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Petruccis in den anderen Fällen kann dies als Alleinstellungsmerkmal gese-hen werden. Auch fällt auf, dass Noblitt sehr viel Wert in der Abgrenzung der einzelnen Traditionen im Überlieferungkomplex M. D’ung aultre amer / Tu solus qui facis mirabilia anhand der Motette legt. Die abschließende Bewertung der Messteile dagegen fällt erstaunlich blass aus; nach der Eli-minatio aller vom Erstduck abhängigen Quellen wählt er die vatikanische Quelle aufgrund ihrer Qualität aus. Ebenso kann beobachtet werden, dass nur Abweichungen von Tonhöhe und Rhythmus in Betracht gezogen werden.

Im Falle der Messe Busnoys’ thematisiert Urchueguía keine Aspekte wie Ligaturen, Akzidentien oderminor color, während Taruskin gerade die Quelle aus Barcelona auch aufgrund des gänzlichen Fehlens von letzterem deutlich abwertet. Auch Martin Just vernachlässigt derartige Faktoren.

Noblitt erwähnt Unterschiede hinsichtlich der Ligaturen nur, um ihnen Implikationen hinsichtlich der Textunterlegung abzusprechen.

Ein weiterer Punkt, der auch mit der Frage nach der Signifikanz einher-geht, ist die Verwendung von Strategien zur Positionierung von Quellen, gerade in Bezug auf eingeführte Hyparchetypen und den vermuteten Ar-chetypen. Zentral hierbei sind, wie auch bereits im Rahmen der Kriterien für Signifikanz, Annahmen über mögliche oder plausible Eigenschaften des Archetypen. Gerade in dieser Hinsicht sollte die Rückkopplung der Recensio an Methoden und Befunde der Examinatio unter großer Vorsicht stattfinden. So lässt sich gerade das Einfügen zu Hyparchetypen als ein-zelne Zwischenstufen auf der Basis falscher Lesarten in erster Linie als Konsequenz qualitativer Ansprüche an einen vermeintlichen Archetypen betrachten, die diesen als makellosen Ausgangspunkt einer allmählichen Degeneration annehmen. Dabei werden die Konsequenzen dieser Annahme nicht einmal nur dann deutlich, wenn sie explizit zur Geltung kommen, sondern vor allem durch die Gegenüberstellung einer Ausnahme. Barton Hudson ist im Rahmen der hier betrachteten Fallbeispiele als einziger da-zu bereit, explizit mögliche Fehler im Archetypus anda-zunehmen. Welchen 128

2.3 Fallbeispiele Stellenwert er diesem dabei einräumt, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden – wird hierunter der Beginn einer sich spaltenden Überlieferung oder das erste manifeste und autorisierte Zeugnis eines Werkes verstanden?

Damit einhergehend zu nennen ist auch die sehr verbreitete Prämisse der lectio difficilior, die eine Tendenz zur Simplifizierung impliziert und damit wiederum eine Erwartungshaltung an einen vermeintlichen Archetypus for-muliert. Überspitzt könnte diese Haltung als Anspruch einer Einzigartigkeit definiert werden. Ob in der Hinsicht werkkonstituierender Konzepte oder im Gedanken an die Verwirklichung eines Kunstanspruchs, sei hier explizit außen vor gelassen. Gerade wenn auf Argumentationsmodelle zurückge-griffen wird, die die Genese von Lesarten in den Fokus nehmen, wird die Auswirkung dieser Prämisse deutlich. Prinzipiell kann gerade ein derartiger Ansatz als erhellend angesehen werden. So könnte er gezielt die Antithese zur Erwartung einer immer weiter steigenden Zahlfalscher Lesarten dar-stellen, indem er gerade dem Bild des rein mechanischen Kopierprozesses widerspricht. Insbesondere in Fällen, in denen die Analyse einer Passage darauf abzielt, einen Eingriff zu rekonstruieren und dabei die Unkenntnis einer naheliegenderen Korrektur des Lapsus darzulegen, kann hier sicher-lich ein starkes Argument gefunden werden. Wird in diesem Zuge aber schlichtweg nur zwischen der vermeintlichen Komplexität oder Simplizität von Lesarten abgewogen, ist dies als Basis für eine Direktionalität in der Überlieferung eher kritisch zu sehen.

Wie deutlich der Einfluss der, auch auf der Basis musikhistorischer Er-kenntnisse gebildeten, Erwartungshaltung an einen Archetypen ist, zeigt insbesondere auch Blackburn. Die Signifikanz, die sie den Proportionszei-chen einräumt, basiert auf einem derartigen Erwartungskonstrukt. Indem sie die Variante auf Petrus Castellanus zurückgeführt hat, definiert sie im Ausschluss die andere Lesart als archetypisch und damit auch auktorial

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intendiert.288 Berührt hiervon wird außerdem die Frage nach einem Per-sonalstil. Auch in dieser Hinsicht wurde eine Erwartungshaltung in den betrachteten Fallbeispielen greifbar, zum einen in der Betrachtung der M. Malheur me bat, zum anderen besonders deutlich in den erwähnten L’homme armé-Messen. So argumentiert Rodin immer wieder vor dem Hintergrund der Charakteristik, wenn er Lesarten gegeneinander abwägt.

Einzigartig ist sein Vorgehen hierbei durch die Konsultation einer großen Datenbasis, auch wenn dieses Vorgehen innerhalb des Kritischen Berichts nicht in den einzelnen Fällen transparent gemacht wird. Ebenso basiert seine Einschätzung zur Überlieferung der M. L’homme armé super voces musicales darauf, dass notationsspezifischen Eigenheiten der Status als ar-chetypisch zugewiesen wird. Gerade da die Argumentation der M. L’homme armé sexti toni sich nicht in vergleichbarer Weise auf derartige Parameter stützt, zeigt sich hier der exzeptionelle Charakter dieses Falls. Anhand der Einschätzung einer Passage als auktorial lässt sich zudem zeigen, wie weit hier Argumentationsmuster durchbrochen werden können. Exemplarisch ist hierbei die stark abweichende Einschätzung Taruskins und Urchueguías zur Messe Busnoys’. Besonders virulent ist hierbei die unterschiedliche Ein-schätzung der Passage im Kyrie II. Während Urchueguía hierin klar eine falsche Lesart sieht und darauf aufbauend dieser Leitcharakter zuspricht, schätzt Taruskin die Stelle völlig anders ein. Er sieht zwar die Möglichkeit, einen Fehler darin zu erkennen, geht aber stattdessen von einer auktorialen Intention aus. Damit legitimiert er eine Lesart und stellt diese in die Nähe des Archetypen, den er insbesondere auch anhand stilistischer Kriterien definiert, während diese andererseits – ohne der Unterstellung intentiona-len Wertes – eine zentrale Position in der Klassifizierung einer Quelle als Außenseiter darstellen kann.

288 „Josquin himself normally used “3” to indicate sesquialtera.“ NJE 22, S. 40.

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2.3 Fallbeispiele Im Lichte dieser Aspekte erscheint es nicht verwunderlich, wenn auf der Basis desselben Lesartenverzeichnisses zu entscheidend unterschiedlichen Einsichten gelangt wird, wie es gerade im Vergleich von Taruskin und Urchueguía der Fall ist. Indem der Signifikanz von Befunden eine derart große Bedeutung eingeräumt wird, dass explizit eine Auswertung anhand von Häufigkeiten als abträglich betrachtet wird, ist es völlig ersichtlich, wenn unterschiedliche Personen mit unterschiedlichem Hintergrundwissen und Erfahrungsschatz zu anderen Einschätzungen kommen. So zeigt sich, dass selbst über die Klassifizierung einer Variante als Fehler nicht zwangs-läufig Einigkeit herrschen muss. Die Thematisierung der Erwartungen an einen Archetypen zeigt die Rolle subjektiver Einschätzungen geradezu exemplarisch, da in einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Fällen ganze Argumentationsketten einem Verwerfen dieser Prämissen nicht standhal-ten würden. Wie fragil diese auch auf dieser Basis bereits sein können, zeigen Fälle wie die M. L’homme armé sexti toni, wenn der Möglichkeit unabhängig voneinander entstehenden identischen Lesarten im Vergleich zu anderen Fällen eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Die Vergleiche der Stemmata von Noblitt und Blackburn wie auch Taruskin und Urchueguía verdeutlichen auf eindrückliche Weise die Auswirkungen unterschiedlicher Gewichtungen. Letztendlich ist es, will man diese Anmerkungen zu einer – fraglos plakativen – Feststellung fortführen, schon beinahe paradox, welch große Rolle impliziten Erwartungen an einen Archetypen zukommt, ob-wohl das Verfahren diesen zumeist als verloren annimmt. Sobald also mehr als rein kombinatorische Gründe für die Direktionalität eines Stemmas zum Tragen kommen, ist der Frage nach der Funktion des Archetypus eine enorm hohe Bedeutung beizumessen. Hierbei kann er als bloßer Beginn einer Aufspaltung verstanden werden, als große Unbekannte in einem Netz aus Zeugen, als möglichst unverdünntes Kondensat einer stilistischen Charakte-ristik oder eben auch als verlorene Inkorporation unfehlbarer auktorialer Intention.

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Kapitel 3

Konzepte und Verfahren der