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Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.3 Fallbeispiele

2.3.5 Überlieferung im Spiegel der Josquinforschung

2.3 Fallbeispiele des Archetypus besonders relevant ist, zeigt sich zudem auch bei Noblitt.

Während Blackburn aufgrund der Betrachtung der gesamten Überliefe-rungsgeschichte die direkt auf den Archetypen folgenden Hyparchetypen als Aufspaltung in Mess- und Motettentradition charakterisieren kann, eliminiert Noblitt sämtliche Quellen, die nicht der Messtradition zuzuord-nen sind. Trotzdem verortet er, ohne diese Aufspaltung der Überlieferung anzuführen, noch vor dem Petrucci-Druck und der vatikanischen Quelle einen Hyparchetypen. Als Grund hierfür führt er einige Fehler an, die beide Quellen gemeinsam haben234:

„One must conclude, therefore, that the extant sources of Josquin’s Mass did not derive directly from the composer’s autograph but are all dependent on another lost manuscript in which that error was already present (designated [b] in the stemma below).“235

Zöge er stattdessen die Möglichkeit in Betracht, dass der Archetyp bereits diesen Fehler enthielte, wäre dieser Hyparchetyp obsolet, insofern er nicht die Trennung der beiden Traditionen markiert.

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suralen und modalen Komplexität in 14 Traktaten von 1537–1592 zitiert wurde.236An dieser Messe lässt sich zunächst recht gut das grobe Vorgehen Rodins umreißen, das die Quellenbewertung prägt, da hier keine Kompli-kationen auftreten. Im ersten Schritt nennt Rodin sämtliche Quellen und ordnet diese sowohl ihrer Herkunft entsprechend als auch auf Basis ihrer bekannten Datierung ein, dann schildert er, welche Quellen das Werk in wel-chem Umfang überliefern. In einem zweiten Schritt bemüht er sich um eine Verortung und Datierung des Werkes unter Einbeziehung biographischer Informationen zum Schaffen Josquins. Im Falle der M. L’homme armé super voces musicales ist es ihm möglich, anhand der frühesten Quelle [VatS 197]

die Messe in der Zeit von Josquins Anstellung an der Päpstlichen Kapelle anzusiedeln.237Da die Quelle zusätzlich hierzu von hoher Qualität ist und über spezifische Eigenarten – „a series of abstruse verbal canons“238 – ver-fügt, siedelt er sie nah am Archetypen an und wählt sie damit als Leitquelle aus. Anschließend führt Rodin eine Gruppierung der Quellen im Sinne von Überlieferungstraditionen ein, die anhand von Lesarten begründet werden.

Dieser Einteilung folgt eine detaillierte Besprechung der Quellengruppen, in deren Rahmen die einzelnen Textzeugen miteinander in Relation ge-bracht werden, wie auch die Einschätzung von Spezialfällen vorgenommen wird. Zudem werden auch Betrachtungen der Aspekte, unter denen das Werk in musiktheoretischen Traktaten behandelt wurde, vorgenommen und darüber hinaus – weniger detalliert – eine Beurteilung der überlieferten Intavolierungen. Daran anschließend widmet sich Rodin in beiden Fällen notationspezifischen Aspekten in der Überlieferung wie auch der Frage nach der Authentizität des Titels.

Wie bereits gezeigt werden konnte, verläuft die Quellenbewertung der M. l’homme armé super voces musicales (NJE 6.3) weitgehend

komplikati-236 Vgl. NJE 6, S. 133.

237 Vgl. NJE 6, S. 122.

238 NJE 6, S. 122.

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2.3 Fallbeispiele onsfrei ab. Rodin unterscheidet in diesem Fall zwei Überlieferungstraditio-nen, eine ‚römische‘ basierend auf [VatS 197] und eine basierend auf dem frühesten Druck Petruccis [Pet1502]. Wesentlich für die Differenzierung der beiden Gruppen sind 17 Fehler in Petruccis Druck, die zwar leicht zu emendieren seien, aber – obwohl in einigen von [Pet1502] abhängigen Quellen Emendationen vorgenommen wurden – allein durch ihre bloße Zahl die Zuweisung einer Quelle zu dieser Tradition einfach machen.239 In diesem Rahmen sind zwei Aspekte von Relevanz: Zum einen die Argu-mentation dafür, die Edition auf der römischen Tradition fußen zu lassen, zum anderen die Strategien, anhand derer die Positionierung einer Quelle im Stemma vorgenommen wird. Zu ersterem Punkt liefert Rodin acht Passagen, deren Vergleich und Beurteilung als Basis seiner Entscheidung dienen. Seine Einschätzungen beruhen dabei sowohl auf der Herleitung möglicher Emendationsversuche wie auch der Abwägung der jeweiligen Änderungsrichtung hinsichtlich ihrer Plausibilität. Hierbei wird zumeist der Weg einer Simplifizierung bevorzugt, wie auch an anderen Stellen einer lectio difficilior explizit der Vorzug gewährt wird. Darüber hinaus dienen satztechnische Aspekte wie ein „exceedingly unlikely“ Sextsprung oder andere Wendungen, die bezüglich ihrer Charakteristik bewertet werden, der Abwägung einer bevorzugten Version.240Der Positionierung der einzel-nen Textzeugen innerhalb des Stemmas stellt Rodin zunächst voran, dass sich die gesamte römische Tradition durch die weitgehende Stabilität des Textes auszeichne. Die Begründung von Untergruppen erfolgt dann auf einer kleinen Zahl signifikanter Varianten, insbesondere einiger spezifischer Lesarten von [VatS 197]. Entsprechend dieser Lesarten, von denen einige auf den Archetyp zurück geführt werden, nimmt er die Gruppierung vor.

Charakteristisch hierbei ist, dass Rodin zwei Quellen eine direkte Bezie-hung zum Archetypen zuspricht – basierend auf einer gemeinsamen Lesart,

239 Vgl. NJE 6, S. 122.

240 Vgl. NJE 6, S. 123.

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die er als Klärung eines möglicherweise zu Verwirrung führenden Akzi-dens im Archetypen herleitet.241 Die weitere Einschätzung über Subtypen basiert im Wesentlichen auf der Auswertung gemeinsamer bzw. unikaler Varianten. Hierbei bemüht sich Rodin insbesondere darum, die Varianten entsprechend durch eine Entstehungshypothese im Stemma zu verorten, die anhand satztechnischer Gegebenheiten argumentiert und mögliche Ur-sachen eines Fehlers nennt.242 Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass Rodin sowohl seiner Gruppierung entsprechend widersprüchliche Befunde als mög-licherweise „false positive“243 nennt, wie er auch die Auswirkungen von Kontaminationen diskutiert. So führt er zwei Sonderfälle, die sich nicht klar einer Tradition zuweisen lassen, auf die Verwendung unterschiedlicher Vorlagen für einzelne Messsätze zurück wie auch die Rekomposition ganzer Passagen.244 Zu erwähnen ist außerdem die Argumentation, anhand der Rodin beide genannten Traditionen in Beziehung zueinander setzt. Hierbei wägt er zwischen zwei Quellen ab, die er als Teil der römischen Quel-lenfamilie identifiziert hat, die aber sowohl zwei Varianten untereinander als auch Lesarten mit Petrucci teilen, allerdings aber nicht zueinander in Abhängigkeit gebracht werden können. Zur Heranziehung der einen Quelle als mögliche Brücke, verwirft er zunächst basierend auf ihrer ho-hen Fehlerzahl die Beteiligung der Quelle aus Uppsala. Hierbei schätzt er die Quelle aufgrund der mangelnden Sorgfalt ihres Schreibers, bzw. der Vorlage, als nur wenig signifikant ein und erklärt darüber hinaus die mit Petrucci gemeinsamen Lesarten als Kopierfehler. Die Quelle aus Modena, der Rodin zuvor eine deutliche Nähe zu [VatS 197] zugesprochen hat, bleibt hierdurch übrig. Hierauf aufbauend umreißt er ein Szenario, in dem die Vorlage der Quelle aus Modena ebenfalls vom Archetypen abstammte und sowohl einen falschen Punkt wie auch andere kleinere Abweichungen

ein-241 Vgl. NJE 6, S. 124.

242 Vgl. bspw. NJE 6, S. 124–126.

243 NJE 6, S. 126.

244 Vgl. NJE 6, S. 126, 129.

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2.3 Fallbeispiele führte. Diesen Hyparchetypen macht Rodin darüber hinaus indirekt als Vorläufer der Petrucci-Tradition aus, in dessen weiterer Linie allmählich die notationsspezifischen Eigenheiten des Archetypen normalisiert wurden.245 Einen anderen Fall stellt dagegen die M. L’homme armé sexti toni (NJE 6.2) dar. Ohne auf biographische Belege zur Herkunft der Messe rekurrieren zu können, teilt Rodin die Überlieferung in zwei Traditionen ein, die er als

„italian“ und „northern“ bezeichnet und deren Aufteilung er in 42 Fällen beobachtet. Deutlich macht er zudem, dass das Maß der Divergenz zwischen den Überlieferungstraditionen dieser Messe hervorsticht.246 Anhand der Abwägung der einzelnen signifikanten Passagen zeigt Rodin auf, dass keine dieser Traditionen über klare Priorität verfügt, sondern dass vielmehr beide von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen und Korruptionen nach-träglich in beide Seiten des Stemmas eingeführt wurden.247 Exemplarisch schildert Rodin an fünf Varianten, wie er zu dieser Einschätzung kommt, bevor er im weiteren Verlauf die einzelnen Textzeugen innerhalb der Über-lieferungstraditionen verortet.248Hierbei nutzt er vor allem den Vergleich mit anderen Josquin sicher zugeschriebenen Werken, basierend auf dem von ihm mitbegründetenJosquin Research Project.249Ansonsten bezieht er sich auf die Integrität melodischer Gesten, der plausibleren Richtung bei der Entwicklung einer Lesart aus der jeweils anderen oder stilistische Charak-teristik. Hierbei zeigt sich deutlich, dass die nördliche Tradition in weiten Teilen als Simplifizierung der italienischen Tradition eingeschätzt wird.

Komplikationen entstehen bei der Verortung der Überlieferung in diesen zwei Traditionen anhand zweier Quellen: [SegC s.s.] und [CasAC M(D)].

245 Vgl. NJE 6, S. 127.

246 Vgl. NJE 6, S. 28.

247 Vgl. NJE 6, S. 32.

248 Vgl. NJE 6, S. 28–32.

249 JRP; Rod20.

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So konstatiert Rodin selbst im Falle von [SegC s.s.], das er der nördlichen Tradition zuordnet, 17 gemeinsame Lesarten mit der italienischen Tradition und sieht diese als Indikation, die Quelle an die Spitze der nördlichen Tradition zu setzen.250 Ebenso setzt sich [VatS 41] gegenüber der bei-den anderen Hauptquellen, dem frühesten Petrucci-Druck [Pet1502] sowie [CasAC M(D)], der italienischen Tradition ab und wird dadurch näher an der Spitze des Stemmas verortet. Hierbei werden die beiden anderen Quellen als Resultat einer Umarbeitung einer musikalisch aktiven Person betrachtet.

Dennoch verfügt [CasAC M(D)] über einige Fälle, in denen die Quelle als einzige mit der nördlichen Tradition übereinstimmt.251Um in diesem Fall eine Umsortierung des Stemmas zu vermeiden, führt Rodin zwei Hypothe-sen an: Entweder wurden die Lesarten des Archetypen auf beiden Seiten des Stemmas tradiert und unabhängig voneinander auf die gleiche Weise emen-diert, oder [CasAC M(D)] oder dessen Vorlage emendierten in zufälliger Übereinstimmung mit nördlichen Lesarten. Im ersten Szenario hätten aber sowohl die vatikanische Quelle als auch der Petrucci-Druck unabhängig voneinander denselben Fehler gemacht.252 Insbesondere unter Kenntnis des besprochenen Fallbeispiels in [Urc03] erscheinen diese Sonderfälle als bemerkenswert – Urchueguías Analyse von [SegC s.s.] rückt die Handschrift näher an eine italienische Überlieferungstradition.253 Die Schwierigkeit hierbei liegt aber nicht einfach darin, dass Lesarten nicht berücksichtigt wurden, schließlich basiert die Gruppierung auf der Auswertung einer großen Zahl von Lesarten. Vielmehr erscheinen die Begründungen der jeweiligen Sonderstellung der Quellen problematisch. Jeder Erklärungsansatz ist nur für einen der Fälle gültig und gleichzeitig finden sich Lesarten auf beiden Seiten eines Stemmas, in dem zwei gleichberechtigte Traditionen abgebildet sind. Bei der anschließenden Auswahl von Lesarten für die Edition folgt

250 Vgl. NJE 6, S. 32, 35.

251 Vgl. NJE 6, S. 32–33.

252 Vgl. NJE 6, S. 34.

253 Vgl. Urc03, S. 227–228.

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2.3 Fallbeispiele er wiederum Strategien, wie sie bereits umrissen wurden. Hinzu kommt, dass Lesarten von [SegC s.s.] Vorrang eingeräumt wird, wenn sie mit der italienischen Tradition übereinstimmen, da hierdurch auf eine größere Nähe zum Archetypen geschlossen wird.254 Ebenso dienen Erklärungsansätze zur Tilgung eigentümlicher Lesarten, wie auch die explizite Bevorzugung vonlectiones difficilores und Verwerfung von Passagen, die als Dekoration klassifiziert werden, zur Lesartenauswahl.255

Deutlich wird in beiden Beispielen, dass Rodin als Josquinforscher256 sich vor allem der Rekonstruktion eines Komponistentextes verpflichtet fühlt.257 Im Falle der M. L’homme armé sexti toni führt die angesprochene Varianz der Versionen zur Hypothese, dass Josquin entweder zwei Versionen kompo-niert hätte oder nicht an einem einzigen fixierten Text interessiert war258– einem Erklärungsmuster, das in solchen Fällen gerne angefügt wird, wenn keine autorisierte Version ausgemacht werden kann.259 Wie auch Just legt Rodin bei der Gewichtung und Bewertung der Lesarten insbesondere Wert auf qualitative und genetische Erklärungsmuster, die sich stark an kontra-punktischen Gesichtspunkten orientieren. Neu ist allerdings die Auswahl von Lesarten anhand stilistischer Merkmale auf der Grundlage einer großen Datenbasis. Infrage steht allerdings, wie evident diese Methode wirklich ist, wenn zum stilistischen Vergleich im Falle von Werken Josquins das übrige Material der New Josquin Edition herangezogen wird, ebenfalls wiederum Produkte eines Editionsprozesses. Im schlechtesten Fall reproduziert man hierbei nicht die stilistischen Merkmale einer Komponistenpersönlichkeit, sondern vielmehr die Merkmale, die ihr im Rahmen der Renaissancemu-sikforschung zugeschrieben werden. Relativieren lässt sich dieser Zweifel

254 Vgl. NJE 6, S. 35.

255 Vgl. bspw. NJE 6, S. 38. 40. 41.

256 Siehe auch Rod12.

257 Vgl. NJE 6, 124, Fußnote.

258 Vgl. NJE 6, S. 43.

259 Siehe auch 2.2.3.

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allerdings alleine durch das Verhältnis des Umfangs eines ganzen Messzy-klus im Vergleich zum Umfang sämtlicher varianter Lesarten. Anhand der Auswertung des Materials des [JRP] beziffert Rodin die Varianz zwischen

~3% im Falle der M. L’homme armé seti toni und 1,28% im Falle der M.

Gaudeamus.

2.3.6 Konträre Strategien zur Kontextualisierung