• Keine Ergebnisse gefunden

Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.2 Relationen

2.2.2 Der Begriff der Signifikanz

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.2 Relationen scheidung von Varianten zur Grundlage einer unterschiedlichen Relevanz für den Editionsprozess gemacht.69Explizit bezieht er alle seine weiteren Ausführungen nur auf substantielle Varianten, die für Feder der alleinige Gegenstand der Filiation sind.70

Ein völlig anders gelagerter Fehlerbegriff findet sich dagegen beispielsweise bei Martin Just, aber auch bei Margaret Bent. Hier wird vielmehr eine qua-litative Eingrenzung vorgenommen statt einer kontextabhängigen, ähnlich wie sich auch bei Feder ein rein qualitativer Variantenbegriff konstituiert, unabhängig von der Verortung innerhalb eines Stemmas. Statt einenFehler schlichtweg als Abweichung zu sehen oder, analog zu Maas’ Variantenbe-griff, diesen in Bezug zu den übrigen Textzeugen zu definieren, wählt Just dagegen eine rein satztechnische Abgrenzung:

„Die neutrale Bezeichnung Variante bleibt zunächst jenen Ab-weichungen vorbehalten, die satztechnisch möglich sind und über geringfügige rhythmische Verschiedenheiten und notati-onstechnische Unterschiede hinausgehen. Die Grenzen zu den unverkennbaren Fehlern sind aber fließend; so kann z. B. nicht nur eine, auch zwei oder mehrere Varianten können ihren Ur-sprung in der Verbesserung des gleichen Fehlers haben, und bei vielen Varianten bleibt unklar, wie sie entstanden sind.“71

Im Rahmen der weiteren Ausführungen werden die Folgen dieses Fehler-begriffs noch deutlicher betrachtet. An dieser Stelle soll zunächst, um die Begriffsbestimmung vor der Schilderung der Strategien zur Konstruktion von Stemmata abzuschließen, noch der Begriff des Leitfehlers betrachtet werden.

69 Siehe 2.1.

70 Vgl. Fed87, S. 61.

71 Jus83, S. 130.

57

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

Seit der zweiten Auflage des Textes von Maas ist diesem eine ältere Ab-handlung über „Leitfehler und stemmatische Typen“ angefügt, die sich detaillierter als der Haupttext mit der Beschaffenheit stemmatisch verwend-barer Fehler beschäftigt.72AlsLeitfehler (errores significativi) bezeichnet er stemmatologisch verwendbare „Fehler, die beim Abschreiben entstehen“73. Diese bilden die Grundlage seiner Beweisführung, die nicht direkt über den Nachweis der Abhängigkeit eines Zeugen erfolgt, sondern über den Ausschluss der Unabhängigkeit. Direkt nachweisbar sind ausschließlich die Unabhängigkeit zweier Textzeugen durch Trennfehler sowie die Zusam-mengehörigkeit zweier Textzeugen gegenüber einem dritten durch ihnen gemeinsameBindefehler.74 Wesentlich bei der Bestimmung von Leitfehlern ist, wenn man Maas Ausführungen folgt, ein qualitativ bestimmter Begriff von Signifikanz. So müssen Leitfehler anhand des Standes der Konjektu-ralkritik über die Zeit zwischen den relevanten Quellen bewertet werden.

Trennfehler dürfen als solche „in dieser Zeit nicht durch Konjektur ent-fernt worden sein“.75 Bindefehler dagegen weisen „aller Wahrscheinlichkeit nach“ auf eine Zusammengehörigkeit hin, insofern ein Fehler nicht un-abhängig voneinander in mehreren Quellen begangen wurde – so Maas’

Einschränkung. Der theoretischen Unmöglichkeit dieses Ausschlusses ist er sich bewusst, dennoch führt er weiter aus, dass die „Wahrscheinlichkeit der Zusammengehörigkeit [...] umso größer [ist], je seltener der gleiche Fehler oder ein ähnlicher im übrigen Text von B oder von C oder von beiden Zeugen auftritt“.76

Er gibt damit zwar keine direkten Kriterien bezüglich der Beschaffenheit an, die Fehler als Leitfehler qualifizieren, stattdessen nennt er aber inhaltlich zu begründende Qualitätsstandards. Hierdurch erlangt die Methode, die

72 Vgl. Maa57, S. 3; Maa57, S. 27.

73 Maa57, S. 27.

74 Vgl. ebenso Maa57, S. 27.

75 Maa57, S. 27.

76 Maa57, S. 27–28.

58

2.2 Relationen an sich bis zu diesem Punkt als mit kombinatorischen Mitteln zu lösende Aufgabe gesehen werden kann, eine Rückbindung an inhaltliche Kriteri-en, die sich spätestens in Maas’ Ausführungen zur Examinatio in aller Deutlichkeit widerspiegeln. Gerade wenn es darum geht, sich zwischen gleichwertigen Varianten entscheiden zu müssen oder eine Überlieferung – wie es Maas ausdrückt – „zu heilen“77, rekurriert er insbesondere auf Sachkenntnisse und Wissen über Stilistik. Ebenso verweist er als mög-liche Entscheidungsgrundlagen auf Überlegungen psychologischer Natur, Fehlertypologien sowie detaillierte Kenntnisse zur jeweiligen Überlieferungs-geschichte, Sprachgeschichte sowie Geschichte der Schrift, Orthographie, Kultur und dergleichen.78Während aber zu bemerken ist, dass sich diese detaillierten Ausführungen nur auf Examinatio, Divitatio und Selectio be-ziehen, weisen seine Beispiele zur Erläuterung von Trenn- und Bindefehlern Bezüge auf ähnliche Argumentationsstrukturen auf, wenn auf spezifische Gegebenheiten der Konjekturalkritik oder Charakteristika der vorliegenden Textzeugen rekurriert wird.79

Im Rahmen der Adaption der Filiation durch die Musikwissenschaft finden sich diese Eigenheiten ebenfalls. Es wird sowohl das Konzept der Leitfehler in Form von Trenn- und Bindefehlern übernommen als auch die Beschrei-bung der Fehler anhand von Bewertungsmaßstäben, die sich insbesondere am Begriff der Signifikanz von Fehlern zeigen. Auch hier wird zunächst einmal die Signifikanz in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit des unabhän-gig voneinander wiederholten Auftretens eines Fehlers wie auch dessen Korrigierbarkeit definiert:

„There can be no doubt that one of the most valid indications of source relationships at the level of the individual piece is offered by conjunctive and separative errors, provided that these are

77 Maa57, S. 10.

78 Vgl. Maa57, S. 10–11.

79 Vgl. Maa57, S. 27–28.

59

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

significant errors, that is, ‘not such mistakes as two scribes are likely to make independently, or such as a scribe could easily remove by conjecture.’ Naturally, it is possible for an error to be both conjunctive and separative at the same time.“80

Feders Beschreibung fällt lediglich etwas detaillierter aus in Hinblick auf das Verhältnis von Binde- und Trennfehlern. Er bleibt dabei sehr viel näher als Atlas an Maas, indem er die jeweiligen Signifikanzkriterien jeweils nur einer Fehlergattung zuweist und auf die prinzipielle Unabhängigkeit dieser Kriterien hinweist:

„Beweiskräftig sind nur signifikante oder Leitfehler. Ein Fehler, der nicht zufällig mehrfach entstehen kann, ist ein Bindefehler;

er bindet die Quellen, die ihn aufweisen [...]. Aber der Binde-fehler ist nicht notwendigerweise unverbesserbar. [...] Anders bei einem Trennfehler. Ein Trennfehler ist ein solcher, der zwar vielleicht von mehreren Abschreibern oder Druckern gemacht, aber von keinem mehr richtig verbessert werden konnte [...].

Der Trennfehler trennt also die Quellen, die ihn aufweisen, von jenen, die nicht aufweisen. Die letzteren sind unabhängig von den ersteren.

Am brauchbarsten sind solche Fehler, die die nützlichen Eigen-schaften beider Arten von Fehlern vereinigen: die also zufällig weder mehrmals gemacht noch jemals richtig verbessert werden konnten.“81

Auf die Beschaffenheit von Fehlern muss Feder allerdings nicht mehr ein-gehen, da er an diesem Punkt seiner Beschreibung der Methode bereits die qualitative Beschreibung von Varianten vorangestellt hat und hier nur noch substantielle Varianten berücksichtigt – also damit Abweichungen in

80 Atl75, S. 42.

81 Fed87, S. 62.

60

2.2 Relationen Tonhöhe und Tondauer meint. Dass Feder sich bei seinem Variantenbegriff argumentativ vor allem auf Musik nach 1600, die bereits in moderner Notation vorliegt, bezieht82, ist dabei aber ein wesentlicher Unterschied zu den Ausführungen Atlas’, dessen Gegenstand Chansonniers des 15. Jahr-hunderts sind. So stellt letzterer seinen Ausführungen keinen definierten Variantenbegriff voran, sondern gibt stattdessen auf die spezifischen Ei-genschaften von mensural notierter Musik des 15. Jahrhunderts bezogene Kriterien zur Unterscheidung signifikanter von nicht-signifikanten Varian-ten an.83 Er folgt dabei der Maßgabe, dass die Wahrscheinlichkeit eines unabhängigen Wiederauftretens möglichst auszuschließen sei. Dabei zeigen sich gegenstandsbedingt teilweise deutliche Unterschiede zu Feder.

Als signifikant beschreibt Atlas – zunächst analog zu Feder – insbesonde-re Varianten, die substantielle Unterschiede entweder in ihinsbesonde-rer gesamten polyphonen Anlage oder der melodischen Linie einer einzelnen Stimme aufweisen, seien diese (letztere) nun besonders umfangreich oder auch völlig ohne klangliche Konsequenz.84Darüber hinaus nennt er aber noch weitere Beispiele signifikanter Varianten, beispielsweise das mehrfache Auftreten derselbensi placet-Stimme, charakteristische Schreibungen in Textincipits, die jeweilige Komponistenzuschreibung im Falle widersprüchlicher Zuschrei-bungen, aber auch in der Anzahl der Seitenöffnungen und Seitenumbrüche der Stimmen.85

Als nicht signifikant bezeichnet Atlas verschiedene notationsspezifische Charakteristika, die sehr gut unabhängig voneinander auftreten können.

Dazu zählt er Varianten bezüglich stereotyper Kadenzformeln, Akzidentien, Schlüsselung – außer identischer Schlüsselwechsel –, Ligaturen, minor color,

82 Siehe 2.1.

83 Hier sei bemerkt, dass die Ausführungen Dumitrescus und van Berchums in Oppo-sition hierzu zu verstehen sind. Siehe 2.1.

84 Vgl. Atl75, S. 45.

85 Vgl. Atl75, S. 46.

61

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

die Verwendung längerer Töne statt Tonwiederholungen oder umgekehrt sowie das Einfügen von Durchgangsnoten in Terzsprünge.86

In dieser Zusammenstellung der Kriterien signifikanter und nicht signifi-kanter Kriterien nach Atlas zeigen sich deutlich die Unterschiede zu Feders Konzept substantieller Varianten. Es werden Kriterien, die keine klangli-chen Auswirkungen haben bzw. nicht einmal die Musiknotation an sich betreffen, Signifikanz zugeschrieben, während dies bei Abweichungen mit klanglichen Auswirkungen nicht immer der Fall ist. Zusammengefasst lässt sich bezüglich der visuellen Charakteristika sagen, dass Atlas Abweichun-gen, die die Notation an sich betreffen – wie beispielsweise Ligaturen – als nicht signifikant erachtet, während quellenspezifischen Eigenschaften, wie die Komponistenzuschreibung, die Seitenaufteilung oder die Schreibung der Textincipits, einen indikativen Wert zuspricht. Bezüglich der Abweichungen in Tonhöhe und Tondauer sind Atlas’ Ausführungen uneinheitlich. Außer Frage steht die Signifikanz weitreichender musikalischer Unterschiede. Auch erweist sich die nicht ausreichende Signifikanz kleinerer Abweichungen, insbesondere bei Kadenzformeln, der Fragmentierung langer Noten bzw.

der Zusammenfassung von Tonwiederholungen oder die Einfügung von Durchgangsnoten, soweit als naheliegend, als diese im Rahmen sängerischer Improvisation gesehen werden können. Widersprüchlich erscheint dage-gen in diesem Zuge der indikative Wert melodischer Abweichundage-gen ohne klangliche Auswirkungen, wie das Kürzen einer Note begleitet von einer eingefügten Pause um den entsprechenden Wert.87Auf mögliche Auswir-kungen von Varianten auf die Interpretation des Textes geht Atlas nicht ein. Ebenso ist in Hinblick auf diese Einteilung die Entscheidungsgrundlage für die Nennung nicht signifikanter Eigenschaften als zwiespältig zu sehen:

86 Atl75, S. 46–47.

87 Siehe hierzu Beispiel 6: Atl75, S. 45.

62

2.2 Relationen

„That the above types are not significant becomes evident when one recognizes that there are many instances in which two or more sources are demonstrably related on the ground that they share one or more significant variants or errors, but at the same time disagree with respect to their individual use of the above notational characteristics. There are also instances in which the reverse is true, that is, the sources agree with respect to the minor variants, but disagree with respect to important significant variants.“88

Um diese Vorgehensweise zusammenzufassen: Es kann festgehalten werden, dass zwei nicht miteinander vereinbare Muster an Gruppierungen von Quellen basierend auf deren Abweichungen einander gegenüberstehen, die letztlich gegeneinander aufgewogen werden müssen, um zu einer eindeutigen Entscheidung zu kommen. Sofern dies pauschal erfolgt, ohne eine detaillierte Charakterisierung der zur Debatte stehenden Varianten, ist ein derartiges Verfahren fragwürdig. Die Argumentation, bestimmte Abweichungen als insignifikant zu betrachten, weil sie dem Verteilungsmuster signifikanter Varianten widersprechen, birgt das Risiko einer Tautologie. Lediglich durch die Beschränkung derartiger Entscheidungswege auf Einzelfälle, bei denen klare Unterschiede im Ausmaß der jeweiligen Abweichungen auszumachen sind, kann dieses Risiko minimiert werden. Darüber hinaus bedarf es einer externen Informationsbasis, sollen generalisierbare Aussagen getroffen werden. Ebenso ist es noch möglich, Aussagen über Tendenzen zu treffen, die aber dennoch stets eine sorgfältige Einzelprüfung erfordern. Dies fordert Atlas selbst, auch wenn sich der Verdacht des Zirkelschlusses nicht gänzlich ausräumen lässt:

„While we must evaluate the nature of each variant carefully before deciding if it is significant or not, our own experience—

88 Atl75, S. 47.

63

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

based on the collation of almost two hundred and fifty chansons—

has led us to regard certain types of variants as being always significant, while others are always insignificant.“89

Deutlich wird in jedem Fall, dass die von Maas genannten Qualitätskriterien für Leitfehler, letztlich die sicherste Möglichkeit bieten, ein notwendiges Signifikanzniveau zu formulieren. Die jeweilige hierzu erforderliche Beschaf-fenheit hängt darüber hinaus nicht nur vom jeweiligen Gegenstand ab, sondern erfordert auch eine sorgsame Einzelfallbetrachtung. Grundsätzliche Aussagen über die Signifikanz bestimmter Varianten bergen dagegen immer das Risiko unzulässiger Schlussfolgerungen, wenn diese tautologisch erfolgen oder nicht auf ein bestimmtes Repertoire übertragbar sind.

Den hohen Wert der Einzelfallbetrachtung, wie auch die Beurteilung der Beziehung von Textzeugen basierend auf der Evaluierung signifikanter Leitfehler, lässt sich im Kontext der untersuchten Forschungsliteratur als zentral ansehen. Als besonders pointierte Äußerung hierzu sei ein Statement von Margeret Bent angeführt:

„It has often been said that manuscripts – and variants – should be weighed and not counted. Statisitcal counts of readings tell us nothing unless it is clear that the versions are stemmatically independent. However, although the strongest evidence for relating sources comes from variants that are not only shared but ‚significant‘ (that is, variants not likely to be arrived at independently by two scribes)“.90

Modelle und Strategien zur Etablierung direktionaler Beziehun-gen Basierend auf dem Auffinden sowie dem Vergleich und der Bewertung von Varianten ist zur Entwicklung eines Stemmas auch die Etablierung

89 Atl75, S. 45.

90 Ben81, S. 307.

64

2.2 Relationen direktionaler Beziehungen zwischen den einzelnen Textzeugen notwendig.

Auch hierzu gibt es Strategien, die neben der bloßen variantenbedingten Gruppierung von Textzeugen insbesondere klären müssen, durch welche Faktoren sich die Richtung der Abhängigkeit ergibt. Deutlich wird, dass Maas sich nur am Rande mit der Frage nach der Direktionalität von Be-ziehungen im Stemma beschäftigt. Hauptsächlich wird die Frage implizit geklärt. So konstituiert sich die Beziehung zweier Textzeugen nach Maas vor allem durch das Muster der Fehler, beispielsweise indem ein Textzeuge alle Fehler eines anderen zeigt und darüber hinaus mindestens einen zusätz-lichen Fehler.91 In diesem Fall ist sowohl die direkte Beziehung der beiden Zeugen angezeigt, aber auch die Richtung der Abhängigkeit aufgrund des Maßes an Übereinstimmung in falschen Lesarten. In der weiteren Auswahl der Lesarten im Zuge der Rekonstruktion sind diese abhängigen Lesarten dann nicht weiter zu berücksichtigen –eliminatio codicum descriptorum.92 Davon abzugrenzen ist die indirekte Beziehung zweier Textzeugen nach Maas. Hier konstituiert die bei beiden übereinstimmende Abweichung ge-genüber weiteren Textzeugen eine Beziehung. Diese kann aber nicht direkt sein, da beide Textzeugen jeweils über eigene – nicht in Übereinstimmung zu bringende – Abweichungen verfügen. Sind in dieser Weise mindestens drei Textzeugen miteinander indirekt verbunden, ergibt sich bei der Rekon-struktion die Eliminierung der vereinzelten Lesungen –eliminatio lectionum singularium.

Auch Feder nennt die Eliminatio als die beiden Grundsätze, die zur Lesar-tenauswahl führen93, konkretisiert diese aber nicht weiter. Margaret Bent wiederum konkretisiert – gerade auch in Bezug auf spätmittelalterliche Polyphonie – Ansätze zur Konstituierung von Beziehungen zwischen Text-zeugen, die nicht unmittelbar auf der Basis der Eliminierung ‚wertloser‘

91 Vgl. Maa57, S. 6.

92 Vgl. Maa57, S. 5.

93 Vgl. Fed87, S. 63–64.

65

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

Lesarten in Bezug auf die Rekonstruktion eines Archetypus argumentieren.

Vielmehr geht sie von den Grundprinzipien aus, die auch bei Maas eta-bliert werden, konkretisiert diese aber und grenzt dabei auchdirektionale Beziehungen vondirektenAbhängigkeitsbeziehungen ab:

„A directional or filial relationship may exist if all omissons and errors of the exemplar are transmitted to the copy and no more than about half of its ambiguities correctly resolved. The extent to which allowance should be made for scribal initiative will depend on the picture of that scribe’s habit yielded by his other work. Allowing for this factor, there should be nothing correct in the copy that is wrong in the exemplar. Any further errors or omissons in the copy should not be such as could derive from another extant source.

In order to demonstrate that such a relationship is not merely directional but also direct, further evidence must be present, such as the reproduction of calligraphic idiosyncrasies, details (not necessarily errors) relating to the physical layout and notably associated with line ends, clef changes and accidental placing. (To copy a passage in a different clef is not to miscopy it, but the chances of pitch error by a third in the affected portion will be greatly increased.)“94

Deutlich wird, insbesondere in Bezug auf die zuvor betrachteten Ausfüh-rungen Atlas’, zum einen die Miteinbeziehung von Schreibergewohnheiten in die Bewertung der Beziehung, auch wenn diese nicht als signifikant er-achtet werden. Es kann vielmehr festgehalten werden, dass derartigen nicht signifikanten Schreibereigenheiten nicht die Fähigkeit zugesprochen wird, Beziehungen zu konstituieren. Allerdings sind sie, nach Maßgabe Bents, notwendig, um darüber hinaus direkte Abhängigkeiten zu diagnostizieren.

94 Ben81, S. 306–307.

66

2.2 Relationen Einen ähnlichen Ansatz vertritt auch Feder in Bezug auf „akzidentielle Textbestandteile“.95

Zum anderen zeigt sich die Relevanz des konkreten Schriftbildes einer Quel-le auch in anderer Hinsicht, vielmehr auf den physischen Zustand bezogen.

So bewertet Bent nicht nur die bloßen Abweichungen in Hinblick auf eine mögliche Beziehung, sondern berücksichtigt auch die mögliche Folgewirkung von Ambiguitäten. Wie sie allerdings hierbei zu einem Richtwert der korrekt geklärten Ambiguitäten kommt, wird nicht deutlich. Die hohe Beweiskraft solcher Passagen ist dabei nicht nur ein rein musikbezogenes Phänomen.

Auch Maas erwähnt zusätzliche Möglichkeiten, durch die eine Abhängigkeit nachweisbar ist.96So weist er darauf hin, dass beispielsweise im Fall der mechanischen Beschädigung einer Vorlage, diese als offenkundige Ursache für Auslassungen in Abschriften ausgemacht werden könne. Da im Fal-le der Überlieferung von Musik Ambiguitäten notationsbedingt als recht häufig erachtet werden können, ist hier die Entwicklung von Strategien ausgehend von mehrdeutigen Lesarten naheliegend. Als weitere Möglichkeit eines externen Nachweises für die Abhängigkeit von Quellen nennt Maas zudem auch den Rückgriff auf die Altersbestimmung der Quellen anhand von Schriftuntersuchungen. Während aber Atlas die chronologische Ab-grenzbarkeit der Quellen voneinander, ebenso wie das Wissen über deren zeitliche Reihenfolge, als Voraussetzung für die Anwendung der Methode nennt97, wird diese Möglichkeit von Bent aufgrund der verhältnismäßig kurzen Überlieferungszeiträume ausgeschlossen.98

Ist eine Zuhilfenahme externer Informationsquellen zur Konstituierung von Beziehungen zwischen Quellen nicht möglich, werden die Folgen der Implikationen über den Prozess von Kopie und Überlieferung, welche

95 Vgl. Fed87, S. 65.

96 Vgl. Maa57, S. 6.

97 Vgl. Atl75, S. 47.

98 Siehe hierzu 2.2.1.

67

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

die Stemmatologie mit sich bringt, besonders virulent. So muss in aller Deutlichkeit konstatiert werden, dass einer Bewertung der Beziehungen unter Textzeugen basierend auf dem Zuwachsen von Reproduktionsfehlern die Annahme zugrunde liegt, dass Überlieferung ein degenerativer Prozess ist. Dass eine derartige Konnotation nicht unbedingt notwendig impliziert sein muss, erschließt sich von selbst, insbesondere wenn das Augenmerk weg von der Terminologie gelenkt wird. Denn in der Basis geht das Modell des Stemmas zunächst von einem Ursprung aus, auf dem alle weitere Überlieferung beruht. Zusätzlich wird der Kopierprozess als prinzipiell anfällig für eine Vielzahl an Störungen betrachtet, die dazu führen, dass dieser Ursprungszustand nicht erhalten bleibt.99

Insbesondere im Rahmen von Maas’ Ausführungen zurExaminatio lässt sich bereits das Potenzial einer Überbewertung dieser Implikationen beob-achten.100 Um basierend auf einer Recensio, die nicht zu einem eindeutigen Ergebnis geführt hat, zwischen Varianten unterscheiden zu können, legt er Grundlagen für einen editorischen Entscheidungsprozess, indem er zum einen Qualitätskriterien einer Überlieferung und zum anderen Strategien zu deren weiteren Behandlung bereitstellt. Seine Wortwahl ist dabei recht deutlich, wenn er von Verderbnissen einer Überlieferung spricht und eine Überlieferung als „die beste ausdenkbare oder als gleichwertig mit anderen ausdenkbaren oder als schlechter als eine andere ausdenkbare aber doch erträglich, oder als unerträglich“ bezeichnet.101 Während er darauf hin-weist, dass als Bewertungskriterien sowohl inhaltliche als auch stilistische Maßstäbe heranzuziehen sind, hebt er hervor, dass sich ein Archetypus, der sich „als völlig frei von Verderbnissen [erweist]“, das Original sein kann.102 Wird dieser Gedanke verfolgt, ist die methodische Definition des Originals fest mit dem Begriff derVerderbnisverbunden.

99 Siehe hierzu wiederum 2.2.1.

100 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Maa57, S. 9–15.

101 Maa57, S. 10.

102 Maa57, S. 10.

68

2.2 Relationen Außerdem erläutert Maas die Notwendigkeit, verdorbene Überlieferung zu heilen, indem Anomalien zu beseitigen sind, sei es durchdivinatiooder selec-tio. Hierzu soll „in erster Linie die stilistisch und sachlich bessere [gewählt werden], in zweiter diejenige, durch die die Entstehung der Verderbnis am leichtesten begreiflich wird“.103Die in diesem Zuge erläuterten Erwägungen umfassen sowohl systematische Strategien, wie die Typologisierung von Anomalien und deren Häufungen sowie die Einschätzung dieser auf Basis überlieferungsgeschichtlicher Einschätzungen. Insbesondere die Betonung des Wertes systematischer Studien hierzu ist nicht von der Hand zu weisen.

Als potenziell problematisch zu nennen ist aber Maas’ Hinweis auf den Faktor der „Trivialisierung“. Zwar erscheint es sinnvoll, auf psychologische Erwägungen bei der Typologisierung von „Verderbnissen“ zurückzugreifen, allerdings verbindet die Rechtfertigung, dielectio difficilior – die schwie-rigere Lesart –, zu bevorzugen104, mit dem Begriff der Verderbnis einen gewissen Qualitätsanspruch, der das Prinzip der Degeneration deutlich hervortreten lässt. Feder geht sogar so weit, die Bevorzugung der lectio difficilior zu einem „Hauptgesichtspunkt bei der editorischen Interpretati-on vInterpretati-on Varianten“ zu erklären, denn diese sei „vermutlich die echte, und meist ist sie auch die schönere“, da, wie er schildert, „die Normalität und Gleichförmigkeit der einzelnen Stellen innerhalb einer Komposition ständig zu [nimmt]“.105

Deutliche Schwierigkeiten bereitet die Implikation dieses Prinzips im Falle von Interpolationen, dem Auftreten bewusster Eingriffe. Da Maas’ Mo-dell bisher auf versehentlichen Änderungen beruhte, weist er ausdrücklich darauf hin, dass so die „dornigsten Probleme “ entstehen.106Auch Feder, der grundsätzlich von einem mechanischen Überlieferungsprozess ausgeht, hebt diese Schwierigkeit hervor. Wie Maas ist er der Meinung, dass diese

103 Maa57, S. 11.

104 Vgl. Maa57, S. 11.

105 Fed94, S. 213.

106 Vgl. Maa57, S. 12.

69