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Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.3 Fallbeispiele

2.3.1 Gruppierung von Quellen

Josquins M. Ave maris stella und M. De beata virgine sind Teil des dritten Bandes der New Josquin Edition (NJE), herausgegeben von Willem Elders.

Wie bereits erwähnt wurde,175sticht die M. De beata virgine allein durch die sehr große Anzahl an Quellen, in denen sie als vollständiger Zyklus oder in Teilen überliefert ist, heraus. Eben dieser Herausforderung muss damit auch im Rahmen der Quellenevaluation Rechnung getragen werden. Aus diesem Grund wurde schon 1975 eine Studie von Thomas Hall publiziert, die sich mit der computergestützten Kollation und Recensio von Renaissancemusik beschäftigt.176Elders führt hieraus vor allem die 700 detektierten Stellen mit varianten Lesarten wie auch die 25000 verschiedenen Lesarten an, die bei der Konstruktion eines Stemmas in Betracht gezogen werden müssten – darüber hinaus geht er nicht auf diesen Ansatz ein. Vielmehr nutzt er dies als Basis, wie auch die unmögliche Schätzung der Zahl von verlorenen Quellen, um ein verlässliches Stemma als unrealistische Erwartung einzuordnen.177 Elders führt aber sowohl für die M. De beata virgine als auch die, im Verhältnis ‚nur‘ in 24 Quellen überlieferte, M. Ave maris stella keine voll-ständige Filiation durch, an deren Ende ein Stemma steht. Stattdessen gruppiert er die Quellen anhand ihrer Provenienz und wertet diese dann innerhalb dieser Gruppe aus. In diesem Zuge diskutiert er auch Abhängig-keiten und nimmt eine Eliminatio vor. Im Falle der M. Ave maris stella

175 Siehe ebenfalls 1.1.

176 Hal75.

177 Vgl. NJE 3, S. 87.

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wählt er eine Hauptquelle aus, der die Edition in weiten Teilen folgt.178Die musikalisch beste Version der M. De beata virgine sei wiederum auf der Basis eines Vergleichs von sechs Manuskripten und zwei Druckeditionen vor 1521 zu erreichen.179Im Rahmen der Evaluierung einer Quellengruppe legt er zumeist den Fokus auf die ältesten Quellen der jeweiligen Gruppe. Die Beschreibung der Abhängigkeiten erfolgt analog zu einer Recensio. Hierbei unterscheidet Elders anhand musikalischer Kriterien konsistent zwischen Fehlern und Varianten. Explizit wird, dass der Begriff derVariante immer für Abweichungen in Tondauer und/oder Tonhöhe verwendet wird.180Auch im Falle einer Lesart der M. De beata virigne, die parallele Primen erzeugt, spricht Elders im Falle dieser „contrapunctal infelicity“ noch von einer Variante.181 Darüber hinaus werden aber auch Abweichungen in Bezug auf Ligaturen, Colorierung, Kadenzen und Kanonanweisungen angesprochen.

Über weite Strecken hinweg werden variante Lesarten abgegrenzt, die bei-spielsweise nach der Nennung von Atlas182 nicht als signifikant einzustufen wären.183 Eine Abhängigkeit konstatiert Elders somit in dem Falle, wenn eine Quelle sämtliche Fehler einer anderen übernimmt, sie darüber hinaus noch Ähnlichkeiten in notationsspezifischen Details bzw. Textunterlegung aufweist und zusätzlich neue Fehler einführt.184Da er auf die Konstuktion eines Stemmas verzichtet, werden auch Überlieferungstraditionen nicht in Form von Hyparchetypen definiert. Werden Abhängigkeiten dann als solche konstatiert, lassen sie sich zumeist als direkt verstehen, auch wenn aufgrund der nicht streng vorgenommenen Filiation nicht zweifelsfrei nachzuvollzie-hen ist, wie eng eine solche Abhängigkeit zu verstenachzuvollzie-hen ist. Außerdem werden

178 Vgl. NJE 3, S. 25.

179 Vgl. NJE 3, S. 87–88.

180 Vgl. bspw. NJE 3, S. 19.

181 Vgl. NJE 3, S. 88.

182 Siehe 2.2.2.

183 Vgl. bspw. NJE 3, S. 89.

184 Vgl. NJE 3, S. 92.

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2.3 Fallbeispiele im Falle von Fehlern auch deren Korrektur in späteren Quellen in Betracht gezogen und in Form von Abhängigkeiten herausgestellt.185

Deutlich wird, dass Elders, auch wenn er Abhängigkeiten von Quellen evaluiert, im engeren Sinne keine Filiation vornimmt, sondern es bei einer gruppierten Betrachtung der Quellen belässt. Sein editorischer Ansatz ist auch nicht auf eine detaillierte Filiation angewiesen, wählt er doch eine lockere Form der Leitquelle – für eincodex optimus-Verfahren ist die Bindung an die Leitquelle nicht eng genug. Die Wahl seiner Leitquelle basiert auf der von ihm vorgenommenen Recensio und soll in erster Linie die Anforderung erfüllen, nah an der Intention des Komponisten zu sein.

Dieses Anliegen dient hierbei als Grund dafür, häufig auf Lesarten von Sekundärquellen zurückzugreifen, wie er im Falle der M. De beata virgine schildert:

„Recension has shown that there is no single source with a complete version of the Mass, free of absolute errors. However, on the basis of the most representative sources from Josquin’s lifetime, it is possible to establish a musical text that is probably close to the composer’s intention. The earliest manuscript with a complete version of the Mass, [...] has been chosen as the principal source, even though it has been found appropriate to prefer the reading of secondary sources in many places.“186

Indem er die Gruppierung anhand der Provenienz einer Quelle vornimmt und auch zumeist die ältesten Quellen einer Gruppe ins Zentrum seiner Ausführungen stellt, gibt er diesen Aspekten ein enorm hohes argumen-tatives Gewicht. Die Bewertung einer Quelle erfolgt somit in erster Linie nach diesen Maßstäben statt nach der Qualität ihres Textzustandes. Jeg-liche Möglichkeit der Argumentation nach dem Leitsatz recentiores non

185 Vgl. bspw. NJE 3, S. 91.

186 NJE 3, S. 104.

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deterioresist somit in Elders Ansatz von vornherein ausgeschlossen. Viel-mehr ergibt sich das Bild, dass jeweils die jüngeren einer Gruppe jeweils mit den ältesten verglichen werden, statt alle Quellen als gleichwertig zu betrachten. Auch wird der Leitquelle in der Evaluation besonders viel Raum gegeben, der dazu dient ausführlich vorgenommene Abweichungen zu diskutieren.187

Betrachtet man Elders Quellenbewertung der M. Gaudeamus, verdichtet sich das Bild seiner Vorgehensweise. Auch hier nimmt er zunächst eine Gruppierung der Quellen anhand ihrer Herkunft vor. Im Falle der ersten Gruppe, basierend auf Petruccis erstem Messbuch, nimmt er ausnahms-weise die Konstruktion eines Teilstemmas vor. Hierbei zeigt sich, dass die verorteten Abhängigkeiten als direkt aufgefasst werden.188 Die Abhängig-keiten werden hierbei explizit basierend auf Fehlern etabliert und gegen weniger signifikante Befunde abgegrenzt.189Problematisch erscheint hierbei jedoch, die Abhängigkeit einer Quelle basierend auf der Korrektur zweier Fehler durch eine spätere Hand festzulegen,190sofern nicht die Möglichkeit ausgeschlossen wurde, dass die Vorlage einer Quelle nachträglich korrigiert wurde. Im Rahmen der zweiten Gruppe wird, da sich offenbar keine klaren Beziehungen der Quellen untereinander abzeichnen, auf ein Stemma ver-zichtet. Vielmehr schildert Elders ein Geflecht aus Lesarten, das in einigen Fällen übereinstimmt, in anderen wiederum nicht.191 Ein wesentlicher Teil seiner Ausführungen ist in diesem Rahmen der Verlässlichkeit der jeweiligen Quellen gewidmet, sowohl in Bezug auf Vollständigkeit als auch auf eine geringe Fehlerzahl – Elders wesentliche Kriterien bei der Entscheidung für eine Hauptquelle. Die Quellen der ersten Kategorie eliminiert er anhand zweier Gesichtspunkte: Zum einen divergieren sie in zu vielen Lesarten von

187 Vgl. NJE 3, S. 19.

188 Vgl. NJE 4, S. 25.

189 Vgl. NJE 4, S. 24.

190 Vgl. NJE 4, S. 24.

191 Vgl. NJE 4, S. 26–27.

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2.3 Fallbeispiele den zuverlässigen Quellen der zweiten Kategorie. Zum anderen führt er insbesondere zwei Quellen als besonders nah am Archetypen an, da diese eine spezielle Notationsweise destempus perfectumim Sanctus teilen, der er symbolischen Wert zumisst.192Hierbei wird deutlich, dass sich Elders auch bei einer Edition basierend auf einer Leitquelle einer Komponistenintenti-on verpflichtet fühlt. Ebenso zeigt sich, dass sich diese IntentiKomponistenintenti-on in einer möglichst hohen Verlässlichkeit wie auch in einer vermuteten Singularität äußert. Auch hier kann also ein Verständnis musikalischer Überlieferung im Sinne eines schleichend degenerativen Prozesses konstatiert werden, in dem sowohl Fehler zunehmen als auch Einzigartigkeit abnimmt.

Noch deutlicher entfernt sich die Quellenbetrachtung der M. La sol fa re mi (NJE 11.2) von James Haar und Lewis Lockwood. Sie wählen [VatS 41]

wegen ihrer Qualität wie auch ihrer Provenienz als Leitquelle aus. So ge-ben sie an, dass die Quelle zwar nicht perfekt, gerade in Bezug auf die Textunterlegung, aber dennoch eine sehr gute Quelle sei. Insbesondere, weil sie sich auf die Zeit datieren lässt, in der Josquin noch Kapellmit-glied war, geben sie dieser Quelle – die unabhängig von allen anderen ist – den Vorrang.193 So zeigt sich im Verlauf der Ausführungen zwar, dass der Bewertung ein ausführlicher Lesartenvergleich vorausgegangen sein muss, aber dennoch keine Filiation vorgenommen wurde. Sämtliche im Folgenden erläuterten Quellen werden in Bezug auf die für sich stehende Überlieferung der Leitquelle betrachtet, bzw. der weitreichenden übrigen Tradierung, die auf dem Petrucci-Druck von 1502 [Pet1502] beruht. Darauf folgend stellen sie wichtige Lesarten vor und ordnen diese, wenn überhaupt, in erster Linie stilistisch ein. Im Gegensatz zu anderen Herausgebern gehen Haar und Lockwood recht deutlich von der Möglichkeit einer Quellenkontamination aus, indem der Schreiber einer Quelle neben einer hauptsächlich

genutz-192 Vgl. NJE 4, S. 27.

193 Vgl. NJE 11, S. 89.

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ten Vorlage noch eine weitere für einzelne Lesarten konsultierte,194oder willentlichen Eingriffen von Schreibern, die explizit als „recomposition“195 bezeichnet werden. Aufgrund der geringen Zahl an wichtigen Varianten attestieren sie der Überlieferung der Messe eine außerordentliche Stabilität.

Dass sie hierbei lediglich von substantiellen Varianten im deutlichsten Sinne sprechen, zeigt sich unmittelbar bei der Erwähnung des Befundes bezüglich der „small variants“:

„Small variants such as division or agglomeration of notes, adjustment of ornamental figuration, use of ligatures andminor color(the latter not reported in this edition) are plentiful. They show a good deal of independence, with even the most faithful to Petrucci among the manuscript sources varying [...] more often than one might expect.“196

Auch hier wird deutlich, dass unter der Voraussetzung sich widersprechender Muster eine Entscheidung getroffen wurde, die unter der Bevorzugung von Parametern mit deutlichen klanglichen Auswirkungen sämtliche Phänomene, die unter dem BegriffSchreibergewohnheiten subsumiert werden, außen vor lässt. Auf das Risiko dieser Strategie wurde bereits hingewiesen.197