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Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.3 Fallbeispiele

2.3.3 Annahmen zur Genese von Varianten

2.3 Fallbeispiele argumentatives Gewicht eingeräumt werden. Letztendlich muss entschieden werden, dass diese Kadenz nicht im Archetyp enthalten war, um ihr das argumentative Gewicht einzuräumen, dass Hudson erwähnt. Dass er beide Varianten eines Stemmas präsentiert, weist wiederum darauf hin, dass er einer derartigen Einschätzung nur eingeschränkt vertraut.

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zwar Abhängigkeiten diskutiert, aber zumeist von direkten Abhängigkeiten innerhalb von Quellengruppen ausgeht und im Rahmen der Recensio keine Rekonstruktion von Hyparchetypen vornimmt. Im Rahmen der Eliminatio werden Quellen vor allem dann aus der weiteren Betrachtung ausgeschlos-sen, wenn sie eine deutliche Nähe zu anderen Quellen aufweisen oder sehr viel später entstanden sind. So werden sämtliche Quellen, die auf dem Erstdruck der Messe von Petrucci [Pet1505] basieren, wie auch eine Quelle aus dem Jahr 1550 eliminiert.218 Nicht eliminiert werden Quellen insbe-sondere dann, wenn sie singuläre Varianten überliefern oder durch ihre Beziehung zu anderen Quellen eine relevante Stellung in der Überlieferung einnehmen.219

Die bereits erwähnte Diskussion der Genese einzelner varianter Stellen nimmt Just auch im Rahmen dieser Quelleneinschätzung vor. Zum einen diskutiert er den Übergang am Ende eines Superius/Bassus-Duetts im Glo-ria sehr detailliert. Er stellt die einzelnen Lesarten vor und nimmt dann eine Einschätzung darüber vor, welche die originale Lesart sein könnte. Hierbei wägt er unterschiedliche Hypothesen ab und entscheidet sich schließlich für die, der er die höchste Plausibilität zuspricht. Kern seiner Argumentation ist hierbei ein Abwägen zwischen der Wahrscheinlichkeit der nachträglichen Einfügung bzw. Entfernung einer wiederholten Passage, ungewöhnlicher Kadenzen oder von zwei aufeinanderfolgen Semibrevis-Pausen. Deutlich wird, dass er zunächst einmal das jüngere Alter einer Quelle nicht als Widerspruch zur Möglichkeit sieht, dass diese die Ursprungsversion über-liefere, entsprechend der bereits konstatierten hohen Bedeutung, der er der Maßgaberecentiores non deteriores beimisst.220 Außerdem dient auch hier wiederum die Identifikation einer Lesart als Fehler dazu, sie nicht als ursprünglich zu betrachten – vielmehr entscheidet er sich dafür, dielectio

218 Vgl. NJE 5, S. 14.

219 Vgl. NJE 5, S. 15, 18, 19.

220 Siehe 2.2.2.

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2.3 Fallbeispiele difficilior als originale Lesart anzusehen.221 Auch der vatikanischen Quelle [VatS 23] widmet Just etwas mehr Aufmerksamkeit, obwohl sie schließlich doch aufgrund ihrer Nähe zum Petrucci-Druck eliminiert wird. Hierbei macht er sich den Umstand zunutze, dass Superius und Tenor des Agnus Dei offensichtlich fälschlicherweise doppelt kopiert wurden und diese beiden Versionen geringfügige Unterschiede aufweisen. Aufgrund der Entscheidung, eine abweichende Semiminima als in der Version nach der Seitenöffnung mit dem kompletten Agnus Dei als weniger flüssig zu betrachten, beurteilt er diese im Sinne einer lectio difficilior als ursprüngliche, während die Version auf der Seitenöffnung mit dem vollständigen Agnus Dei als korri-giert und damit gültig betrachtet wird. Da die von Just als erste Version bezeichnete Version näher an dem Petrucci-Druck liegt, eliminiert er die vatikanische Quelle letztendlich.222 Wenn er im Rahmen der Beurteilung der Quellen bereits Entscheidungen mithilfe der im Stemma präsentierten Überlieferungsstadien begründet,223wird deutlich, wie weitreichend Justs Fokus auf die Genese von varianten Lesarten ist und wie stark sie in die Einschätzung einer Überlieferung eingebunden sind. Deutlich wird zudem, wie stark hierbei das argumentative Gewicht von Maßgaben wierecentiores non deteriores oder der Bevorzugung einer lectio difficilior zugemessen wird oder der Vorstellung eines fehlerfreien Archetypen als Grundlage eines Prozesses von Degeneration und Simplifizierung.

2.3.4 M. D’ung aultre amer vs. Tu solus qui facis mirabilia: Eine Tradition, zwei Einschätzungen

Ebenso von Interesse ist die M. D’ung aultre amer. Aufgrund der mit ihr verbundenen Motette „Tu solus qui facis mirabilia“, deren erster Teil in der Messe anstelle des Benedictus und Osanna II platziert wurde, findet

221 Vgl. NJE 5, S. 15–17.

222 Vgl. NJE 5, S. 19–21.

223 Vgl. NJE 5, S. 18, 19.

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sich eine Quellenbewertung sowohl im Rahmen der Edition der Messe von Thomas Noblitt (NJE 7.3) als auch der Edition der Motette von Bonnie Blackburn (NJE 22.5). Da in beiden Fällen sämtliche Quellen benannt und diskutiert werden, ist hier ein direkter Vergleich zwischen beiden Herangehensweisen möglich. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass sich die Stemmata zwar teilweise ineinander fügen ließen, in einigen Punkten jedoch entscheidend voneinander abweichen. Gerade diese Abweichungen sind hierbei von besonderem Interesse. Zunächst einmal teilen beide die Überlieferung prinzipiell in eine Messtradition und eine Motettentradition ein, die sich deutlich anhand des Beginns wie auch des Schlusses und auch den platzierten Fermaten der Motette umreißen lassen.224Auch wird hieran erkennbar, wie stark Noblitt, obwohl er die Messe ediert, dennoch auf die Motette eingeht – auch wenn sein Stemma letztendlich nur die Messtradition abbildet.

Einig sind sich beide beispielsweise in der Zuweisung der Quellen zu der Mo-tettentradition: sowohl der Petrucci-Druck der Motette [15031], der Petrucci-Druck der Lauda [15083] als auch das Tschudi-Liederbuch [SGallS463]

werden dieser zugeordnet. Auch identifizieren beide den Motettendruck als Vorlage des Tschudi-Liederbuchs.225Allerdings verortet Noblitt den Lau-dendruck Petruccis [15083] in Abhängigkeit zum Motettendruck zum einen aufgrund der späteren Entstehung als auch von Ähnlichkeiten im Layout des Superius.226 Blackburn dagegen sieht beide Quellen als gleichrangig abhängig von einem gemeinsamen Vorgänger. Zum einen begründet sie auf Basis der Textunterlegung der Lauda, dass diese eine Kontrafaktur sein müs-se. Zum anderen zieht sie die Bezüge zur Messtradition stärker in Betracht und weist zudem auf das Fehlen des für Petrucci-Drucke charakteristischen sesquialtera-Zeichens hin, welches allerdings im Motettendruck auftaucht.

224 Vgl. NJE 7, S. 28; NJE 22, S. 39.

225 Vgl. NJE 7, S. 28; NJE 22, S. 40.

226 Vgl. NJE 7, S. 28.

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2.3 Fallbeispiele Dieses Zeichen bezieht sie wiederum auf den Herausgeber Petruccis – Petrus Castellanus – und weist damit vielmehr den Motettendruck als Zeugnis editorischer Intervention wie auch Kontamination aus.227

Auch unterscheidet sich die Einschätzung der beiden bezüglich der Stel-lung von [FlorBN Panc. 27] im Stemma. Beide weisen auf die Nähe zur Messtradition hin. Noblitt verortet die Quelle in dieser basierend auf „the same pitch content [...] as well as the additional fermatas found in the printed sources of the Mass“.228Die Diskrepanzen zwischen beiden Quellen sprächen, so Noblitt, nicht gegen eine direkte Abhängigkeit der Quelle von [Pet1505], zumal diese viele Stücke aus frühen Drucken Petruccis enthiel-te.229 Blackburn allerdings veranlassen sie dazu, der Quelle eine Hybrid-position zuzuschreiben. Zwar folge die Eröffnung der Messtradition, aber hier werde ebenfalls nur eine als sesquialtera-Zeichen verwendet. Gemein-sam mit den beiden Fragmenten, denen auch Noblitt einen Hybridstatus zuspricht, weist Blackburn damit auch [FlorBN Panc. 27] einen Status zu, der von Kontaminationen von beiden Seiten des Stemmas geprägt sei.230 [ModD 4] wird von Noblitt ebenfalls in Abhängigkeit des ersten Messdrucks von Petrucci verortet, auch wenn er diese aufgrund der geringen Zahl an Fehlern des Druckes anhand anderer Charakteristika belegen müsse. Hierzu dient ihm zum einen der paläographische Befund, dass die mehrmalige Ersetzung eines längeren Notenwertes durch zwei kürzere erst nachträglich vorgenommen wurde. Die Ligaturen seien ebenfalls weitestgehend mit denen bei Petrucci identisch, zumal selten handschriftliche Quellen so wenig Ab-weichungen zu dessen Drucken aufweisen würden. Letztendlich begründet er den Befund aber anhand des gemeinsamen Musters an Abweichungen gegenüber der vatikanischen Quelle. Hierbei folge Modena der Lesart des

227 Vgl. NJE 22, S. 40.

228 NJE 7, S. 30.

229 Vgl. NJE 7, S. 30.

230 Vgl. NJE 7, S. 29; NJE 22, S. 42.

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cantus firmusim Petrucci-Druck, wie auch dessen konsequenter Vermeidung von Unterterzkadenzen.231 Blackburn verweist auf die abweichende Positio-nierung Noblitts, allerdings charakterisiert sie die Quelle als weiter entfernt von [Pet1505] als [VatS 41]. Sie widerspricht ihm wiederum basierend auf dem abweichendensesquialtera-Zeichen.232

Wesentlich sind somit im Vergleich der beiden Analysen in erster Linie feine Unterschiede in der Bewertung von Abweichungen. Beide geben den Fermaten, auch wenn diese nach Atlas streng genommen nicht signifikant sein sollten, erhebliches Gewicht, da sie diese vor dem Hintergrund der Tradition von Elevationsmotetten sehen.233 Noblitt diskutiert recht aus-führlich Ähnlichkeiten in Bezug auf Ligaturen, während Blackburn sowohl vertikale Linien (barlines) als auch mit besonders deutlichem Gewicht Proportionszeichen einbezieht. Akzidentien erwähnen beide, wenn auch nur mit eingeschränkter Bedeutung, indem diese Befunde unterstützen, aber nicht begründen können. Auch neigt Noblitt im direkten Vergleich stärker dazu, Divergenzen zugunsten der Verortung innerhalb einer der beiden Traditionen zu vernachlässigen als Blackburn es tut. Diese geht vielmehr von kontaminierten Befunden aus. Allerdings mag dies auch der Tatsache geschuldet sein, dass sie die einzelnen Traditionen weniger eng miteinander verbunden sieht, indem sie [15083] und [ModD 4] eine andere Position zuweist. Die Signifikanz, die Blackburn den Proportionszeichen zuweist, machen diese zu ihrer wichtigsten Leitvariante. Dies basiert darauf, dass sie das verwendete letztendlich dem Archetypen zuweist, indem sie die Abweichung davon als Spezifikum von Castellanus’ Einfluss charakte-risiert. Damit ist zwangsläufig jede Abweichung diesbezüglich auf diesen Urheber zurück zu verfolgen und alle anderensesquialtera-Zeichen eine vom Archetyp abstammende Lesart. Dass die Vorstellung über die Gestalt

231 Vgl. NJE 7, S. 31.

232 Vgl. NJE 22, S. 42.

233 Vgl. NJE 7, S. 28; NJE 22, S. 39.

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2.3 Fallbeispiele des Archetypus besonders relevant ist, zeigt sich zudem auch bei Noblitt.

Während Blackburn aufgrund der Betrachtung der gesamten Überliefe-rungsgeschichte die direkt auf den Archetypen folgenden Hyparchetypen als Aufspaltung in Mess- und Motettentradition charakterisieren kann, eliminiert Noblitt sämtliche Quellen, die nicht der Messtradition zuzuord-nen sind. Trotzdem verortet er, ohne diese Aufspaltung der Überlieferung anzuführen, noch vor dem Petrucci-Druck und der vatikanischen Quelle einen Hyparchetypen. Als Grund hierfür führt er einige Fehler an, die beide Quellen gemeinsam haben234:

„One must conclude, therefore, that the extant sources of Josquin’s Mass did not derive directly from the composer’s autograph but are all dependent on another lost manuscript in which that error was already present (designated [b] in the stemma below).“235

Zöge er stattdessen die Möglichkeit in Betracht, dass der Archetyp bereits diesen Fehler enthielte, wäre dieser Hyparchetyp obsolet, insofern er nicht die Trennung der beiden Traditionen markiert.