• Keine Ergebnisse gefunden

Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.2 Relationen

2.2.1 Hypothesen zum Kopierprozess

Da mit Hilfe der Filiation Überlieferungsprozesse analysiert werden, steht es außer Frage, dass ihr bestimmte Hypothesen zur Gestalt dieser Überlie-ferung zugrunde liegen. So liegt es bereits nahe, dass die gesamte Methode letztendlich auf dem Modell eines Vervielfältigungsprozesses beruht. Ab-gesehen vom Ursprung der Überlieferung muss damit zwangsläufig jeder weitere Textzeuge von einem anderen abstammen. Darüber hinaus zeigen die in der Forschungsliteratur genannten Voraussetzungen der Methode weitere Hypothesen auf. So soll die Überlieferung sowohl über relevante Abweichungen verfügen als auch möglichst nicht kontaminiert sein.36Neben der Forderung nach relevanten Abweichungen37ist damit die Voraussetzung, dass ein Textzeuge lediglich von einer einzigen Vorlage abstammt, wesent-lich zur Bestimmung der Relation von Textzeugen und der Identifikation von Überlieferungssträngen – die Überlieferung soll vertikal verlaufen.38 Somit hat die Methode einen Überlieferungsprozess im Sinne, der sich von einem Ursprung vervielfältigend über eine gewisse Zeit hinweg entwickelt, in dem ein/e Schreiber*in von einer einzelnen Vorlage ausgeht, der möglichst gewissenhaft gefolgt wird. Ob damit nun das möglichst detailgetreue Folgen der Vorlage gemeint ist oder die möglichst ‚fehlerfreie‘ Wiedergabe, soll an dieser Stelle lediglich zur Diskussion gestellt werden, da dieser Aspekt über den Kontext des Vervielfältigungsprozesses hinaus zu hinterfragen

36 Vgl. Maa57, S. 6; Jus83, S. 129; Fed87, S. 64; „most surviving sources were probably copied from more than one exemplar“ Boo81a, S. 320.

37 Siehe hierzu 2.2.2.

38 Vgl. Atl75, S. 47.

48

2.2 Relationen ist. Stattdessen soll an dieser Stelle auf die spezifischen Umstände der musikalischen Überlieferungsprozesse vor 1600 eingegangen werden.

Ein wesentlicher Faktor, der zunächst zu nennen ist, besteht in der Anwend-barkeit externer Informationen. Da Maas von griechischen und lateinischen Klassikern ausgeht, ist für ihn die Altersbestimmung der Textzeugen ein wesentlicher Hinweis für die Entscheidung, welcher Zeuge als Vorlage in Betracht kommt.39 Auch Atlas nennt als wesentliche Voraussetzung für die Nutzbarkeit der Stemmatik eine wenigstens zum gewissen Grad erkennbare chronologische Unabhängigkeit, wie auch die Kenntnis über die chronologi-sche Anordnung der Quellen.40Margaret Bent schließt diese Möglichkeit für Musik vor 1600 aus, da die Überlieferungszeiträume nicht groß genug seien, um sich auf rein paläographische Datierungen zu verlassen. So beschreibt sie vielmehr die Möglichkeit, bestimmte Musikquellen aufgrund ihrer stem-matischen Abhängigkeiten chronologisch zu verorten.41 Tatsächlich muss deutlich gemacht werden, dass es sich bei der Untersuchung der Überlie-ferung mensuraler Musik nicht um eine sich über mehrere Jahrhunderte erstreckende Tradition handelt. Auch wenn die Tradierung üblicherweise mehrere Dekaden umfasst, wird dabei das Ausmaß eines Jahrhunderts wenn überhaupt nur selten überschritten.42Zusätzlich zu der damit bereits schwierigen Situation bei der Nutzbarkeit externer Information, zeigt sich, dass dies wenn überhaupt nur unter größter Vorsicht erfolgen sollte. Wenn chronologische Angaben zu Quellen auf stemmatischen Indizien beruhen, ist es zur Vermeidung von Zirkelschlüssen ausgeschlossen, diese wiederum zur Filiation zu nutzen.

Ebenso muss beachtet werden, auch wiederum im Vergleich zu Klassischen Texten, dass in der Musiküberlieferung vor 1600 sehr viel kürzerer

Einhei-39 Vgl. Maa57, S. 6.

40 Vgl. Atl75, S. 47.

41 Vgl. Ben81, S. 298.

42 Siehe hierzu exemplarisch das frühe Repertoire der Päpstlichen Kapelle, 1.1.

49

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

ten überliefert wurden. Selbst vollständige Messzyklen sind vergleichsweise kurz und bieten damit nur begrenztes Beweismaterial.43 Denn auch wenn ein Chorbuch einen beträchtlichen Umfang erreichen kann, ist es nicht im Ganzen analysierbar, da es sich bei nahezu jeder Quelle polyphoner Musik um eine Anthologie handelt.44Dieser Umstand ist wesentlich für die Musik-überlieferung bis 1600 und schlägt sich seit ihrer Nutzbarmachung für die Renaissancemusikforschung auf die Filiation nieder. So bemerkt Alan Atlas, dass die Feststellung einer engen Beziehung zwischen zwei Manuskripten nicht nur darauf begründet werden könne, dass diese eine große Zahl an Konkordanzen teilen.45 Stattdessen beruft er sich als Grundlage seiner Vorgehensweise auf Charles Hamms Theorie der fascicle manuscripts46: Lose Einzelfaszikel, aus denen musiziert wurde und die unter den musik-ausübenden Institutionen zirkulierten. Diese Einzelfaszikel können dann wiederum zu größeren Sammlungen zusammengebunden worden sein47, bzw.

den einzelnen Stücken der großen Anthologien als Vorlage gedient haben.48 Auf dieser Basis entwickelt Atlas Theorien dazu wie Beziehungen zwischen Manuskripten auf der Basis der in ihnen enthaltenen Einzelstücke analy-siert werden können. So gibt er zu bedenken, dass die bloße Zählung von Konkordanzen nicht berücksichtige, dass einige Stücke über eine extreme Popularität verfügten. Vielmehr sei hier die Auswertung von Konkordanzen mit geringer Verbreitung zielführend. Als weiteres Kriterium der Beziehung führt er schließlich den Lesartenvergleich ein.49Damit ergibt sich aus der textkritischen Analyse der Einzelstücke das wesentliche Kriterium für die Beziehung größerer Anthologien zueinander:

43 Siehe Ben81, S. 298; Boo81a, S. 320.

44 Ben81, S. 298.

45 Vgl. Atl75, S. 40.

46 Vgl. Ham62, S. 166–169.

47 So wurde auch in der Päpstlichen Kapelle häufig aus Einzelfaszikeln musiziert, die erst später zusammengebunden wurden. Siehe 1.1.

48 Vgl. Ham62, S. 167.

49 Atl75, S. 41.

50

2.2 Relationen

„There can be no doubt that one of the most valid indications of source relationships at the level of the individual piece is offered by conjunctive and separative errors, provided that these are significant errors, that is, ‚not such mistakes as two scribes are likely to make independently, or such as a scribe could easily remove by conjecture.‘ Naturally, it is possible for an error to be both conjunctive and separative at the same time.“50

„A second valid indication that two or more sources are related with respect to their readings for a specific chanson is provided by the presence in those sources of a significant variant or set of variants. These generally involve quite distinctive melodic dif-ferences in one or more voices that could not possibly have been conceived by two musicians or scribes working independently of one another.“51

Der Einfluss der Hypothese Hamms sowie die Arbeit von Atlas auf die Anwendung der Filiation im Bereich der Renaissancemusikforschung ist enorm. So bestreitet Bent zwar einerseits Hamms Beispiele für nachträgli-che zusammengebundene fascicle manuscripts, weist aber auf die enorme Bedeutung hin, die die Trennung von Frage nach der Manuskriptanordnung und der Vergleich von Lesarten mit sich bringt: Der Nutzen einer verfeiner-ten Varianverfeiner-tenbetrachtung für die Entwicklung von Überlieferungsmustern unabhängig von der Gruppierung des Repertoires erhaltener Quellen.52 Cristina Urchueguía geht in ihrer Studie detaillierter auf die Vorteile ein, die Hamms Theorie und darauf aufbauend Atlas’ Methodik bei der Unter-suchung von Überlieferungssituationen bieten: Zwar bestreite Hamm, so Urchueguía, auf der einen Seite die „unmittelbare Verwandtschaft zwischen

50 Atl75, S. 42.

51 Atl75, S. 43.

52 Vgl. Ben81, S. 300–304.

51

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

großen gebundenen Kodizes“53, aber dennoch bleiben Szenarien mittelbarer Abhängigkeiten bestehen. Der Zusammenhang großer Prachthandschriften, die aus denselben Werkstätten stammen, bliebe insofern bestehen, als diese von Vorlagen aus einem gemeinsamen Vorrat abhängig wären. Ebenso ermöglicht das Modell der Vermittlung durch fascicle manuscripts – insbe-sondere da diese Einzellagen als Teile der Überlieferungskette nicht erhalten sein müssen – mittelbare, aber dennoch direkte Beziehungen, auch zwischen Quellen, die räumlich und zeitlich getrennt sind. Vielmehr ließen sich die hohen Verluste von fascicle manuscripts durch ihre materielle Anfälligkeit begründen. Darüber hinaus erklärt die Überlieferung und Verbreitung der Vorlagen einzelner Stücke, warum selbst in Handschriften, die sich viele Messen teilen, diese nicht in derselben Reihenfolge angeordnet sind. Und letztlich muss zudem, auch unter Betracht des Handelsnetzes, konstatiert werden, dass daraus folgend stemmatologische Verwandtschaft lediglich auf dieselbe Vorlage hindeutet. Damit muss keine geographische Nähe einhergehen.54

Ebenso groß wie die Auswirkung der Wahl der zu untersuchenden Ein-heiten zur Filiation ist auch die jeweilige Vorstellung von der Intention des Kopierprozesses. Feder beispielsweise geht – überspitzt ausgedrückt – als Voraussetzung eines Stemmas von der Vorstellung der ‚misslungenen Kopie‘ aus:

„Voraussetzung des Stemmas ist die mechanische Überlieferung, bei der einer vom anderen abschreibt oder einer den anderen nachdruckt, ohne Absicht einer Veränderung. Es entstehen nur mechanische Fehler. Hat dagegen der Abschreiber oder Drucker das Bestreben, den Text anzupassen, dann interpoliert

53 Urc03, S. 183.

54 Vgl. Urc03, S. 183–184.

52

2.2 Relationen er ihn auch da, wo er richtig war, mit Lesarten, die etwas Einleuchtendes an sich haben können, ohne echt zu sein.“55

Gleichzeitig schildert er sehr wohl auch die, diesem Bild entgegen stehen-de, Möglichkeit, dass ein/e Schreiber*in Anpassungen am Text vornimmt.

Deutlich wird allerdings, dass Feder genau diesen Fall als Ursache von Schwierigkeiten ansieht. Im Falle der Musik vor 1600 muss jedoch betont werden, dass hier zu wesentlichen Anteilen von einer Expertenkultur auszu-gehen ist. Auch wenn prachtvoll illuminierte Chorbücher als repräsentative Geschenke an hochrangige Personen dienten, z. B. bei Fürstenhochzeiten56, sind Quellen, wenn sie von Sammlern stammen oder zur Aufführung ge-dacht waren, an einen Expertenkreis gerichtet. So betont Boorman, zwar vor allem mit einem Fokus auf ältere Quellen, dass die Mehrheit erhaltener Manuskripte offenbar das Werk professioneller Musiker oder auf Musik spezialisierter Schreiber waren.57

Margaret Bent schildert in ihren Ausführungen mehrere Szenarien des Kopierprozesses.58 Darunter ist die möglichst gewissenhafte Wiedergabe der Vorlage, auch in Bezug auf graphische Eigenheiten, nur eine der Optio-nen, auch wenn Bent dieses Szenario als Indiz einer Beziehung betrachtet.

Gleichfalls zieht sie auch Szenarien in Betracht, in denen aufgrund ver-schiedener Konstellationen ein unterschiedlich hohes Maß an Abweichungen von der Vorlage auftritt. So kann ein/e Schreiber*in zwar der Vorlage gewissenhaft folgen, aber auch Verbesserungen offensichtlicher Fehler und Mehrdeutigkeiten auch ohne Kenntnis des konkreten Stückes vornehmen.

Sollte das Stück der Vorlage dagegen bekannt sein, ist es möglich, dass ein/e Schreiber*in Emendationen aus der Erinnerung heraus vorgenommen hat. Diese Änderungen, so Bent, können von weitreichender Natur sein

55 Fed87, S. 64.

56 Siehe TS20.

57 Vgl. Boo81b, S. 167–168.

58 Vgl. zu folgenden Ausführungen Ben81, S. 307–310.

53

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

und eine Unterscheidung von anderen ‚authentischen‘ unmöglich machen.

Auch die Einfügung ‚absichtlicher und überflüssiger Änderungen mehr oder weniger radikaler Natur‘ zieht sie so in Betracht; insbesondere auf der Ba-sis regionaler, institutioneller oder persönlicher Gepflogenheiten. Darüber hinaus können Schreiber*innen durch Unachtsamkeit Mehrdeutigkeiten produzieren – z. B. im Fall von Tonhöhen oder Textunterlegung – oder unbeabsichtigter Weise Kopierfehler einfügen. Dies wäre das von Feder ins Auge gefasste Szenario. Ebenso können verschiedene Formen melodi-scher oder rhythmimelodi-scher Variation in einzelne Stimmen eingefügt werden, wie sie auch legitimer Teil einer Aufführung sein könnten, beispielsweise Kadenzfiguren, Durchgangsnoten oder ähnliches. Diese Änderungen, so Bent, können sowohl spontan erfolgen oder aus der Erinnerung heraus. Sie benötigen nennenswerte musikalische Kenntnisse und zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine nennenswerten Auswirkungen auf das polyphone Gefüge haben. Dem letzten Szenario schreibt Bent darüber hinaus ein beträchtli-ches Änderungspotenzial zu, den notationsspezifischen Änderungen, die von der Eigenschaft der Mensuralnotation herrühren, ähnliche oder identische Sachverhalte unterschiedlich auszudrücken.

Diese Vielfalt an möglichen Ursachen von Abweichungen erfordern aller-dings eine genauere Betrachtung, die im weiteren Verlauf erfolgen wird, da sie Themenkomplexe tangiert, die auch aus systematischen Gründen noch behandelt werden sollen. An dieser Stelle soll vielmehr zu den Hypothesen bezüglich des Kopierprozesses noch eine letzte Anmerkung erfolgen. In seinen grundlegenden Ausführungen betont Maas das Fehlen autographer Quellen im Falle der griechischen und lateinischen Klassiker, wie auch den Mangel an mit dem Original verglichenen Abschriften.59 Ebenso macht er deutlich, dass es sich beim Archetypus nicht um das Original handeln muss, sondern dieser vielmehr als die Vorlage definiert ist, „bei der die

59 Maa57, S. 5.

54

2.2 Relationen erste Spaltung begann“.60Feder dagegen, betrachtet den Archetypen als

„Stammvater“, bei dem es sich „um das Autograph, eine Abschrift oder einen Druck handeln“ könne, existent oder verschollen.61Dies unterscheidet sich maßgeblich von der Position Maas’, wie auch von der Überlieferungs-situation vor 1600. In seinen Ausführungen bezieht Feder sich zwar auch explizit auf frühe Ausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts und geht auf die wohl erheblichen Verluste an Exemplaren ein62, dennoch beachtet er nicht weiter den Mangel an bekannten autorisierten Quellen – sicherlich auch, da der Zeitraum um 1500 nicht sein Hauptinteresse darstellt. Es ist zudem bezeichnend, gerade auch mit Blick auf die Frage des editorischen Anliegens der Rekonstruktion der „composer’s original intentions“63, dass bei der Betrachtung polyphoner Musik bis ca. 1500 der Verlust des Arche-typen ebenso wenig in Zweifel gezogen wie eine mögliche Autorisierung vorliegender Quellen regelmäßig in Betracht gezogen wird.64Neben dem schlichten Mangel an Möglichkeiten, eine eventuelle Autorisation evident zu machen, kann dieser Sachverhalt auch durch die Hypothese derfascile manuscripts, die hohe Verluste dieses Quellentyps bewusst in Betracht zieht, begründet werden. Damit ist zum einen deutlich, dass bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts die Maßgaben zur Musiküberlieferung sich sehr viel näher an denen Maas’ befinden, als es für spätere Fälle gelten kann. So gibt Atlas als Grenze des Geltungszeitraums seiner Methode die Verbreitung des Musikdruckes an, wobei Urchueguía zeigt, dass auch noch jüngere Quellen Hamms Modell entsprechen.65

60 Maa57, S. 6.

61 Vgl. Fed87, S. 61–62.

62 Vgl. Fed87, S. 62.

63 Nob83, S. 112.

64 Eine Ausnahme findet sich beispielsweise bei Boo81b, S. 174.

65 Vgl. Atl75, S. 39; Urc03, S. 184.

55

2 Variation und Filiation von Musikquellen um 1500