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Variation und Filiation von Musikquellen um 1500

2.3 Fallbeispiele

2.3.2 Der Archetyp im Spiegel seiner Nachfolger

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ten Vorlage noch eine weitere für einzelne Lesarten konsultierte,194oder willentlichen Eingriffen von Schreibern, die explizit als „recomposition“195 bezeichnet werden. Aufgrund der geringen Zahl an wichtigen Varianten attestieren sie der Überlieferung der Messe eine außerordentliche Stabilität.

Dass sie hierbei lediglich von substantiellen Varianten im deutlichsten Sinne sprechen, zeigt sich unmittelbar bei der Erwähnung des Befundes bezüglich der „small variants“:

„Small variants such as division or agglomeration of notes, adjustment of ornamental figuration, use of ligatures andminor color(the latter not reported in this edition) are plentiful. They show a good deal of independence, with even the most faithful to Petrucci among the manuscript sources varying [...] more often than one might expect.“196

Auch hier wird deutlich, dass unter der Voraussetzung sich widersprechender Muster eine Entscheidung getroffen wurde, die unter der Bevorzugung von Parametern mit deutlichen klanglichen Auswirkungen sämtliche Phänomene, die unter dem BegriffSchreibergewohnheiten subsumiert werden, außen vor lässt. Auf das Risiko dieser Strategie wurde bereits hingewiesen.197

2.3 Fallbeispiele begründet. In seinen Ausführungen entwickelt er das Stemma nicht, sondern setzt dessen Gestalt voraus, die er im Verlauf erläutert. Abhängigkeiten zwischen Quellen bildet er grundsätzlich nach dem Muster, wie es Maas bzw.

Bent erläutert haben, so dienen zumeist unikale Varianten als Begründung dafür, dass eine Quelle nicht der Vorgänger einer anderen sein kann.198 Sind ganze Gruppen von Quellen abhängig von einer, werden diese nach eingehender Begründung eliminiert. Dass er bei der Filiation grundsätzlich nach Maßgaben der Signifikanz, wie sie bereits diskutiert wurden, vorgeht, macht er zu Beginn der Evaluation der Quellen zur M. Faysant regretz deutlich, wenn er auf die äußerst gleichförmige Überlieferung eingeht:

„While there is a sizable number of variants, many are limited to only one source or are of such nature (accidentals, ligatures, minor color, etc.) that they do not provide solid evidence for determination of filiation.“199

Trotz dieser Einschränkung präsentiert er ein Stemma basierend auf der Auswertung der Varianten und bezieht hierbei insbesondere auch Aspekte wie Proportions- und Mensurzeichen inkl. deren Positionierung, Ligaturen, Colorierung, die Teilung von Noten und auch die Akzidentiensetzung mit ein.200Deutlich wird an seinen Erläuterungen, dass er eine Hierarchisierung vornimmt, der er auch einen unterschiedlichen Grad an Beweiskraft zu-misst. Zunächst einmal spricht er von Fehlern, sofern diese offensichtlich als solche zu erkennen sind. Abweichungen in Tonhöhe und Rhythmus werden durchgehend als Varianten bezeichnet und besitzen auch Beweiskraft in Form von Leitvarianten. Als kleinere Varianten werden Abweichungen in der Verwendung von Ligaturen, Colorierung, Akzidentiensetzung sowie die Teilung von Noten, zumeist in ergänzender Weise, erläutert.201Außerdem

198 Vgl. u. a. NJE 8, S. 17, 72.

199 NJE 8, S. 14.

200 Vgl. NJE 8, S. 15.

201 Vgl. NJE 8, S. 16, 17, 72.

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weist er auf weitreichende Schwierigkeiten im Umgang mit fragmentari-schen Quellen hin, wenn Stücke nicht vollständig überliefert und zusätzlich unterschiedliche Stimmbücher verloren gegangen sind. So ist es ihm bei-spielsweise nicht möglich eine Verbindung zwischen zwei Hyparchetypen aufgrund der schon geringen Dichte an charakteristischen Varianten und der hinzukommenden Reduktion der Vergleichsmenge zu zeigen.202 Ebenso bezieht Hudson, als letzten Baustein, auch die Provenienz der Quellen in seine Überlegungen mit ein, zumal zur Bestärkung eines bereits vorliegen-den Befundes.203 Von wesentlicher Bedeutung ist die Datierung der Quelle bei der Auswahl der Primärquelle. Hier greift er auf die älteste möglichst fehlerfreie Quelle zurück – wobei die möglichst geringe Fehlerzahl Priorität genießt – und weicht nur von dieser ab, wenn sie offensichtlich falsch ist, oder zwingende Beweise für eine andere Lesart in mindestens zwei Ästen des Stemmas vorliegen.204Eine Besonderheit in seiner Argumentationsweise ist, dass – auch weil Varianten über Beweiskraft verfügen – er Fehler im Archetyp nicht ausschließt. In einem Fall zieht er sie sogar als Ursache für inkonsistente Varianten explizit in Betracht.205

Wie auch schon bei Elders, lässt sich mit der M. Malheur me bat (NJE 9.1) ebenfalls anhand einer dritten Messe die Vorgehensweise von Hudson genauer betrachten. Besonders eindrücklich ist in diesem Fall die auf den ersten Blick leicht abweichende Methode, denn zunächst einmal nimmt er eine Kategorisierung der Quellen vor. Diese erfolgt nicht anhand der Prove-nienz der Quellen, sondern in Bezug auf die Verwertbarkeit für ein Stemma:

So umfasst lediglich die erste Kategorie Quellen, die eine (weitestgehend) komplette Überlieferung enthalten und deren Filiation erschlossen werden kann. Als zweite Kategorie nennt er Quellen, die große Teile der Messe enthalten, die aber keine Fehler oder nicht genügend charakteristische

Les-202 Vgl. NJE 8, S. 17.

203 Vgl. NJE 8, S. 16, 17.

204 Vgl. NJE 8, S. 18.

205 Vgl. NJE 8, S. 17.

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2.3 Fallbeispiele arten enthalten, um ihren Platz in der Überlieferung ermitteln zu können;

sämtliche dieser Quellen sind in irgendeiner Form unvollständig. Die dritte Gruppe umfasst Quellen, die lediglich einen einzelnen Messsatz in reduzier-ten Stimmen überliefern.206Der dritten Gruppe kann laut Hudson keine beweiskräftige Beziehung zu einer existierenden Hauptquelle nachgewiesen werden. Obwohl direkte oder indirekte Abhängigkeiten durchaus möglich seien, so schildert er, eliminiert er sie dennoch aufgrund ihres fragmentari-schen Zustandes, zumal sie nichts Wichtiges zum Verständnis der Messe beitragen würden.207Ebenso kann er auch für die zweite Gruppe keine Ver-ortung im Stemma vornehmen. Schwierigkeiten bereiten vor allem fehlende Stimmen und nicht ausreichende Charakteristika. Unikale Varianten zeigen, dass keine der anderen Quellen von einer in dieser Gruppe abstammen kann, wie auch, dass keine der Quellen von einer anderen abstammt.208Am Ende seiner Ausführungen präsentiert Hudson zwei alternative Stemmata, die lediglich aus Quellen der ersten Kategorie bestehen.209 Die Quellen dieser Kategorie teilt er ebenfalls in zwei Gruppen ein. Die erste Gruppe formiert sich um den Erstdruck der Messe in [Pet1505]. Ausgehend von diesem weist Hudson zunächst anhand der stetigen Übernahme kleiner Änderungen einen klare Überlieferungslinie nach, darüber hinaus verortet er noch weitere Quellen in dieser Tradition. Dies erfolgt wiederum anhand der Übernahme kleinerer Abweichungen und der Identifikation unikaler Varianten, um weiterführende Abhängigkeiten auszuschließen. Alle Quellen über den Erstdruck Petruccis hinaus werden von Hudson aufgrund man-gelnder Autorität nicht berücksichtigt.210 Damit konzentrieren sich auch dessen Ausführungen auf die Darstellung der zweiten Gruppe, die dem so genannten ‚netherlands court complex‘ zuzuordnen ist. Er schlägt anhand

206 Vgl. NJE 9, S. 21.

207 Vgl. NJE 9, S. 26–27.

208 Vgl. NJE 9, S. 25–26.

209 Vgl. NJE 9, S. 27.

210 Vgl. NJE 9, S. 22–23.

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der Beurteilung dieser Quellengruppe zwei mögliche Stemmata vor, da ab-hängig von der Interpretation einer Passage zwei Deutungen möglich sind.

Im Sanctus unterscheidet sich die zweite Gruppe von [Pet1505] – letzterer enthält aufeinanderfolgende Quinten, während die gemeinsame Lesart der zweiten Quellengruppe diesen Fehler nicht enthält. Damit entspricht die eine Variante des Stemmas der Option, dass der Fehler bei Petrucci neu auftrat und nicht dem Archetypen entspricht. Die andere Variante bildet die Möglichkeit ab, dass ein gemeinsamer Vorfahre der zweiten Quellengruppe diesen archetypischen Fehler korrigiert habe.211 Zusätzliches Gewicht, so Hudson, könne der Hypothese eines gemeinsamen Vorgängers der Quellen des netherlands court complex durch eine ihnen gemeinsame „cadence figure unusual in Josquin“ zugesprochen werden – das Fehlen dieser Variante in einer Quelle dieser Gruppe mindert in seinen Augen die Beweiskraft nicht, da es sich um eine unikale simplifizierte Lesart handele.212

Gerade anhand dieser Abwägung wird deutlich, wie stark die Auswirkungen davon sind, dass Hudson nicht implizit von einem fehlerfreien Archetypen ausgeht. Das Fehlen dieser Erwartungshaltung wird auch an anderer Stelle in seinen Ausführungen deutlich.213 Stattdessen bringt er einen anderen Faktor in die Argumentation mit ein: Die Frage nach einem Personalstil.

Die Abwägung der Argumente für und wider eine der Varianten zeigt deutlich den Einfluss impliziter Vorannahmen. Würde davon ausgegangen, dass sich die Quellen einer Überlieferung anhand der Zunahme falscher Lesarten in Relation bringen lassen, wird der Archetyp implizit als fehlerfrei angenommen. Damit würde die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgängers der niederländischen Quellengruppe verworfen werden. Würde zudem die genannte Kadenz im Sanctus nicht als in Hinblick auf das Œuvre eines Komponisten als untypisch klassifiziert werden, würde dieser Lesart weniger

211 Vgl. NJE 9, S. 23.

212 Vgl. NJE 9, S. 23.

213 Vgl. NJE 9, S. 25.

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2.3 Fallbeispiele argumentatives Gewicht eingeräumt werden. Letztendlich muss entschieden werden, dass diese Kadenz nicht im Archetyp enthalten war, um ihr das argumentative Gewicht einzuräumen, dass Hudson erwähnt. Dass er beide Varianten eines Stemmas präsentiert, weist wiederum darauf hin, dass er einer derartigen Einschätzung nur eingeschränkt vertraut.