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Kontingenz als Kennzeichen einer entstehenden Textfassung .1 Textauswahl, Textreihenfolge, Textzuschreibung

Im Dokument Der performative Umgang mit dem Text (Seite 142-147)

ALS MATERIAL

2 Kontingenz als Kennzeichen einer entstehenden Textfassung .1 Textauswahl, Textreihenfolge, Textzuschreibung

Das Textkorpus des Workshops von Laurent Chétouane bilden die 154 Sonette William Shakespeares. Im Unterschied zu den beiden anderen Produktionen gibt es hier keine vorab getroffene Auswahl der Texte durch den Regisseur oder gar eine Art „Textbuch“. Das Textmaterial für den Workshop generiert sich erst im Lauf der Probenarbeit aus Shake-speares 1609 erschienenem Sonettzyklus.

Die Studierenden erhalten am Ende des zweitägigen Vortreffens (vgl. S. 107 ff.) von Chétouane die Aufgabe, bis zum Probenbeginn jeweils fünf Sonette von Shakespeare auszuwählen und diese auswen-dig zu lernen. Auf welche deutsche oder französische Übersetzung sie zurückgreifen, wird nicht thematisiert und ist ihnen somit freigestellt.

Hier tritt aus meiner Sicht ein Widerspruch hervor: Ging es in der Ankündigung des Workshops darum, die Sophokles-Tragödien spe-ziell in der Übertragung und Sprache Hölderlins zu erforschen, soll es nun darum gehen, die Sprache Shakespeares zu erforschen. Die Origi-naltexte sind jedoch in englischer Sprache verfasst und liegen der Arbeit als Textmaterial nicht zugrunde. Es existieren zahlreiche Über-setzungen der Shakespeare-Sonette, die nicht nur unterschiedliche sprachliche Qualität besitzen, sondern durch ihre Bearbeitung jeweils verschiedene inhaltliche Zugänge zutage fördern. So wird denn hier die Auswahl der Übersetzungen eher dem Zufall überlassen bzw.

erfolgt intuitiv und, zumindest auf Studierendenseite, durch die Stu-dierenden unreflektiert.

Nach welchen Kriterien die Studierenden ihre Texte ausgewählt haben, ist mir nicht bekannt. Darüber wurde während der Proben nicht gesprochen. Einzig die Aufforderung Chétouanes, jeder solle seine fünf Texte vom Beginn des Zyklus, aus der Mitte und vom Ende auswählen, gibt eine gewisse Struktur für die Auswahl vor. Es lassen sich jedoch Auswahlkriterien wie das Gefallen des Textes, eine Identifikation mit dem Text oder ein spezielles Interesse am Text vermuten. Während der gesamten Probenphase wird niemals festgelegt, wer wann welchen Text spricht. „Es schreibt sich ein Stück“, „man schaut, was entsteht“ – auf jeder Probe neu und immer wieder anders (vgl. Kiesler, Probenprotokoll 2013-10-23, 55). Diese Offenheit sowohl in der Textauswahl als auch in der Festlegung einer Textreihenfolge charakterisiert die Kontingenz der entstehenden Textfassung. Bereits in dieser Offenheit findet die Mög-lichkeit ihren Ausdruck, „dass das, was ist, auch anders sein könnte“

(Millner 2015, 181).

Ähnliche Beobachtungen ließen sich während der Probenarbeit zur Faust-Inszenierung von Claudia Bauer wahrnehmen. Zu Beginn des Probenprozesses besteht die konzeptionelle Idee, Goethes Faust 1 und auch2auf die Bühne zu bringen. Während eine erste Textfassung für den ersten Teil der Tragödie bereits zu Probenbeginn von Claudia Bauer und ihrer Dramaturgin Sabrina Hofer vorgelegt wird, die allerdings von beiden als offenes und veränderbares Angebot zur Verfügung gestellt wird, erfolgt die Textauswahl für den zweiten Faust-Teil durch das gesamte Ensemble erst während der Probenzeit. Regisseurin und Dra-maturgin sehen sich nicht als alleinige „Textlieferanten“ (vgl. Bauer in Kiesler: Probenprotokoll 2014-06-12, 2), sondern beziehen die Schau-spielerinnen und Schauspieler in den Prozess der Entwicklung einer Textfassung mit ein und gestehen ihnen ein großes Mitspracherecht zu.

Die erste Textfassung vom 10. Juni 2014 (vgl. Bauer/Hofer: Textfassung Stand 10. Juni 2014) weist viele Textstellen auf, die farbig markiert sind.

Graue Textstellen werden zur Diskussion gestellt, blaue Textstellen ste-hen als Material (auch für szenische Improvisationen) zur Verfügung, orangefarbene Textstellen kennzeichnen verschobene Repliken. Die Auswahl der Texte für den zweiten Faust-Teil erfolgt nach der

„Methode Lieblingstextstellen“. Das gesamte Ensemble ist dazu aufge-fordert, Textstellen auszusuchen, die ihr Interesse erwecken. Dieser Ansatz der Textauswahl erfolgt nicht unbedingt nach dem Gesichts-punkt, eine Geschichte zu erzählen, noch folgt er einem dramaturgisch schlüssigen Bogen, sondern betrachtet eher die Lust, Herausforderung oder Fähigkeit eines Schauspielers bzw. einer Schauspielerin, einen bestimmten Text zu gestalten.

Zudem wird die Zuschreibung eines Textes zu einer bestimmten Figur während der Proben immer wieder verändert und entspricht nicht immer der Zuschreibung, wie sie in Goethes Stückvorlage steht.

Beispielsweise werden die Texte der Szene „Auerbachs Keller“ immer wieder anderen Personen zugeteilt. Im Stück handelt es sich um die Texte verschiedener Figuren namens Frosch, Brander, Siebel, Altmayer sowie Fausts und Mephistos (vgl. Goethe 2000, 58 ff.). Zu Beginn der Proben werden die Texte auf drei Schauspieler/-innen aufgeteilt. Später spricht schließlich nur ein Schauspieler die Texte der verschiedenen Figuren allein und legt sie seiner Figur in den Mund. Dieses Offenhal-ten der Textfassung während des Probenprozesses erschwert den Schauspielerinnen und Schauspielern das Lernen der Texte vor allem innerhalb der ersten Probenphase.

2.2 Zum Verhältnis von Textvorlage und Interpretation

In der Probenarbeit von Laurent Chétouane spiegelt sich die beschrie-bene Kontingenz nicht nur in Bezug auf die Textauswahl und Textrei-henfolge wider, sondern auch in der Lesart, die der Regisseur für die Sonette findet. „Bei Shakespeare finde ich das extrem, wie die Texte von Shakespeare die Fragestellung genau treffen, die mich interessiert.“ (Ché-touane in: Interview 1, 3) Laut Ché(Ché-touane stellt sich Shakespeare inner-halb der Sonette selbst infrage, reflektiert er als Autor sein Schreiben.

Damit komme er an den Kern der Frage, die sich jeder Künstler bzw. jede Künstlerin stellt: Warum malt ein Maler? Warum spielt ein Schauspieler?

Chétouane vermittelt auf den Proben mehrfach seine Lesart, nach der die Sonette Shakespeares Unvermögen thematisieren, Gedanken in Worte zu fassen. Diesen Prozess möchte Chétouane aufgreifen. Im Sprechen der Shakespeare-Sonette wird der Versuch unternommen, Gedanken in Worte zu fassen, sie zu formulieren mit der gleichzeitigen Reflexion der Unmöglichkeit dieser Unternehmung. Damit wird eine Reflexionsebene eingenommen, die ebenfalls den Texten innewohnt.

Chétouane betont, dass es beim Sprechen der Shakespeare-Sonette um die Spielerinnen und Spieler selbst gehen wird, genau genommen um die Frage, wie sie, während sie spielen, reflektieren. Die Reflexions-ebene, wiejemand spielt, wiejemand spricht, wird normalerweise wäh-rend des Spielens von den Schauspielerinnen und Schauspielern ver-sucht, auszuschalten. In dieser Arbeit wird sie thematisiert. Es geht darum, gleichzeitig „drinnen“ und „draußen“ zu sein, zu sprechen und zu spielen und dabei zu reflektieren. Jedoch gibt es einen Unterschied, ob eine Figur auf der Bühne etwas reflektiert und z. B. darüber

nach-denkt, was sie gerade gesagt hat, oder ob der Schauspieler bzw. die Schauspielerin darüber nachsinnt, wie er bzw. sie etwas gestaltet. Laut Chétouane vermischt Shakespeare genau diese beiden Ebenen. Es ist nicht eindeutig, ob der Schreibende (der Autor) oder der Liebende (das lyrische Ich) reflektiert. Dieser Reflexionsprozess soll auf die Bühne gebracht werden, die Zuschauerinnen und Zuschauer dabei nicht wis-sen, wer im Moment des Sprechens reflektiert: der Schauspieler bzw. die Schauspielerin, der bzw. die Liebende oder der Autor. Mit der Vermi-schung dieser Ebenen, mit der Überlagerung des inneren und äußeren Kommunikationssystems, entsteht ein kontingenter Bedeutungsraum, der „das weder Notwendige noch Unmögliche […] als Verfügbares und Unverfügbares in der Fülle ihrer Möglichkeiten gleichermaßen aufzeigt“

(Millner 2015, 180 f.).

Auffällig ist, dass Chétouane nie von einem „lyrischen Ich“ spricht, sondern stets von Shakespeare als Autor, der in den Sonetten zu Wort kommt. Literaturwissenschaftliche Hintergründe zum Sonettzyklus werden nicht hinzugezogen, auch über die spezielle Form der Gedichte und darüber, welche Themen die Sonette im Einzelnen beinhalten, wird wenig gesprochen. Letztlich werden die Sonette als „Material“ benutzt, um die „Krise der Repräsentation“ zu thematisieren und das Theater als Repräsentationsstätte auf einer Bühne außer Kraft zu setzen. Auf der ersten Probe betont Chétouane, dass die Gedichte keinesfalls als Monolog gesprochen werden sollen, der eine darzustellende Figur ins Handeln bringt. Vielmehr möchte er gemeinsam mit den Studierenden die den Sonetten innewohnende „Stimmung“ untersuchen (vgl. Inter-view 1, 1).

Dichtung zwingt einen, wie die Musik, im Jetzt zu sein. Es ist mir sehr wichtig, dass der Schauspieler merkt, wie er in ein Verhältnis mit der Sprache tritt, und zu dem, was entsteht, während er spricht, wenn er vorher nicht schon weiß, was er sagen wird. Es geht dann nicht um den Schauspieler, nicht um die Sprache, sondern um die Begegnung zwischen einem Schauspieler und diesem Text, in diesem Moment und was aus dieser Begegnung entsteht. (Chétouane in:

Internetquelle 3, 2015)

Es geht nicht um die „Gestaltung“ oder um eine „Umsetzung“ der Sonette, sondern darum, „im Jetzt mit dem Text zu werden“ (Chétouane in: Kiesler, Probenprotokoll 2013-10-23, 55). Dieses performative Ver-ständnis stellt das Verhältnis von Textvorlage und Interpretation infrage (vgl. Klein 2007, 68). Nicht die zu interpretierende Literaturvorlage

steht im Zentrum des Workshops, sondern die Transformation in einen

„theatralen Text“ (ebd. 69), der während der Proben und Aufführungen immer wieder neu entsteht und sich überlagernde, vielstimmige und mehrdeutige Realitätsebenen hervorbringt.

Auch für die Regisseurin Claudia Bauer ist der Text als Literaturvor-lage letztlich nicht mehr Mittelpunkt, sondern das, was man daraus macht. Für sie steht vor allem die Frage im Vordergrund: Wie stellen wir das heute im Theater dar? Auf der ersten Leseprobe spricht sie davon, dass es ihr nicht nur um eine Lesart des Stücks gehe, sondern diese solle sich für jedes Bild verändern (vgl. Kiesler, Probenprotokoll 2014-06-12, 1).

Sie interessiert sich vielmehr für die unterschiedlichen Perspektiven der Darstellerinnen und Darsteller, „die sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie ‚Faust‘ spielen wollen“ (ebd.). Es geht ihr also nicht um eine

„Umsetzung“ oder „Erhaltung“ des Dramentexts im Sinne einer werk-treuen Inszenierung, sondern darum, „zwischen Bühne und Publikum etwas entstehen zu lassen, wobei nicht nur das Drama, sondern auch die Zuschauer verändert werden“ (Weiler/Roselt 2017, 213). Die Kategorie der Werktreue ebenso wie der Begriff der „Umsetzung“ ist in der Beschreibung des Verhältnisses von Textvorlage und Interpretation damit nicht mehr adäquat.

Der Begriff Umsetzung ist nicht adäquat, weil er impliziert, dass das, was umgesetzt wird, dabei prinzipiell gleich bleibt. Umsetzung meint, das Werk verändert lediglich seine Lage, nicht seinen Zustand. Wer von Umsetzung spricht, unterstellt damit das Ideal, dass ein Stück möglichst unbeschadet auf die Bühne gelangen könnte. (Weiler/Roselt 2017, 212 f.)

Vielmehr kann die Rede von einem Transformationsprozess sein, bei dem der Text zwar als literarische Referenz kenntlich werden mag, nicht jedoch als zu interpretierende Literaturvorlage im Vordergrund steht. Kennzeichnend für diesen Transformationsprozess ist die Behandlung des Textes als Material sowie ein performatives Verständnis von Theater, das den Text durch die Präsenz der Subjekte auf der Bühne und ihre sprecherisch-stimmliche Realisierung überhaupt erst hervor-bringt. Indem gezeigt und thematisiert wird, wieeine Inszenierung von einem Text Gebrauch macht und mit ihm arbeitet, tritt der Text auch innerhalb der Aufführung als Arbeitsmaterial in Erscheinung (vgl. Wei-ler/Roselt 2017, 269) und stellt die Prozesshaftigkeit einer Inszenierung aus.

Im Dokument Der performative Umgang mit dem Text (Seite 142-147)