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Datenerhebung und Dokumentation

Im Dokument Der performative Umgang mit dem Text (Seite 84-95)

2 Probenprozessbeobachtung .1 Teilnehmende Beobachtung

2.4 Datenerhebung und Dokumentation

2.4.1 Verfassen von Feldnotizen und Probenprotokollen

Das Dokumentieren und Beschreiben von Prozessen des Produzierens und Interagierens auf einer Theaterprobe ist ein komplexer, vielschichti-ger und selektiver Vorgang. Wie McAuley schreibt, begünstigen ver-schiedene Dokumentationsmodi verver-schiedene Aspekte eines Proben-prozesses. Zudem bestimmt die Wahl einer Dokumentationsmethode den anschließenden Analyseprozess (vgl. McAuley 1998, 76). Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde mit Feldnotizen, Probenprotokollen und Audioaufnahmen gearbeitet, um die Proben zu dokumentieren. Während der Proben hielt ich meine Beobachtungen, die Probenabläufe, O-Töne, Gesprächsinhalte und Interaktionen handschriftlich fest. Diese Notizen sollen in Anlehnung an Fischer als „Feldnotizen“ bezeichnet werden.

Feldnotizen im engeren Sinne sind Aufzeichnungen, die man direkt, im Augenblick der Beobachtung oder Befragung, der Unterhaltung oder Teilnahme macht. Es sind Notizen, die nicht das Ergebnis for-maler Interviews oder systematischer Beobachtung sind, mit Frage-bögen oder vorgegebenen Beobachtungskriterien. Es ist alles das, was unerwartet, ungeplant und ungeordnet niedergeschrieben wird.

(Fischer 2003, 270)

Einen Ausgangspunkt für sämtliche Überlegungen zur Dokumentation der Proben bildete die Publikation Writing Ethnographic Fieldnotesder amerikanischen Soziologinnen und Soziologen Emerson, Fretz und

Shaw, die als grundlegende Einführung in das Thema der ethnografi-schen Feldforschung und der Dokumentation und Analyse von Beob-achtungen diente (vgl. Emerson et al. 2011). Hier finden sich zahlreiche praktische Hinweise für das Erstellen von Feldnotizen.

Beispielsweise beschreiben die Autor/-innen, dass das Anfertigen beschreibender Feldnotizen nicht als ein Prozess des akkuraten Einfan-gens der beobachteten Wirklichkeit, mitgehörter Gespräche und miter-lebter Aktivitäten zu verstehen sei (vgl. ebd. 5). Die Vermutung, dass es eine korrekte oder gültige Beschreibung eines Ereignisses gäbe, demen-tieren sie, indem sie festhalten:

But in fact, there is no one “natural” or “correct” way to write about what one observes. Rather, because descriptions involve issues of per-ception and interpretation, different descriptions of similar or even the same situations and events are both possible and valuable. (ebd. 6)

Konkret wurde während der Proben unmittelbar festgehalten, was sich zwischen den Regisseur/-innen und Schauspieler/-innen ereignete bzw.

was erarbeitet wurde. Sämtliche relevant erscheinenden Beobachtungen wurden stichpunktartig notiert. Dabei wurden einzelne Aspekte heraus-gegriffen, während andere Bereiche ignoriert bzw. marginalisiert wur-den. Auch auf diesen unvermeidbaren Prozess der Selektion weisen Emerson et al. hin, indem sie schreiben:

Writing fieldnote descriptions, then, is not a matter of passively copying down “facts” about “what happened”. Rather, these de -scriptive accounts select and emphasize different features and actions while ignoring and marginalizing others. (ebd. 9)

Die handschriftlichen Feldnotizen dienten als Vorlage für die anschlie-ßend angefertigten, voll ausgeschriebenen Mitschriften, die als „Proben-protokolle“ bezeichnet werden sollen. Im direkten Anschluss an eine Probe bzw. spätestens einen Tag danach wurden die Feldnotizen aus-führlich als digitales Dokument im Computer ausformuliert. Um die Eindrücke der Proben möglichst frisch und detailreich festhalten zu können, erwies sich das zeitnahe Dokumentieren als sehr sinnvoll. Jede Probe wurde in einer gesonderten Datei protokolliert, versehen mit Datum und Uhrzeit. Diese Reinschriften sind von Vorteil für: „Lesbar-keit, ausführliche zusammenhängende Formulierungen, sinnvollere Anordnung und vor allem Durchdenken des Materials und die Planung von Ergänzungsfragen“ (Fischer 2003, 276).

Das Anfertigen der Probenprotokolle nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Für die digitale Verschriftlichung der Probennotizen musste jeweils nochmals ein großes Zeitfenster eingeplant werden.

Eine vierstündige Probensequenz benötigte anschließend eine weitere Protokollierungszeit von vier bis sechs Stunden. Mitunter empfahl es sich, eine kurze zeitliche Distanz zum Probenprozess einzunehmen.

An einigen Tagen wurden keine Proben besucht, zum einen um die Erstellung der Probenprotokolle nachzuholen, zum anderen um sich Reflexionszeiträume zu verschaffen. Hierbei kamen mir sehr viele Gedanken in die unterschiedlichsten Richtungen, die als Kommentare oder als sogenannte „In-Process-Memos“ (vgl. Emerson et al. 2011, 123) notiert wurden. Diese Kommentare und „In-Process-Memos“

beinhalteten bestimmte Fragen, Vermutungen, Ideen, persönliche oder emotionale Reaktionen bzw. Interpretationen und dienten der Ent-wicklung analytischer Themen sowie der Leitfragen für die Leitfaden-interviews. Sollen bereits während des Probenprozesses weitere For-schungsfragen und Beobachtungskategorien entwickelt werden, muss man sich derartige Reflexionsräume einrichten, was zeitlich nicht möglich ist, wenn man kontinuierlich alle Proben besucht und anschließend protokolliert.

Nebst den Feldnotizen, die während einer Probe in ein Heft geschrieben wurden, notierte ich weitere Feldnotizen in die Textbücher bzw. Textmaterialien, die mir durch das jeweilige Produktionsteam zur Verfügung gestellt wurden. Hinweise zur Sprechgestaltung, die Benen-nung von Haltungen, musikalische Parameter, Bewegungsabläufe, szeni-sche Anordnungen etc. wurden oftmals direkt in die Textvorlage geschrieben. Hierbei ergaben sich Probleme bezüglich der Übersicht-lichkeit und der Dokumentation eines Probenverlaufs. Eine Textfassung wurde oftmals für mehrere Proben verwendet. Das erschwerte das Behalten der Übersicht, wann welche Notizen im Textbuch gemacht wurden. Hier empfahl es sich, mit Datumsangaben oder unterschiedli-chen Farben zu arbeiten bzw. entspreunterschiedli-chende Hinweise im digitalisierten Protokoll zu notieren. Eine weitere mögliche, aber schwer realisierbare Variante wäre das Ausdrucken der aktuellen Textfassung für jede Probe, was jedoch nicht bevorzugt wurde.

Für das Verfassen von Feldnotizen bzw. Dokumentationsprotokol-len führen Emerson et al. verschiedene Schreibstrategien auf, darunter das Beschreiben in chronologischer Reihenfolge, das Beschreiben von Höhepunkten und Besonderheiten zuerst oder das Notieren von The-men- bzw. Interessenspezifischem (vgl. Emerson et al. 2011, 52). Diese Strategien lassen sich außerdem miteinander kombinieren. Innerhalb

meiner handschriftlichen Feldnotizen notierte ich die Probenabläufe in chronologischer Reihenfolge. Diese Chronologie wurde zwar auch innerhalb der digitalisierten Probenprotokolle nicht aufgegeben, jedoch wurden hier bereits bestimmte Systematisierungen vorgenommen, die beispielsweise den Probenverlauf übersichtlicher darstellten oder aber Kategorien beinhalteten, unter denen verschiedene Aspekte der jeweili-gen Probe beschrieben wurden.

Das Verfassen der Probenprotokolle veränderte sich im Verlauf der drei Probenprozessbeobachtungen. Während die Probenprozesse von Laurent Chétouane und Volker Lösch stark chronologisch dokumen-tiert wurden und die Probenprotokolle lediglich nach Verlaufskatego-rien wie beispielsweise „Gespräch“, „Textarbeit“ oder „szenische Arbeit“ systematisiert wurden, fand das digitale Protokollieren des Pro-benprozesses von Claudia Bauer auf Basis der Feldnotizen schon wesentlich fokussierter hinsichtlich bestimmter Analysekategorien statt.

Dies hing u. a. damit zusammen, dass zum Zeitpunkt der Beobachtung dieses dritten Probenprozesses gewisse Analysekategorien anhand der zwei ersten beobachteten Probenprozesse schon erarbeitet worden waren und auch im Rahmen der dritten Probenbeobachtung Anwen-dung fanden. Hierbei handelte es sich jedoch um sehr allgemeine, über-geordnete Kategorien, wie z. B. „Methoden der Textarbeit“, „Sprech-weise“ oder „Anforderungen an die Schauspieler/-innen“, die im anschließenden Analyseprozess spezifiziert wurden. Ein Beispiel für ein Probenprotokoll befindet sich im Anhang (vgl. Anhang 1).

2.4.2 Audio- und Videoaufnahmen

Zusätzlich zu den schriftlichen Probenprotokollen wurden in unter-schiedlichem Umfang begleitende Audioaufnahmen während der Pro-ben angefertigt. Wie bereits erwähnt, wurde es mir gestattet, die ProPro-ben von Laurent Chétouane sowie Claudia Bauer und ihren jeweiligen Ensembles auditiv festzuhalten, hingegen erhielt ich diese Erlaubnis im Rahmen der Probenprozessbeobachtung von Volker Lösch und seinem Produktionsteam nicht. Die Audioaufnahmen dienten mir als Erinne-rungshilfe und Ergänzung zu den schriftlichen Aufzeichnungen. Eine Probe konnte im Rahmen des Auswertungsprozesses noch einmal nach-gehört werden und somit fehlende Details ergänzt oder auch schriftlich festgehaltene Eindrücke korrigiert werden. Zudem dienten die Aufnah-men der auditiven Analyse sowie aufführungs- und inszenierungsanaly-tischen Ansätzen der Auswertung, insbesondere in Bezug auf die Beschreibung der Erscheinungsformen gesprochener Sprache, d. h. der in der jeweiligen Produktion entstandenen Sprechweisen.

Die Proben von Laurent Chétouane und Claudia Bauer wurden mit einem H2n-Handy-Recorder mitgeschnitten. Meist wurden mehrere Audiodateien von einer Probe angelegt. Dies hatte probenstrukturelle Gründe. So stellten beispielsweise die musikalischen Proben zu Beginn einer Vormittagsprobe während des Probenprozesses zur Faust-Insze-nierung von Claudia Bauer einen in sich geschlossenen Probenabschnitt dar, der einer szenischen Probe vorangestellt war. Zudem wurden Pau-sengespräche außerhalb des Probenraums nicht aufgenommen, sodass nach einer Pause eine neue Aufnahme gemacht wurde. Weiterhin sollten die Audiodateien nicht zu groß sein, um sich in den später stattfinden-den Analysen besser zurechtfinstattfinden-den zu können.

Die Audioaufnahmen wurden in einer tabellarischen Übersicht nach Datum, Uhrzeit, Probenart und Probeninhalt nummeriert und katalogi-siert (Beispiel für die Katalogisierung der Audioaufnahmen vgl. Anhang 2). Um die Audiodateien den einzelnen Probenprotokollen zuordnen zu können, wurden neben diesen Angaben bereits während des Protokol-lierens innerhalb der Feldnotizen und Probenprotokolle Timecodes und die jeweilige Aufnahmenummer angegeben, mit denen sich einzelne markante Probensequenzen schnell finden und nachhören ließen.

Weiterhin wurden mir von allen drei Inszenierungen, deren Proben-prozesse ich beobachtet und untersucht habe, Videomitschnitte einer Aufführung bzw. der Generalprobe zur Verfügung gestellt. Die Video-aufnahmen wurden jeweils von den Theatern bzw. der Hochschule der Künste Bern zu Dokumentationszwecken angefertigt. Diese Videoauf-nahmen dienten mir vor allem für inszenierungsanalytische Auswer-tungsschritte sowie ebenfalls für auditive Analysen.

Audio- und Videoaufnahmen erweitern das Untersuchungskorpus in erheblichem Umfang. Es können unmöglich alle Proben noch einmal nachgehört werden. Insofern ist es wichtig, für die Analyse eine Aus-wahl zu treffen und Auswertungskategorien zu entwickeln, mithilfe derer eine Auswahl stattfinden kann. Es soll außerdem darauf hingewie-sen werden, dass Audio- und Videoaufnahmen, die scheinbar objektiv alles einfangen und festhalten können, was in einer Interaktion auftritt, dennoch nur einen Ausschnitt eines Probenereignisses wiedergeben (vgl. Emerson et al. 2011, 13). Ebenso wie schriftliche Dokumentations-aufzeichnungen sind auch auditive bzw. visuelle Aufzeichnungen immer selektiv und ausschnitthaft. Jede Aufzeichnung ist „eine mediale Zurich-tung, die das dokumentierte Geschehen mit filmtechnischen Mitteln wie Nahaufnahme oder Schnitt aufbereitet und dabei die Expertise des Dokumentierenden ins Spiel bringt“ (Weiler/Roselt 2017, 60). Von erhobenen Daten als „objektive Informationen“ kann weder bei

Feldno-tizen und Probenprotokollen noch bei Audio- und Videoaufnahmen ausgegangen werden. Jegliche Art von Dokumentation ist durch die Per-son des Beobachters oder der Beobachterin sowie die Art der Beobach-tung beeinflusst. Dieser subjektive Blick „verunreinigt“ die Daten jedoch nicht (vgl. Emerson et al. 2011, 16), sondern ist Teil der teilneh-menden Beobachtung und Dokumentation als Untersuchungsmethode.

Hinzu kommt, dass die mediale Aufzeichnung einer Probe nicht gleichzusetzen ist mit dem Probenereignis. Aus diesem Grund sollte auf das ausführliche Anfertigen von Feldnotizen und Probenprotokollen im Rahmen einer Probenprozessanalyse nicht verzichtet werden. Sie ent-halten die Beschreibung von Probenmomenten und Eindrücken, die mit einer Video- und/oder Audioaufzeichnung nicht festgehalten werden können.

2.4.3 Leitfadeninterviews und Gespräche

Neben den Probenbeobachtungen wurden weitere Erkenntnisse durch die Befragung der Regisseur/-innen und Schauspieler/-innen mithilfe von Interviews und Gesprächen gewonnen. Neben vielen informellen ethnografischen Interviews (vgl. Flick 2014, 220), also Fragen, die unmittelbar während der Beobachtungen beispielsweise im Rahmen von Pausengesprächen an die Produktionsbeteiligten gestellt wurden, konn-ten insgesamt vier Leitfadeninterviews mit den drei Regisseur/-innen Laurent Chétouane, Volker Lösch und Claudia Bauer sowie mit dem an der Biedermann-Produktion beteiligten Chorleiter Bernd Freytag durchgeführt werden.

Leitfadeninterviews ermöglichen die Gestaltung einer offenen Inter-viewsituation, in der die Sichtweisen der Befragten eher zur Geltung kommen als in standardisierten Interviews oder Fragebögen (vgl. ebd.

194). „Kennzeichnend für diese Interviews ist, dass mehr oder minder offen formulierte Fragen in Form eines Leitfadens in die Interviewsitua-tion ‚mitgebracht‘ werden, auf die der Interviewte frei antworten soll.“

(ebd. 221 f.) Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde auf das

„problemzentrierte Interview“ zurückgegriffen (vgl. ebd. 210 ff.).

Anhand eines Leitfadens, bestehend aus Fragen und Erzählanreizen, wurden biografische Eckdaten, die Arbeitsweisen der Befragten, pro-duktionsspezifische Details sowie Aspekte der theaterpraktischen Text-arbeit und der Schauspielausbildung thematisiert. Teilweise sollten auch offene Fragen, die ich in Bezug auf eine jeweilige Produktion hatte, geklärt werden, um eigene Beobachtungen und Annahmen zu überprü-fen. Es wurden die für das problemzentrierte Interview zentralen Kom-munikationsstrategien wie der Gesprächseinstieg, allgemeine

Sondie-rungen, spezifische Sondierungen und Ad-hoc-Fragen angewandt. Die Interviews wurden mit einem Tonaufnahmegerät (H2n-Handy-Recor-der) aufgezeichnet und anschließend transkribiert.

Flick weist darauf hin, dass sich im Leitfadeninterview Vermitt-lungsprobleme zwischen den Vorgaben des Leitfadens und den Zielset-zungen der Fragestellung einerseits und den Darstellungsweisen des Interviewpartners andererseits ergeben können (vgl. ebd. 222).

So kann und soll der Interviewer im Verlauf des Interviews entschei-den, wann und in welcher Reihenfolge er welche Fragen stellt. Ob eine Frage möglicherweise schon en passant beantwortet wurde und weggelassen werden kann, lässt sich nur ad hoc entscheiden. Ebenso steht der Interviewer vor der Frage, ob und wann er detaillierter nachfragen und ausholende Ausführungen des Interviewten eher unterstützen sollte bzw. ob und wann er bei Abschweifungen des Interviewten zum Leitfaden zurückkehren sollte. (ebd. 222 f.)

Diese Spielräume sind bei einem Leitfadeninterview gegeben. Sie verlan-gen auf der einen Seite ein großes Maß an Sensibilität für den konkreten Interviewverlauf und für den Interviewten sowie die Fähigkeit, den Überblick über das bereits Gesagte zu behalten, auf der anderen Seite eröffnen sie den Weg für thematisch relevante, subjektive Perspektiven und geben den Interviewten viel Raum zum freien Erzählen (vgl. ebd.).

Im Rahmen meiner Probenprozessuntersuchungen wurden die Interviews am Ende eines jeweiligen Probenprozesses durchgeführt.

Der Leitfaden wurde auf Basis der Beobachtungen produktionsspezi-fisch für jeden Interviewpartner neu entwickelt. Dennoch gab es bestimmte Fragen, die allen Regisseur/-innen bzw. dem Chorleiter gestellt wurden. Auf diese Weise wurde die Vergleichbarkeit der Daten erhöht. Es muss jedoch betont werden, dass der jeweilige Probenprozess sowie die Sicht- und Arbeitsweise der einzelnen Befragten im Vorder-grund der Fragestellungen standen und der Übergang zu Erzählungen fließend war. Alle vier Befragten beantworteten meine Fragen sehr aus-führlich, was dazu führte, dass bestimmte Fragen des Leitfadens inner-halb der Interviews teilweise umgestellt, ausgelassen oder ergänzt wur-den. Während die Interviews mit Volker Lösch und Bernd Freytag zeitlich begrenzt waren, fanden die Interviews mit Laurent Chétouane und Claudia Bauer in lockerer Atmosphäre innerhalb eines nicht vorab festgelegten zeitlichen Rahmens statt. In diesen beiden Fällen entwickel-ten sich die Interviews zu einem Gespräch. Unter den Aspekentwickel-ten der Ver-gleichbarkeit und Interviewtechnik kann dies kritisch beurteilt werden,

jedoch stand weniger die Vergleichbarkeit der Interviews denn mehr das Ziel, so viel wie möglich an Informationen und Erfahrungswissen zu gelangen, im Vordergrund.

Neben den planmäßig durchgeführten Interviews ergaben sich vor, während und nach den Proben zahlreiche Gespräche mit den Beteiligten einer jeweiligen Produktion, so mit den Schauspielerinnen und Schau-spielern, den Dramaturginnen und Dramaturgen, den Bühnenbildnerin-nen und KostümbildnerinBühnenbildnerin-nen, den AssistentinBühnenbildnerin-nen und Assistenten, den Souffleusen, dem Chorleiter und den Chormitgliedern, den Musikern und den Regisseurinnen und Regisseuren. Auch aus diesen Gesprächen ließen sich wichtige Erkenntnisse sowie gleichzeitig eine Vertrauensbasis gewinnen. Die Gesprächsinhalte wurden zwar nicht auditiv aufgezeich-net, flossen aber in die Feldnotizen und Probenprotokolle ein. Die Wich-tigkeit der Gespräche sei an dieser Stelle betont, da sie Einblicke in die Denkweisen der Künstlerinnen und Künstler ermöglichen. Zudem erhält man relevante biografische Eckdaten, verwertbare Literaturhinweise oder Aussagen über eine bestimmte Arbeitsphilosophie. Im Gegensatz zu den Leitfadeninterviews finden die Gespräche, die auch als „ethnogra-phische Interviews“ bezeichnet werden (vgl. Flick 2014, 220), vor oder nach einer Probe bzw. während einer Probenpause ungeplant statt.

2.4.4 Explorative und problemorientierte Phase der Probenprozessbeob-achtung

In Anlehnung an die in der qualitativen Sozialforschung getroffene Unterscheidung zwischen einer „explorativen“ und einer „problemori-entierten Phase“ der Feldforschung (vgl. Beer 2003, 24) können auch im Rahmen dieser Studie zwei Phasen der Probenbeobachtung benannt werden. Der Begriff „explorativ“ bedeutet „entdeckend“ oder „erfor-schend“ (vgl. ebd.). In dieser Phase werden sämtliche Informationen unterschiedlicher Qualität aufgenommen, wobei im Rahmen der teil-nehmenden Beobachtung einer Probe das dichte Beschreiben und Pro-tokollieren eines Probenverlaufs eine wichtige Rolle spielt. In der pro-blemorientierten Phase beginnt man mit der Anwendung spezifischer Verfahren, beispielsweise werden gezielte Interviews durchgeführt oder es wird systematisch beobachtet (vgl. ebd.).

Zwar erfolgte die „explorative Phase“ meiner Probenbeobachtungen fokussiert auf Prozesse der Texterarbeitung und der Entstehung von Spiel- und Sprechweisen, aber die teilnehmende Beobachtung war in dieser Phase ausschließlich bestimmt von der Wahrnehmung von Abläu-fen und Arbeitsprozessen sowie dem Niederschreiben dessen, was auf der Probe stattfand oder sich aus ungeplanten Gesprächen erfahren ließ.

Innerhalb der letzten Probendrittel, insbesondere im Rahmen der Durchlauf- und Endproben einer jeweiligen Inszenierung, kam es wäh-rend meiner teilnehmenden Beobachtungen zu ersten Auswertungsan-sätzen und auditiven Analysen. Es wurde begonnen, Sprechgestaltungs-mittel sowie hervorgegangene Spiel- und Sprechweisen zu beschreiben und festzuhalten. Im Zentrum der Beobachtung stand nicht mehr aus-schließlich, wie eine Gestaltungsmöglichkeit entsteht, sondern wie sie in ihrer Erscheinungsform beschrieben werden kann. Hierfür dienten mir Ansätze der Aufführungsanalyse sowie der auditiven Analyse.

Auditive Analysen gehen von der Fertigkeit aus, Sprechereignisse mithilfe des Gehörs segmental und suprasegmental durch Beurteilung, Skalierung und Transkription in Merkmale und Merkmalskomplexe zu zerlegen (vgl. Bose 2001, 269). Die in der Sprechwissenschaft seit langem etablierte Methode wird als „funktionelles Hören“ bezeichnet (vgl.

ebd.). Funktionelles Hören funktioniert im Wesentlichen über das Reproduzieren des Gehörten (vgl. ebd.). Die Sprechwissenschaft hat gegenüber der Theaterwissenschaft den Vorteil, dass ihre aufgrund eines intensiven Hörtrainings geübten Hörer/-innen in der Lage sind, auf ein-zelne Sprechausdrucksmerkmale des auditiv wahrnehmbaren Komplex-signals zu achten. Zwar verfügen untrainierte Hörer/-innen auch über die Fertigkeit im analytischen Hörverstehen, setzen sie aber nur dann ein, wenn Unerwartetes ihren Hör- und Verstehensmustern nicht ent-spricht (vgl. ebd.). Auditive Analysen fanden demnach nicht erst während des Auswertungsprozesses der erhobenen Daten statt, sondern bereits während der teilnehmenden Probenbeobachtungen. Sie erweiterten die Beschreibungsmöglichkeiten speziell für beobachtete Sprechweisen.

Zudem wurden auch aufführungsanalytische Ansätze bereits wäh-rend der Probenbeobachtungen angewandt. Hierbei wurde vor allem eine phänomenologische Perspektive eingenommen, welche die Wahr-nehmung und Erfahrung einer Aufführung bzw. in diesem Fall eines Probenereignisses zum Ausgangspunkt für einen Reflexionsprozess macht (vgl. Weiler/Roselt 2017, 85). Zur Methode der teilnehmenden Beobachtung, welche die Arbeitsweisen und Erfahrungen der aktiv an einer Probe Beteiligten dokumentierte, gesellte sich die Beschreibung konkreter Spiel- und Sprechweisen bzw. Gestaltungselemente, die auf Basis meiner Erfahrung als analysierende Zuschauerin zum Ausgangs-punkt für den späteren Analyseprozess wurde. Während also innerhalb der explorativen Phase der teilnehmenden Probenbeobachtung die Wahrnehmung konkreter Erarbeitungsschritte eines Textes bzw. der Prozess der Entstehung bestimmter Spiel- und Sprechweisen und die damit im Zusammenhang stehenden Arbeits- und Denkweisen der

Regie- und Ensemblemitglieder im Vordergrund der Beobachtung standen, ging es innerhalb der problemorientierten Phase der Probenbe -obachtung verstärkt um die Wahrnehmung und Beschreibung der ent-standenen Erscheinungsformen der Inszenierung gegen Ende des Probenprozesses. Das Protokollieren und mitunter auch schon Deuten der Erscheinungsformen einer Durchlaufprobe als ein methodischer Schritt, den auch die Aufführungsanalyse unternimmt, da sie je nach Fra-gestellung die unzähligen Erscheinungen einer Aufführung beschreibt und interpretiert, wurde zu einem wichtigen Bestandteil dieser Beobach-tungsphase.

In der problemorientierten Phase kristallisierten sich auch erste Ent-scheidungen für die nähere Analyse bestimmter Szenen und deren Erar-beitungsprozesse für die sich anschließende Auswertungsphase des Pro-benprozesses heraus. Insbesondere diese Szenen wurden während der Durchlaufproben auditiv nach dem Gebrauch der sprecherischen und stimmlichen Mittel sowie aufführungsanalytisch nach der Wahrneh-mung bestimmter darstellerischer Erscheinungsformen beobachtet. Die Vorbereitungen und Durchführungen der Interviews mit den drei Regis-seur/-innen und dem Chorleiter fanden ebenfalls in der problemorien-tierten Phase am Ende der Probenprozessbeobachtung statt.

2.4.5 Untersuchungskorpus

2.4.5 Untersuchungskorpus

Im Dokument Der performative Umgang mit dem Text (Seite 84-95)