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Drei situative Ebenen

Im Dokument Der performative Umgang mit dem Text (Seite 124-127)

INSZENATORISCHE ASPEKTE DREIER PROBENPROZESSE

2.3 Drei situative Ebenen

Die Integration des Chors 1 in den Stückablauf bringt drei situative Ebenen der Inszenierung sowie eine zusätzliche „Stück-im-Stück-Situa-tion“ bzw. die Ebene des „dritten Stücks im Stück“ hervor. Die Fabel Biedermann und die Brandstifter wird auf Inszenierungsebene vom Chor 2 erzählt, dem sogenannten Chor der Inländer. Die Handlung des Stücks wird immer wieder durch kommentierende Einlagen des Chors 2 unterbrochen. Auf diese Weise bedient die Inszenierung Frischs Lehr-stück und etabliert ein Stück im Stück.

In diesen Ablauf bricht nach dem dritten Bild der endgültigen Insze-nierungsversion (vgl. Lepschy/Lösch, Textfassung 25. Februar 2014, 6) die Realität des Chors 1 ein, der im folgenden Verlauf die Handlung des Stücks ebenfalls immer wieder unterbricht. Die Einlagen beider Chöre thematisieren die Migrationsproblematik aus unterschiedlichen Per-spektiven. Im Unterschied zu Chor 2 übernimmt Chor 1 dabei keine Theaterrolle, sondern präsentiert eine Stimme des Realen. Hier bricht die Realitätsebene der Theatersituation in die dramatische Wirklichkeit des Stücks ein. Die Laien sind „echt“, sie verkörpern keine Figuren, son-dern vertreten eine (ihre) Stimme. Damit bekommt die Inszenierung, neben der epischen Anordnung im Sinne Brechts, eine zusätzliche per-formative Dimension. Max Frisch fand für sein Stück Anregungen in der Theorie bzw. im Theater von Bertolt Brecht. Auch er wollte kein Illusions theater und wünschte sich im Sinne Brechts eine Distanz des Publikums zum Bühnengeschehen (vgl. Hage 2011, 87 f.). Laut Hage bezeichnete Max Frisch die Biedermann-Geschichte selbst einmal als Musteraufgabe für ein episches Theater (vgl. ebd. 88).

Aber zugleich hat er dem Theaterstück den Untertitel Ein Lehrstück ohne Lehre gegeben und sich damit bewusst von Brecht abgesetzt.

Auch wenn Frisch viele Elemente des Verfremdungstheaters aufgreift (etwa die Ansprache an das Publikum, das Heraustreten der Figuren aus der Handlung), so ist bei ihm doch etwas ganz anderes daraus entstan-den als Brecht’sche Dramatik. Frisch sucht auf dem Theater Fragen zu präzisieren, Brecht wollte bestimmte Antworten provozieren. (ebd.)

Auffällig ist, dass sich innerhalb der Inszenierung von Volker Lösch mehrere Situationen überlagern. Der Aktionsraum ist in drei Ebenen unterteilt. Die Choristinnen und Choristen des Chors 1 sitzen in der ersten Zuschauerreihe. Sprechen sie, wenden sie sich dem Publikum zu, ansonsten verfolgen sie das Stück auf der Bühne. Auf einer zweiten Ebene, die zum Zuschauerraum etwas erhöht ist und als Vorderbühne bezeichnet wird, spielen sich die Aktionen des Chors 2 ab. Die dritte Ebene ist noch einmal stark erhöht und als Guckkastenbühne konzi-piert. Hier spielen sich die Szenen zwischen den Figuren Herr und Frau Biedermann, dem Dienstmädchen Anna und den beiden Brandstiftern ab. Zwischen Ebene zwei und drei kann eine große Leinwand gezogen werden, auf die verschiedene Bilder projiziert werden (vgl. Anhang 3, Abbildung 6–8).

Während die Figuren des Stücks auf der dritten Ebene innerhalb von dramatischen Situationen agieren, treten die beiden Chöre innerhalb einer aktuellen Kommunikationssituation in den direkten Kontakt mit den Zuschauerinnen und Zuschauern. Chor 2 als Erzähler und Kom-mentator des Stücks verbleibt dabei jedoch innerhalb der Bühnensitua-tion und agiert als Chorfigur. Er warnt das Publikum und statuiert anhand Biedermanns Verhalten, der zwei Fremdlinge einlässt, die am Ende sein Haus anzünden, ein Exempel. Die Aussage des Chors 2 lautet:

„Wenn ihr nichts dagegen unternehmt, geschieht euch das gleiche wie Herrn Biedermann.“ Damit wird auf die Argumentationsstrategie der SVP bzw. jeglicher Propaganda aufmerksam gemacht, welche die Angst des Volks durch die Macht der Bilder (Werbung, Plakate, Slogans) schürt, sodass es diese rassistische Denkweise in seine eigene über-nimmt. Dem gegenüber steht die andere Seite, die Sicht der Migrantin-nen und Migranten, die in der Schweiz leben. Die Laien des Chors 1 befinden sich zunächst im Zuschauerraum innerhalb der aktuellen Situa-tion des Theaters und sind nicht Teil der Bühnenhandlungen. Erst in dem Moment, in dem sie die Bühne betreten, bekommen sie Symbolcha-rakter. Hier beginnt ihr Spiel. Die räumliche Veränderung verändert ihre Situation. Sie unterbrechen nicht mehr den Stück- bzw. Spielablauf,

son-dern werden ein Teil davon. Zu Beginn äußern sie sich innerhalb ihrer Texte sehr wohlwollend, zunehmend werden aber auch Probleme ange-sprochen. Gleichzeitig werden sie dabei mutiger. Sie erheben sich nicht mehr nur aus den Theaterstühlen in der ersten Reihe, sondern sie begin-nen auf ihre Stühle zu steigen, ein Bein auf die Stuhllehne zu stellen, sich auf die Bühnenrampe zu setzen. Am Ende stehen sie sogar im Rampen-licht auf der Bühne, wo sie aus der Sicht des Chors 2 nicht hingehören. Sie nehmen sich immer mehr Raum und agieren zunehmend selbstbewusster.

So entstehen zwei gegensätzliche Perspektiven: Einerseits gibt es die Eindringlinge in den Szenen des Stücks, gegen die nichts unternommen wird und die am Ende Biedermanns Haus anzünden. Andererseits wird der fremdenfeindliche Chor, der die ganze Zeit vor dieser Situation warnt, selbst zu einem Brandstifter, weil er sich gezwungen sieht, etwas zu unternehmen. Der Dramaturg Christoph Lepschy deckt diesen Sach-verhalt für die Choristinnen und Choristen beider Chöre in einem Gespräch auf der Probe am 14. Februar 2014 auf, indem er sagt:

Wenn dem Volk über eine lange Zeit propagiert wird, die „Auslän-der“ seien Schuld an der Übersiedlung, was die Umwelt zerstört oder sie nehmen den Schweizern die Arbeitsplätze weg, Kriminalität geschehe immer in Verbindung mit Ausländern etc., dann führt das unter Umständen zu einem Akt der Aggression im Volk, welches nun selbst zu Brandstiftern wird. Das Stück selbst wird zur Brand-stiftung. (Lepschy in: Kiesler, Probenprotokoll 2014-02-14 II, 6)

Der „Chor der Inländer“ entscheidet sich am Ende der Inszenierung, ausgelöst durch die Katastrophe im Biedermann-Stück, für die symboli-sche Vernichtung der Ausländerinnen und Ausländer. Diese Vernich-tung ist keinesfalls als ausländerfeindliche Aussage zu werten, welche die Inszenierung treffen möchte, sondern als gesellschaftlicher Spiegel.

Auf diese Weise deckt die Inszenierung die Strategie und Gefahr propa-gandistischer Argumentationsweisen auf bzw. thematisiert sie.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Volker Lösch und sein Team mit einem ausgearbeiteten und durchdachten Inszenierungskonzept in die Probenarbeit einsteigen. Dieses Konzept wird jedoch im Verlauf des Pro-benprozesses durch konzeptionelle Entscheidungen verändert, insbesondere um auf eine verschärfte gesellschaftspolitische Situation zu reagieren. Darü-ber hinaus führen konzeptionelle Entscheidungen zur Etablierung dreier Darstellungsebenen: einer dramatischen, einer epischen und einer performa-tiven. Im Vordergrund der Inszenierung steht die Auseinandersetzung mit einem inhaltlichen Thema, in diesem Fall mit dem Thema „Migration“.

3 Konzeptionelle Aspekte zur Faust-Inszenierung von

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