• Keine Ergebnisse gefunden

Kognitive Aktivierung im Mathematikunterricht

2.3 Standard-basierte Unterrichtsgestaltung durch Kompetenzorientierung

2.3.2 Kompetenzorientierung im Mathematikunterricht

2.3.2.2 Kognitive Aktivierung im Mathematikunterricht

Blum (2006b, S. 29) führt zur kognitiven Aktivierung als Qualitätsmerkmal von Mathe-matikunterricht aus: „…der Unterricht stimuliert geistige Schülertätigkeiten, ermöglicht und ermutigt selbstständiges Lernen und Arbeiten, fördert lernstrategisches Verhalten (heuristische Aktivitäten) und fordert stets ein Nachdenken über das eigene Lernen und Arbeiten heraus (metakognitive Aktivitäten).“.

Die bisher vorliegenden empirischen Daten geben zweierlei Auskunft. Einerseits konnte durch die TIMS-Videostudie gezeigt werden, dass deutscher Mathematikunterricht vor-nehmlich in den nicht-gymnasialen Bildungsgängen einem lehrerzentrierten Unterrichts-skript folgt, das durch Abarbeiten von Routinen und der Anhäufung von deklarativem Wissen geprägt ist (Kunter, 2005), andererseits stimmen Lehrkräfte in ihren Selbstaus-künften in großer Mehrheit dem normativen Konzept eines selbstständig und diskursiven Lernens in der Mathematik zu (Baumert et al., 2004). Diese Zustimmung basiert auf einer im Rahmen von PISA 2003 durchgeführten Befragung zu den präskriptiven Vorstellun-gen von Mathematiklehrkräften zum Mathematiklernen. Es konnten hierbei zwei bipolare Faktoren ausgemacht werden, die sich in Kombination mit den erfragten Zieldimensionen

66

als selbstständiges und diskursives Lernen mit Vertrauen auf mathematische Selbststän-digkeit auf der einen Seite darstellen sowie als Gegenpol im rezeptiven Lernen und dem Lernen durch Einschleifen und Vereinfachung. Die weiterhin erfragten Ziele Modellie-rungsfähigkeit und Selbstregulation werden dem normativen Unterrichtskonzept des selbstständigen und diskursiven Lernens zugesprochen. Diese impliziten Lerntheorien und Ziele der Lehrkräfte verwendeten Baumert et al. (2004) als Skalen für die Untersu-chung der erfahrungsbasierten Unterrichtswahrnehmung von Mathematiklehrkräften. Die Modellierung eines Sieben-Faktorenmodells diente als Grundlage für die Rekonstruktion der Unterrichtswahrnehmung von Lehrkräften. Besonderer Wert wurde auf die zuverläs-sige Abbildung der beiden fachdidaktischen Kerndimensionen einer kognitiv herausfor-dernden Unterrichtsgestaltung und eines enggeführten Unterrichts gelegt. Im Ergebnis zeigt sich, dass Lehrpersonen, die einen kognitiv aktivierenden Unterricht initiieren, ebenso differenzierend und individualisierend arbeiten, während die Beschreibung eines enggeführten Unterrichts durch häufig direkte Instruktionen und einem erhöhten Interak-tionstempo erfolgt. Die damit implizierte Kleinschrittigkeit der kognitiven Bewegungen wird bei einer schulformspezifischen Analyse unter Kontrolle der Schülerfachleistung besonders in den Real- und Hauptschulen beobachtet. Ein kognitiv herausfordernder Un-terricht scheint laut Lehrerangaben am ehesten in den Gymnasien realisiert zu werden.

Innerhalb der Schulformen bestimmt jedoch das Leistungsniveau der jeweiligen Klasse über die Anwendung differenzierender Maßnahmen und die Komplexität im Weiterler-nen. In Klassen, die ein hohes Niveau an mathematischem Vorwissen aufweisen, wird seltener kleinschrittig und enggeführt unterrichtet. Eine Klassifizierung von Lehrkräften in Typen der Unterrichtsinszenierung ergibt vier Profilformen, die sich auf alle Schulfor-men verteilen und die zwei Extremgruppen erkennen lassen. Den besten Fall beschreibt eine Optimalform, die durch einen effizienten, kognitiv herausfordernden und differen-zierten Unterricht mit persönlicher Zuwendung beschrieben wird. Das Spiegelprofil bildet die Problemform eines enggeführten Unterrichts mit sehr niedrigem kognitivem An-spruch und hoher sozialer und persönlicher Distanz. Auf beide Formen fallen jeweils 18 Prozent der befragten Lehrkräfte. Der Hauptteil der Lehrkräfte berichtet von einem Unter-richtet, der zwischen diesen beiden Polen liegt und versucht, eine Engführung zu vermei-den, aber mit dem Bemühen einer persönlichen Zuwendung und Individualisierung. Die Dimension der kognitiven Aktivierung konnte auch in den Schülerauskünften nachgewie-sen werden, wenngleich deren Urteil eher für die Beschreibung von Routinen und die

67

Einschätzung der Qualität von Interaktionen im Unterricht herangezogen wird (Clausen, 2002, Gruehn, 2000). Allerdings beurteilen die Schülerinnen und Schüler die realisierte kognitive Aktivierung bei der Aufgabenstellung, während die Lehrkräfte eher die didakti-sche Anlage des Unterrichts beschreiben. Als Experten ihres Unterrichts nehmen die Schüler einen kognitiv aktivierenden Unterricht im Zusammenhang mit der Übernahme der pädagogischen Verantwortung durch die Lehrkraft wahr, d.h. eine selbstständigkeits-fördernde Lernumwelt verbinden die Schüler mit der Wertschätzung und Individualisie-rung ihrer eigenen Person (Baumert et al., 2004). Kunter et al. (2005, S. 504) beschreiben in den weiterführenden Analysen zum Mathematikunterricht der PISA-Schülerinnen und Schüler den Aspekt der kognitiven Aktivierung in Anlehnung an Baumert und Köller (2000) als Lerngelegenheit, die „…Prozesse des verständnisvollen fachlichen Lernens im Unterricht seitens der Lernenden stimulieren.“. Die zentrale Dimension des verständnis-vollen Lernens im Mathematikunterricht wird durch den Faktor „kognitiv herausfordern-de Unterrichtsgestaltung“ in einem Sieben-Faktorenmoherausfordern-dell abgebilherausfordern-det. Der Faktor bein-haltet Skalenwerte zur Auswahl und Implementation von kognitiv herausfordernden Auf-gaben und zur Unterstützung kognitiver Selbstständigkeit. Der Faktor korreliert positiv mit dem ebenfalls bestätigten Faktor der Individualisierung und Differenzierung, einer sozialen und persönlichen Orientierung und besonders hoch mit dem Faktor der erweiter-ten Lernformen. Interessant ist in dieser Untersuchung, dass auch die Schülerinnen und Schüler die kognitive Aktivierung als ein Merkmal wahrnehmen, das sehr hoch mit einer sozialen Orientierung des Unterrichts, dem Ethos der Verantwortung21 und einem ange-messenen Interaktions- und Durchnahmetempo korreliert.

Die Befunde zur Unterrichtswahrnehmung im Rahmen von PISA lassen aufgrund der Tatsache mittlerer Schülerleistungen jedoch noch enorme Verbesserungsmöglichkeiten in Richtung Optimalform offen. Insgesamt bleibt die Kritik an der deutschen Unterrichtsrea-lität eines wenig kognitiv herausfordernden Mathematikunterrichts bestehen, der inhalt-lich durch Kalkülhaftigkeit und in der Inszenierung durch Engführung gekennzeichnet ist.

Pauli, Drollinger-Vetter, Hugener und Lipowsky (2008) untersuchten im Rahmen des schweizerisch-deutschen Projekts „Unterrichtsqualität, Lernverhalten und mathemati-sches Verständnis“ die Zusammenhänge zwischen der methodischen Vorgehensweise beim Begriffsaufbau im Mathematikunterricht und drei Dimensionen eines kognitiv

21 Den Faktor benennen Kunter et al. (2005) als „Professionellen Ethos der Lehrkraft“. Der Faktor setzt sich aus Skalen zum Respekt und zur Wertschätzung seitens der Lehrkraft sowie aus Individualisierungsmaß-nahmen und wahrgenommener Unterstützung beim Lernen zusammen.

68

vierenden Unterrichts. Auch diese Autoren gehen von einem konstruktivistischen Lern-verständnis aus, fanden jedoch keine Effekte des darstellenden, problemlösend-entwickelnden oder problemlösend-entdeckenden Inszenierungsmuster auf den fachlich-kognitiven Lernertrag.

Messner (2009) weist für einen kognitiv aktivierenden Unterricht auf die wichtige Rolle der Aufgabenkultur hin, in der sich die Prinzipien der aktiven Konstruktion und der Prob-lemorientierung des Unterrichts vereinen. Diese neue Aufgabenkultur findet mit dem SINUS-Projekt einen erfolgreichen Träger im Sinne der Implementation eines kompe-tenzorientierten Unterrichtskonzeptes. Die Problemorientierung wird dabei als der wich-tigste Zugang zu einer kognitiv aktivierenden, eigentätigen Denkleistung angesehen.

Beim Einsatz von Aufgaben zur Überprüfung der Bildungsstandards wird das Prinzip der kognitiven Aktivierung in der Kombination aus einer Anforderungsniveaukomponente mit den für die Mathematik geltenden allgemeinen mathematischen Kompetenzen umge-setzt, die jede Aufgabe auf einer drei Mal sechsstufigen Skala nach dem Grad ihrer kogni-tiven Komplexität verortet (Blum, 2006). Im Allgemeinen lassen sich die Anforderungs-bereiche aufsteigend nach ihrem Anspruch bzw. der zu erbringenden Denkschritte ord-nen. Somit positioniert sich die Aufforderung zu einem einzigen Denkschritt im Bereich des „Reproduzierens“. Die Bearbeitung eines bekannten Sachverhaltes mit der Anforde-rung, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verknüpfen stellt sich als kognitiv komplexer dar und ist dem Anspruch „Zusammenhänge herstellen“ zuzuordnen. Die kognitiv komple-xeste Form der Denkleistungen wird durch Aufgaben aus dem Bereich „Verallgemeinern und Reflektieren“ beschrieben. Diese Aufgaben fragen mathematische Kompetenzen in der Ausprägung ab, u.a. eigene Begründungen und Interpretationen zu formulieren (Blum, 2006). Weiterhin kann jede Aufgabe einer vorrangig nachgefragten allgemeinen mathematischen Kompetenz zugeordnet werden (Abbildung 3). So ist es möglich, jede mathematische Kompetenz zur Bearbeitung einer Aufgabe schwierigkeitsrelevant nach dem Grad ihres kognitiven Anspruches zu differenzieren. Im Sinne eines standard-basierten Unterrichtens stimuliert der Einsatz kognitiv anspruchsvoller Aufgaben den weiteren Kompetenzerwerb hinsichtlich eines selbstgesteuerten, reflexiven, mathemati-schen Arbeitens. Eine kompetenzorientierte Aufgabenkultur findet den Zugang zur Akti-vierung des Schülers über die Lerngelegenheit, in der sie angewendet wird. Mit offenen Antwortformaten und kooperativen Lernformen wird den Schülerinnen und Schülern der

69

notwendige Kompetenzaufbau ermöglicht, der sie in Problemsituationen die Kompeten-zen abrufen lässt.

Einen anderen Aspekt der kognitiven Aktivierung bringen Klieme et al. (2006) durch die Operationalisierung des Konzepts im Projekt „Pythagoras“ in die Diskussion ein. Sie ste l-len den Umgang mit Hausaufgaben als einen Indikator für kognitiv aktivierenden Unter-richt dar. Die bei den Schülerinnen und Schülern eingesetzte Fragebogenskala erfasste neben der Häufigkeit der Vergabe von Hausaufgaben, ob und wie Lehrpersonen auf Feh-ler bei den Hausaufgaben eingehen und die Wertschätzung von neuen Lösungswegen und Lösungsprozessen. Aufgrund relevanter Befunde aus der Hausaufgabenforschung erfasste die Forschergruppe weiterhin die Bearbeitungszeit der Hausaufgaben, die Häufigkeit der elterlichen Hilfe und die Häufigkeit der Erledigung der Hausaufgaben. Im Ergebnis konn-ten vorherige Befunde von Trautwein, Köller und Baumert (2001) repliziert und gezeigt werden, dass die Vergabehäufigkeit von Hausaufgaben einen positiven Effekt auf die Leistung hat, der Umfang elterlicher Hilfe jedoch einen negativen Effekt aufweist. Die bloße Kontrolle der Hausaufgaben im Unterricht zeigt keinen Effekt auf die Leistung, andererseits konnte auf Klassenebene ein signifikant positiver Einfluss des prozessorien-tierten Umgangs mit Hausaufgaben nachgewiesen werden, womit die Autoren konstatie-ren: „Das Ausmaß kognitiver Aktivierung – exemplarisch gemessen am Umgang mit Hausaufgaben – hat also einen signifikanten Einfluss auf die Leistungsentwicklung im Verlauf des Schuljahres…“ (Klieme et al., 2006, S. 139).

Eine längsschnittliche Untersuchung über den gesamten Zeitraum der Sekundarstufe I zum Kompetenzerwerb und zum Mathematikunterricht liegt mit dem PALMA-Projekt vor (Pekrun et al., 2006). Als ein zentrales Ergebnis der Analysen im Bereich Modellie-rungs- versus Kalkülkompetenzen der Schülerinnen und Schüler weist die Forschergrup-pe das starke Übergewicht der KalkülkomForschergrup-petenzen aus. Bei gleicher kognitiver Komple-xität der Items in der Konstruktion der Subskalen zeigen die Leistungsbefunde, dass es sich bei den Defiziten in den Modellierungskompetenzen nicht um ein jahrgangsstufen-spezifisches Phänomen handelt. Lediglich in den Hauptschulen näherten sich die Kompe-tenzwerte der Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Kalkülhaftigkeit und Modellie-ren an. Auch in der Schülerbefragung zeigen die Werte eine Abnahme des so genannten modellierungsorientierten Unterrichts, wogegen die Mittelwerte hinsichtlich der Kalkülo-rientierung eine deutlich geringere Standardabweichung aufzeigen und insgesamt sehr viel stabiler sind. Pekrun et al. (2006) verknüpfen die Modellierungskompetenzen mit

70

dem kognitiven Aktivierungsgehalt des Unterrichts. Aus Sicht der Lehrkräfte konnte in einer Analyse des Gesamtdatensatzes über alle Messzeitpunkte die Ergebnisse von Bau-mert et al. (2004) hinsichtlich des Dimensionenmodells von Unterricht repliziert werden.

Durch die verschiedenen Operationalisierungen des Konzeptes der kognitiven Aktivie-rung wird die Bedeutung dieses Unterrichtsmerkmals erschwert. Einerseits wird in der Art der Unterrichtsführung eine kognitive Aktivierung erkannt, andererseits werden Auf-gaben (als HausaufAuf-gaben oder im Unterricht) bzw. die zu ihrer Bearbeitung notwendigen Kompetenzen als Indikator der kognitiven Aktivierung herangezogen. Damit ver-schwimmen die Ergebnisse verschiedener Studien durch die Benennung des gemessenen Konstruktes. Ein einheitliches Verständnis eines kognitiv aktivierenden Unterrichts scheint es nicht zu geben, weshalb das Merkmal in seiner Komplexität zunimmt.