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Bildungsstandards werden von Klieme et al. (2003) und Oelkers und Reusser (2008) als Instrument, Referenzrahmen, Reformelement, Komponente in einem Steuerungsmodell und Oberbegriff für Kompetenzbeschreibungen bezeichnet. Aufgrund der maßgeblich starken Gewichtung der Definition von Standards in der Klieme-Expertise führen sie zu einer Arbeitsdefinition, die sie als Begriff für domänenspezifische Kompetenzzuschrei-bungen ausweisen. Nach Lersch (2010) ist das Neue und Besondere an den Standards die Tatsache, dass sie die Erwartungen an die Ergebnisse schulischer Lehr-Lern-Prozesse in Form von Kompetenzen beschreiben. Es handelt sich um eine neue Idee, eine andere Be-trachtungsweise, die andere Maßnahmen impliziert, um ihr zu begegnen. Zieht man die Definition von Rogers (2003, S. 12) über eine Innovation heran, die er als eine von Indi-viduen als neu wahrgenommene Idee, Praktik oder Objekt beschreibt, dann handelt es sich bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Bildungsstandards um eine Innovation. Holt-appels (2005) führt eine Trennung der Bedeutung von Innovationen und Schulreformen durch, indem er Innovationen mit dem Vorgang der Einführung von bestimmten Neue-rungen assoziiert und unter dem Reformbegriff die Umformung von Bestehendem meint.

Beides vereint er in dem Begriff Schulentwicklung, der nicht nur auf die Entwicklung und Konzipierung von Reformmodellen hindeutet, sondern zusätzlich die Adaptierung kon-kreter Innovationen in und von der Praxis impliziert. Einzelschulische Entwicklung wird damit zum Kern einer standardbasierten Schulreform, deren Ergebnisse im Sinne eines technokratischen Reformansatzes nach Herzog (2010) in einem zirkulären Kreislauf wie-der in die Systemebene rückgefüttert werden. Fullan (2007) unterscheidet diesbezüglich zwei entscheidende Begrifflichkeiten im Bereich der schulischen Innovationsforschung:

innovation und innovativeness. Während die Innovation ein bestimmtes Programm oder Produkt anspricht, dessen Erfolg oder Misserfolg messbar ist, beschreibt die Innovations-fähigkeit die vorhandene Kapazität oder Möglichkeit einer Organisation, sich fortlaufend zu verändern. Bezogen auf die Bildungsstandards bedingen sich beide Begrifflichkeiten gegenseitig. Eine erfolgreiche Implementation bedarf einer schulischen Organisation, die zur Veränderung fähig ist. Aus einer prozessorientierten Perspektive stehen Bildungs-standards am Ende einer Wirkungskette und bilden sozusagen die innovative Zieldimen-sion, von der aus der Kreislauf erneut ansetzt. Rückwärts gedacht ist dem Ziel ein Weg oder ein Prozess vorgelagert, der im hier betrachteten Kontext als Kompetenzerwerb oder –aufbau bezeichnet wird. Dieser Prozess wird für die Schülerinnen und Schüler moderiert durch die Schaffung von geeigneten Lernarrangements. Auf die Institution Schule

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gen wird damit ein kompetenzorientierter Unterricht bezeichnet, der im Sinne Rogers eine Innovation in Form einer neuen Praktik darstellt. Damit wird für die weitere Arbeit das Konzept der Kompetenzorientierung4 ebenfalls als eine Innovation betrachtet. Popham (2004, S. 17) beschreibt es so: „Standard-Based Education is nothing more than a posh ends-means model wherein content standards represent intended ends, teaching consti-tutes the means for achieving those ends, and test results supply the evidence regarding whether the means did, in fact, achieve the intended ends.”.

Ein weiteres für diese Arbeit relevantes Element bilden die Kompetenzmodelle. In dem von Herzog (2010) angewendeten Zweck-Mittel-Schema dienen sie als Scharnier zwi-schen den Regelkreisen der Politik und der Pädagogik. Da mit ihrer Hilfe kompetenzori-entierte Aufgaben zur Überprüfung der Bildungsstandards in einem Modell verortet wer-den können, sind Kompetenzmodelle als Instrument zu bezeichnen. In wer-den deutschspra-chigen Ländern sollen durch Kompetenzmodelle die Prozesse des Kompetenzerwerbs modelliert werden5. Sie bilden das für die Bildungsstandards notwendige Kommunikati-onsmittel, um die komplexen Kompetenzbeschreibungen der Schülerinnen und Schüler in einem Modell verorten zu können. Theoretisch fundierte Kompetenzmodelle befinden sich aktuell in der empirischen Prüfung. Da sie sich in einem fortlaufenden Entwick-lungsprozess befinden, sollen sie auf der abstrakten Ebene als Instrument betrachtet wer-den, nicht aber als Innovation.

Zusammenfassend werden als Untersuchungsgegenstände für diese Arbeit in Anlehnung an Rogers (2003) zwei Innovationen ausgemacht – Bildungsstandards als neue Idee und das Unterrichtskonzept der Kompetenzorientierung als neue Lehrpraktik. Für das weitere Vorgehen wird diese Bestimmung handlungsleitend sein.

Die hohe Komplexität der Innovation Bildungsstandards ergibt sich aus deren multidi-mensionaler Wirkung auf allen Ebenen des Bildungssystems. Bisher liegen nur wenige Befunde zur Einführung der Innovation Bildungsstandards in Deutschland vor. Wenn-gleich die Forschung in den USA und Großbritannien bereits auf einen verWenn-gleichsweise großen Erfahrungswert zurückgreifen kann, lassen sich in Deutschland kaum Anhalts-punkte finden, wie diese bildungspolitisch initiierte Innovation in den Schulen und Klas-senzimmern ankommen und angenommen wird. Mit der Arbeit von Zeitler, Heller und Asbrand (2012) liegt ein konkreter Beitrag zur Implementationsforschung zu den

4 Kompetenzorientierung und standardbasiertes Unterrichten wird gleichbedeutend verwendet.

5 Klieme et al. (2003, S. 50): “Indem Bildungsstandards kumulatives Lernen über mehrere Jahrgänge und Niveaustufen hinweg darstellen, verändern sie den Blick auf Unterricht von einer rein fachsystematischen Perspektive hin zu einer stärker schülerorientierten, d.h. an der kognitiven Entwicklung der Lernenden ausgerichteten Perspektive.“

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dungsstandards in Deutschland vor. Andere Beiträge aus dem weiteren Umfeld des deutschsprachigen Raums liegen mit den Arbeiten von Oelkers und Reusser (2008) sowie Altrichter und Posch (2007), Böttcher und Dicke (2008), Maag Merki (2004), und Pant (2008a, 2008b) vor. Längsschnittlich generierte Ergebnisse zum Umgang und zur Imple-mentation von Bildungsstandards im Unterricht liegen bislang jedoch noch nicht vor. Mit dem Projekt zur Analyse der Leistungsentwicklung in Mathematik (PALMA) veröffentlichten Pekrun et al. (2006) zwar eine Längsschnittstudie zur Leistungsentwicklung in tik, der Schwerpunkt des Projektes bezog sich jedoch auf die Untersuchung der Mathema-tikleistung und des Kontextes von Mathematikunterricht. Holtappels (2005, S. 37) macht darauf aufmerksam, wenn er zur Forschungslinie über Schulentwicklung ausführt, dass prozessbezogene Primärstudien hierzulande rar bleiben. „Sie erfolgen vornehmlich im Zusammenhang mit schulischen Innovationen, vor allem Curriculumsrevisionen, Verän-derungen in der schulischen Zeitorganisation oder innovativen Ansätzen im Unterricht.“.

Mit der COACTIV-Studie6 legten Kunter et al. (2011) eine umfassende längsschnittlich angelegte Untersuchung zur professionellen Kompetenz von Mathematiklehrkräften vor, die es ermöglichte, kausale Wirkrichtungen des Handelns von Lehrkräften auf den Unter-richt und die Leistung von Schülerinnen und Schülern zu analysieren. Die Ergebnisse der COACTIV-Studie erlangten große Bedeutung und bestätigten an einer repräsentativen Stichprobe empirisch eine Vielzahl theoretischer Konzeptionen, wie z.B. die Merkmale von Unterrichtsqualität, und eingeleiteter Praxismaßnahmen, wie z.B. das Weiterbil-dungsprogramm zur „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Un-terrichts (SINUS)“. COACTIV ist damit eine Untersuchung, die Erklärungswissen gene-riert und ein theoretisches Kompetenzmodell für Mathematiklehrkräfte zur Verfügung stellt. Die Bildungsstandards formulieren dagegen ein Ergebnis, dessen Weg dorthin of-fen bleibt, jedoch viele Merkmale und Kriterien impliziert. Wenn am Ende der Unter-richtszeit ein bestimmtes Ergebnis herauskommen soll, dann besteht die Notwendigkeit, den Weg dorthin darauf auszurichten, was durch die Kompetenzorientierung im Unter-richt beschrieben wird. Diese Arbeit Unter-richtet den Blick damit auf das Prozesswissen der Lehrkräfte und die von COACTIV bestätigte Bedeutung und Veränderbarkeit des fachdi-daktischen Wissens.

6 Vollständiger Name: „Cognitive Activation in the Classroom: The Orchestration of Learning Opportuni-ties for the Enhancement of Insightful Learning in Mathematics“.

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Unter der Voraussetzung, dass ein fachlicher und/oder fachdidaktischer Input dazu führt, dass Lehrkräfte ihren Unterricht umgestalten, sollen diese Veränderungen abgebildet werden.

2 Kompetenzerwerb auf der Grundlage von Bildungsstandards

Der Anstoß zu den aktuellen Reformbemühungen in Deutschland erfolgte erst durch die öffentlichkeitswirksame Diskussion der ersten PISA-Ergebnisse, wenngleich sich bereits nach der Auswertung der Trends in International Mathematics and Science (TIMS)-Studie ein Handlungsdruck für eine veränderte Schulpolitik offenbarte. Damit folgte Deutschland den Empfehlungen eines Gutachtens infolge der PISA-Ergebnisse (Program for International Student Assessment), in dem den Schulen nach dem Vorbild erfolgrei-cher PISA-Länder mehr Gestaltungsfreiheit eingeräumt werden soll, gleichzeitig jedoch die Steuerung über Bildungsstandards intensiviert werden soll (Avenarius et al., 2003).

Die Bildungsstandards, wie sie im deutschsprachigen Raum konzipiert sind, haben als Performanzstandards den Anspruch, „…Erwartungen (Normen) an fachliches Lernen im Kontext allgemeiner Bildungsziele zu spezifizieren.“ (Maag Merki, 2006, S. 146). Dabei verliert sich der Fokus auf den Input zunehmend und die im Zuge der Standardeinführung gesetzten Ziele geraten referenziell in den Mittelpunkt. Ausdruck erfährt dieser Paradig-menwechsel in den 2006 von der KMK vorgelegten „Plöner Beschlüssen“, die eine Ge-samtstrategie zur Qualitätssicherung im allgemeinbildenden Schulsystem beschreiben.

Diese aus flächendeckenden Vergleichsarbeiten und nationalen Tests zur Überprüfung der Bildungsstandards (Monitoring), ergänzt um Schulinspektionen und standardorientier-ter Unstandardorientier-terrichtsentwicklung, bestehende zyklische Strategie zur Qualitätsentwicklung, beschreibt in ihrer Logik ein Lernen aus dem Output des vorherigen Messzyklus, dessen Wirksamkeit sich im Folgezyklus messbar zeigt. Doch nicht allein die Überprüfung der Standards führt im Sinne des Reformprozesses zur Steigerung der Unterrichtsqualität, vielmehr bedarf es eines Unterrichts, der Lerngelegenheiten für die in den Standards for-mulierten Kompetenzen anbietet und damit den eigenaktiven Erwerb von Kompetenzen fördert (Köller, 2010). Standards werden damit zum Zielkriterium in der Unterrichtspla-nung und dienen gleichzeitig als Reflexionsmaßstab für den erreichten Lernzuwachs der Schülerinnen und Schüler (Drieschner, 2009). Für die Implementation der Bildungsstan-dards scheint folglich die Unterrichtsgestaltung auf der Grundlage der BildungsstanBildungsstan-dards eine notwendige Maßnahme zu sein, um kompetente Lerner im Sinne einer überprüfbaren Outputsteuerung zu produzieren.

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Das folgende Kapitel möchte daher die Konzeption und Formen der Kompetenzorientie-rung in den Blick nehmen, so wie sie unter der Maßgabe zu beachtender Standards am Ende der Schulzeit sinnvoll erscheinen. Nach der Klärung des Kompetenzbegriffes als Grundlage der weiteren Ausführungen (Abschnitt 2.1), wird konkret das Kompetenzmo-dell im Fach Mathematik der Sekundarstufe I vorgestellt (Abschnitt 2.2) bevor auf dessen Basis ein kompetenzorientierter Mathematikunterricht beschrieben wird (Abschnitt 2.3).