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2.3 Standard-basierte Unterrichtsgestaltung durch Kompetenzorientierung

2.3.2 Kompetenzorientierung im Mathematikunterricht

2.3.2.1 Fachlich gehaltvolle Unterrichtsgestaltung

Die Komponente der fachlich gehaltvollen Unterrichtsgestaltung beschreibt Blum (2006b) genauer mit dem vielfältigen Angebot von Gelegenheiten, in denen kompetenz-bezogene Tätigkeiten im Mittelpunkt stehen. Diese Lerngelegenheiten sollen vielfältige Vernetzungen herstellen, sowohl innerhalb der Mathematik als auch zwischen Mathema-tik und Realität. Den Schülerinnen und Schülern soll ein Unterrichtangebot zuteil werden,

19 Kunter et al. (2005) meinen damit die allgemein lernförderlichen Aspekte des Unterrichts, wie z.B. eine störungspräventive Klassenführung, eine angemessene Geschwindigkeit, Klarheit, Verständlichkeit und Strukturiertheit der Darbietung.

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das im Sinne eines verständnisorientierten Lernens in produktiven Übungsformen den mathematischen Kompetenzaufbau ermöglicht. Die Konzeption solcher produktiven Übungsformen ist der Selbstorganisation des Lernens verpflichtet, worin Übungen mit zu entdeckenden Zusammenhängen oder unterschiedlichen Lösungswegen und Begrün-dungsmöglichkeiten fokussiert werden. „Das Ziel auch der produktiven Übungsformen ist gleichermaßen die Ausbildung eines auf Verständnis basierten, schließlich aber automati-sierten Beherrschens der jeweiligen Gegenstände.“ (BLK, 1997, o.S.). Ein solcher Unter-richt setzt eine kompetente (bezogen auf die Lernprozesse), aspektreiche (bezogen auf die Gegenstände) und authentische (bezogen auf die fachliche Bedeutung der Inhalte) Gestal-tung voraus. In der BerichterstatGestal-tung zur PISA-Studie 2003 führen Baumert et al. (2004) sechs zentrale Grundsätze des verständnisvollen Lernens nach Baumert und Köller (2000) an, die aufgrund der Studienanlage jedoch nicht in der Tiefe operationalisiert werden konnten. In verkürzter Form lässt sich verständnisvolles Lernen mit den folgenden Punk-ten beschreiben:

Verständnisvolles Lernen

• ist ein aktiver individueller Konstruktionsprozess,

• ist sinnstiftend,

• ist von den individuellen kognitiven Voraussetzungen (vor allem bereichsspezifi-schem Vorwissen) abhängig,

• erfolgt situiert und kontextuiert,

• wird durch Motivation und metakognitive Prozesse reguliert,

• wird durch kognitive Entlastungsmechanismen unterstützt20.

Pekrun und Zirngibl (2004) führen aus, dass eine entscheidende Voraussetzung für nach- und außerschulisches Lernen die Bereitschaft und Fähigkeit sei, eigenaktiv Lernvorgänge einzuleiten und zu steuern, weshalb das Merkmal der Selbstregulation mit fünf Items in der PISA-Studie 2003 erfasst wurde. Im Ergebnis wird eine Geschlechterdifferenz deut-lich, die den Jungen einen höheren Grad an kognitiver Flexibilität und selbstbestimmtem Handel bescheinigt. Weiterhin zeigt sich, dass das Merkmal Selbstregulation positiv ver-knüpft ist mit dem Interesse bzw. der Freude an Mathematik. In der Untersuchung des Lernverhaltens wird deutlich, dass deutsche Fünfzehnjährige in einem geringeren Maße Elaborationsstrategien einsetzen. Deutlich häufiger und im Vergleich mit dem

20 Zur ausführlichen Darstellung Baumert und Köller (2000) und Baumert et al. (2004).

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nalen Durchschnitt überdurchschnittlich nutzen die deutschen PISA-Schüler kognitiv ri-gide, eher oberflächliche Strategien des Wiederholens und Auswendiglernens von Lö-sungsalgorithmen, was auch in den Leistungen zum Ausdruck kommt, da für den Erwerb von mathematical literacy modellierungsorientierte, kreative und eigenständige Formen des mathematischen Problemlösens und Lernens zentral sind. In den Fortbildungsmateria-lien des Hessischen Kultusministeriums (2008, S. 139) wird ausgeführt: „So sollten die Schüler in einem fachlich gehaltvollen Unterricht konsequent zur geistigen Eigenaktivität stimuliert werden und Gelegenheit zum Kompetenzerwerb erhalten, indem sie beispiels-weise verstärkt zum Argumentieren, Probleme lösen oder Modellieren angeregt werden.“.

In den Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule konnten Otto et al. (2006) erfolg-reich ein Trainingsprogramm zur Förderung sachspezifischer und fächerübergreifender (selbstregulativer) Kompetenzen evaluieren. Sie können zeigen, dass die Selbstregulati-ons- und mathematischen Problemlösekompetenzen bei Grundschülern durch ein geziel-tes Schüler- und Lehrertraining signifikant gesteigert werden können. Dabei erfuhren die Schülerinnen und Schüler ein siebenwöchiges Training mit je einer Sitzung pro Woche, in denen sie sich mit mathematischen Problemlösestrategien und Selbstregulationsstrate-gien beschäftigen. Die Lehrkräfte wurden in fünf Sitzungen über Möglichkeiten der Fremdmotivierung, Konzentrations-, Entspannungs- und Bewegungsübungen zur Lernun-terstützung sowie dem Modelllernen informiert. Aufbauend auf den Ergebnissen berich-ten Komorek, Bruder, Collet und Schmitz (2006) über den Inhalt eines Fortbildungskon-zeptes, das auf einem Unterrichtskonzept zur Förderung mathematischen Problemlösens und Selbstregulationskompetenzen basiert. Die Kernideen des Unterrichtskonzeptes be-schreiben Komorek et al. (2006) im Projekt Problemlösen und Selbstregulation fördern - Ausbildungsprogramm (PROSA) durch eine positive Lerneinstellung und Lernmotivati-on, binnendifferenziertes Arbeiten in leistungsheterogenen Lerngruppen, Sichern von Basiswissen und Können, ein bewusster und reflektierter Umgang mit Mathematikaufga-ben, die Vermittlung heuristischer Bildung und die Einbeziehung der Hausaufgaben im Sinne eines selbstregulierten Arbeitens beim Lösen individuell schwieriger Aufgaben. Im Ergebnis zeigt sich eine deutliche Steigerung der Mathematikleistung, insbesondere die leistungsschwächste Gruppe profitierte von dem im Unterricht angewendeten Konzept.

Hinsichtlich der Lerneinstellungen und des Lernverhaltens zeichnete sich bei den Schü-lern jedoch keine positive Entwicklung ab, was durch den Befragungszeitpunkt und die alterspezifischen Besonderheiten erklärt wird.

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Für die mathematischen Tätigkeiten des Argumentierens und des Beweisens haben Reiss et al. (2006) in einer Interventionsstudie gezeigt, dass ein aktivierender Unterricht in ei-nem schülerorientierten Lernarrangement die Schülerkompetenzen fördert und auch zu einer Leistungssteigerung, ebenso gerade im unteren Leistungsbereich, führt. Das Prinzip der kognitiven Aktivierung fand sich hier im Grad des selbstregulierten Lernens wieder.

Eine erhöhte Selbstregulation und die Verbesserung des Problemlösens war das Ziel einer Studie zur Integration von erfolgreich evaluierten Trainingskonzepten in den Mathema-tikunterricht (Komorek, Bruder & Schmitz, 2004). Die Forschergruppe macht auf das geringe Interesse der getesteten Schülerinnen und Schüler an der Kompetenz Problemlö-sen aufmerksam, konnte jedoch nach Anwendung eines gezielten Unterrichtskonzeptes eine Steigerung der Problemlösekompetenz für die leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler nachweisen. Eine nur sehr geringe Leistungssteigerung zeigen Hamilton et al.

(2003) bei einer Untersuchung des Zusammenhangs zwischen initiierten Schülertätigkei-ten durch die Lehrkraft und den Schülerleistungen in Mathematik. Die reform practices scale umfasste dabei 15 Items und fragte nach der Häufigkeit der Durchführung bestimm-ter Schülertätigkeiten, wie z.B. Teilnahme an schülergeführten Diskussionen (participate in student-led discussions), Teilen von Ideen oder Lösen von Problemen in kleinen Grup-pen (share ideas or solve problems with each other in small groups) oder Arbeit an der Lösung realer Probleme (work on solving a real-world problem). Bei der Untersuchung der Testergebnisse in Mathematik unterscheiden die Autoren im Antwortformat der Auf-gaben. Für alle offenen und acht der zehn geschlossenen Antwortformate zeigte sich, dass eine höhere Leistung mit häufiger berichteten reformorientierten Schülertätigkeiten ein-hergehen, wobei insgesamt jedoch nur fünf der zehn Koeffizienten signifikant von Null verschieden waren. Die Untersuchung erfolgte im Rahmen der Evaluierung von large-scale reforms in den USA. Die Ergebnisse unterliegen jedoch aufgrund der Besonderhei-ten der landesweiBesonderhei-ten Reformbemühungen einer Fülle von Einschränkungen (Abschnitt 3.2).

Der Anspruch einer gehaltvollen Unterrichtsgestaltung in einem kompetenzorien-tierten Mathematikunterricht wird u.a. durch einen Realitätsbezug eingelöst, der die Tä-tigkeit des mathematischen Modellierens in den Mittelpunkt stellt (Leuders & Leiß, 2006). Schülerinnen und Schüler sollen die Macht und Grenzen mathematischer Modelle erfahren, bestehende Modelle anwenden und bewerten, aber auch selbstständig Modelle aufstellen und nutzen, die gewonnenen Lösungen interpretieren und die Angemessenheit

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der Modellanwendung bewerten. Die Voraussetzungen stellen dabei die Lerngelegenhei-ten in Form von Aufgaben dar und eine unterstützende Unterrichtsgestaltung von SeiLerngelegenhei-ten der Lehrkräfte. Damit einher geht eine für Kritik offene Kommunikationskultur über Lö-sungsansätze, Fehler und Interpretationen. Der fragend-entwickelnde Unterrichtsstil scheint für diesen Anspruch eine ungeeignete Lösung darzustellen. So wird im Gutachten zu Vorbereitung des SINUS-Programms ausgeführt, dass ein fragend-entwickelnder Un-terrichtsstil hinsichtlich der Kommunikationsprozesse ein routiniertes Abspiel von Insze-nierungen darstellt, das auf der Mikroebene nicht unbedingt zu einem Verständnis bei den Schülerinnen und Schülern führen muss. Durch die trichterförmig angelegte Kommunika-tionsstruktur wird die Anknüpfung von Wissen an individuelles Vorwissen meist verengt und die Sinnkonstruktion behindert (BLK, 1997).

Mit dem Zulassen multipler Lösungswege führt Neubrand (2006) eine weitere konkrete Ausführung der gehaltvollen Unterrichtsgestaltung an. „Von Bedeutung ist dies einmal, weil multiple Lösungswege der Mathematik selbst angemessen sind, aber auch weil indi-viduelles Lernen unterstützt wird und der Unterricht auf diese Weise kognitiv reichhalti-ger wird.“ (Neubrand, 2006, S. 162). Durch die Darstellung verschiedener Lösungswege erhalten die Schülerinnen und Schüler neue Einsichten in den behandelten Gegenstand und erfahren damit eine „strukturelle Einsicht“, womit die Notwendigkeit des vertikalen Transfers und systematischen Kompetenzaufbaus deutlich wird. Horizontale Vernetzun-gen sind ebenso möglich, indem dem Lerner durch verschiedene Lösungswege bewusst wird, dass Problemlösungen stets durch Variationen verbessert werden können, „…und dass mathematisch begründete Aussagen über reale Probleme nur so gut sein können wie die zu Grunde gelegten Modelle.“ (Neubrand, 2006, S. 163). Fachlich gehaltvoll werden verschiedene Lösungswege, weil das erlangte Wissen in einer Problemsituation angewen-det werden muss und damit aus der ursprünglichen Erwerbssituation gelöst wurde. Mit der gestellten Problemsituation wird dem Lerner bewusst, dass das Wissen nicht an ein-malige Situationen gebunden ist und in jeweils anderen Zusammenhängen wieder einge-setzt werden kann. Damit wird an den Lerner ein kognitiver Anspruch gestellt, der Auf-schluss auf den Leistungsstand geben kann und das verstehende Lernen in dem Sinne fördert, dass selbst nicht gangbare Lösungswege auf weiterreichende mathematische In-halte im Voraus verweisen. Inwiefern ein kognitiver Anspruch das Lernen aktiviert und Verstehensprozesse herbeiführt, wird im folgenden Abschnitt erläutert. Pauli und Reusser (2010) befragten in einer Schweizer Studie Mathematiklehrkräfte nach der Häufigkeit des

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Einsatzes ihrer Lehrformen im Unterricht. Die Diskussion von Lösungswegen rangierte dabei als eine der zwei Formen, die die Autoren mit einem diskursiven Unterricht (kon-struktivistisches Unterrichtsverständnis) verbinden, im häufig eingesetzten Bereich von mindestens ein Mal pro Woche. Am häufigsten setzen die Lehrpersonen jedoch Formen ein, die einem traditionellen Unterricht zuzuordnen sind, wie z.B. Stillarbeit, das Vorlö-sen von Aufgaben durch eine Schülerin oder einen Schüler, das Abfragen der Lernenden, das Erklären oder Vorlösen von Aufgaben durch die Lehrperson und ein fragend-entwickelndes Lehrgespräch.

Zusammenfassend wird das Qualitätsmerkmal der fachlich gehaltvollen Unterrichtsge-staltung konkretisiert und inhaltlich beschrieben durch die Aspekte

• eines unterstützenden Lernverhaltens seitens der Lehrkraft,

• dem vielfältigen Angebot von Kommunikations-, Problemlöse-, Argumentations- und Modellierungsaufgaben mit Realitätsbezug,

• der möglichst häufigen Initiierung von eigenaktiven Denkprozessen mit der Mög-lichkeit eines selbstregulierten Lernens und

• eine für multiple Lösungswege, Fehler und Interpretationen offene Kommunikati-onsstruktur im Unterricht.