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Die Genese von Faktoren aus theoretischer Sicht

3.3 Förderliche Faktoren im Prozess der Implementation einer Bildungsinnovation

3.3.1 Die Genese von Faktoren aus theoretischer Sicht

Mit Blick auf die aktuelle Situation in Deutschland stützt sich der Implementationspro-zess weitgehend auf Theorien des professionellen und organisationalen Lernens. Diese Theorien mit dem Schwerpunkt „Lernen“ beziehen sich auf Personen und Organisatio-nen. Bei der Schaffung der Voraussetzungen für anhaltendes und nachhaltiges Lernen werden die zur Veränderung notwendigen Ressourcen und Unterstützungsangebote in den Blick genommen (Oelkers & Reusser, 2008). Im Sinne eines persönlichen als auch orga-nisationalen Kapazitätsaufbaus sind die Konzepte des professionellen und

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len Lernens an die des capacity-building anschlussfähig. Aus einer Lernperspektive her-aus wird capacity-building von vielen Forschern eher als eine Fähigkeit betrachtet, die es den Akteuren ermöglicht, Reformen angemessen zu begegnen und umzusetzen. Little (1999) sieht in der teacher capacity eine Schlüsselrolle im Umsetzungsgrad einer systemi-schen Reform. Das Konzept wirkt seit der zweiten Bildungsreformwelle in den USA mehr als eine Leitlinie bzw. als Implementationsprinzip, da der ersten Welle als Antwort auf den 1983 von Ravitch verfassten Bericht „A Nation at Risk“ (National Commission on Excellence in Education, 1983) hauptsächlich top-down-eingeführte Maßnahmen wie eine Erhöhung der Standards und Regulierungen, ein erhöhtes Lehrergehalt und verlän-gerte Schultage folgten, jedoch keinesfalls capacity aufgebaut wurde oder der Unterricht veränderte wurde (Desimone, 2003). Newman, King und Youngs (2000, S. 261) definie-ren auf Schulebene capacity als „the collective power of the full staff to improve student achievement schoolwide“.

In der Reflexion eines 10 Jahre andauernden Prozesses der Sicherung und Verbesserung von Schulqualität sieht Stoll (2009) das Konzept des capacity buildings mehr als ein ho-listisches Konzept; in einem Entwicklungsprozess ändert sich die Bedeutung von capacity von einer anfänglichen drei-Kategorien-Betrachtung (personell, interpersonell und orga-nisationell, Mitchell & Sackney, 2000) zu einer sieben-Kategorien-Betrachtung (Massel, 1998). Auf der Unterrichtsebene werden die Kategorien Wissen, Fähigkeiten und Fertig-keiten von Lehrkräften, Schülermotivation und Lehr-, Lernmaterialien für Schüler und Lehrer ausgemacht. Auf der Schulebene werden diese ergänzt durch die Faktoren „An-zahl der unterstützenden Personen im Klassenzimmer“, „An„An-zahl und Qualität der Sozial-beziehungen“, „Ausstattung und Organisation und Vernetzung der Schulressourcen“.

Berner et al. (2008) spricht von „der Notwendigkeit von Inputs unter Bedingungen der Output-Orientierung“. Bei der Durchführung systemischer Standard-Reformen wurden durch Lehrerfortbildung, Schulausstattung, Lehrmaterialien usw. Rahmenbedingungen geschaffen. Der Aufbau solcher Kapazitäten verstärkt sich, je stärker sich die Innovation oder die Politik von den bestehenden Praktiken unterscheidet (Cohen & Barnes, 1993a).

Bezogen auf den persönlichen Lernprozess und professionellen Kapazitätsaufbau geht Fullan (2007, S. 59) sogar noch weiter indem er konstatiert: „Capacity building first, and judgment second – because this is what will motivate more people. Learning in context and learning every day are the keys.“. Erst die Erfahrungen des eigenen Erlebens führen zu einer Änderung der Ansichten und Überzeugungen. Folglich sollten Lehrkräfte erst

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eine kompetenzorientierte Unterrichtsgestaltung ausprobieren und erste Erfahrungen sammeln, bevor sich tatsächlich ihre Einstellung gegenüber den Bildungsstandards än-dert. Auch Oelkers und Reusser (2008, S. 261) verweisen aus einer Akteur-Perspektive auf die durch Forschungsbefunde gestützte Wirksamkeit des professionellen Lernens.

„Veränderungen in der Schul- und Unterrichtspraxis setzen schulbezogen-organisationale, letztlich jedoch immer individuelle Veränderungen – und damit Lernen – voraus.“ Sie machen fünf Gruppen von Bedingungen für eine wirksame Innovationssteuerung aus, die sie auch für die Implementation als zentral halten:

• Bedingungen, die die Innovation selbst betreffen

• Bedingungen, die sich auf die individuellen Lehrpersonen beziehen

• Bedingungen, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsfeld der einzelnen Schule stehen

• Bedingungen, die den regulativen Rahmen und die unterstützenden Kontexte der Reform betreffen

• Bedingungen, die sich auf die konkrete Umsetzung der Innovation beziehen.

Für alle fünf Gruppen von Bedingungen machen Oelkers und Reusser (2008, S. 260/261) konkrete Ausführungen, die Prinzipien und Maßnahmen identifizieren, „…die für eine nachhaltige, den Unterricht und das Lernen von Schülerinnen und Schülern erreichende pädagogische Qualitätsentwicklung als zentral gelten können.“. Mit der Betonung von stärker autonomen Schulen und der Qualitätsverbesserung der Lehrerfortbildung empfeh-len die Autoren zwei Schwerpunktmaßnahmen, die schrittweise angestrebt werden sollten (Hervorhebungen im Original). Hier wird deutlich, dass neben den Schulen als Ganzes besonders die einzelnen Lehrkräfte als Träger der Implementation betrachtet werden. Das konstruktive Sense-Making, das Spillane, Reiser und Reimer (2002) beschreiben als die Konstruktion von Sinn und damit Interpretationsunterschiede der Lehrkräfte bei den poli-tischen Botschaften meinen, wird jedoch von drei Faktoren maßgeblich beeinflusst:

• vorgängiges Wissen und eingespielte Praktiken,

• der soziale Kontext,

• das Design und die Repräsentation der Politik.

Wenn folglich Lehrerfortbildungen als Ansatzpunkt gelingender Implementationsprozes-se geImplementationsprozes-sehen werden, dann beschreibt SenImplementationsprozes-se-Making den Prozess der Interpretation der Po-litiksignale, beruhend auf der Wissensbasis, den Überzeugungen und den Ansichten einer

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Person35, der in einen sozialen Kontext eingebettet ist und durch die Art der Kommunika-tion der Reform ausgelöst werden. Der soziale Kontext wird hier auf den Mikrobereich des Arbeitskontextes beschränkt, womit die Zugehörigkeit zu einer Profession, aber auch die Kommunikation in Kollegien und Netzwerken gemeint ist. Entscheidend für das Sen-se-Making der Lehrkräfte scheint die Präsentation der politischen Ziele zu sein. In der Art von Textdokumenten wie Standards, Testinstrumenten oder Informations- und Weiterbil-dungsunterlagen, die in kurzer Form die Ziele und den Zweck der Reform beschreiben, ohne die zugrunde liegenden Ideen und Konzepte näher auszuführen, scheint problema-tisch. Nach den Ausführungen von Oelkers und Reusser (2008) hat sich gezeigt, dass Lehrkräfte eher eine Innovation implementieren, je spezifischer sie transportiert wird.

Damit wird auf die Qualität des Materials, der Informationen, der professionellen Ent-wicklung, der Leitung und der Instruktion hingewiesen, die es Lehrkräften ermöglichen soll, das neue Konzept bzw. die Kernidee im Sinne eines positiven Sense-Making zu ver-stehen. Allerdings zeigt sich ein Unterschied zwischen schwächeren und exzellenten Lehrkräften. Ersteren fällt die Implementation leichter, wenn anschauliches Material, konkrete und beispielbezogene Instruktionen beiseite stehen, während Letztere stärker auf Autonomie ansprechen. Für diese Gruppe von Lehrkräften gilt es also, die Spezifität eines neuen Konzeptes gegenüber den Befürchtungen einer Deprofessionalisierung transparent zu machen. Neben der Spezifität lassen sich weitere Faktoren ausmachen, die die positive Entwicklung einer Innovation wahrscheinlich machen:

• Konsistenz, im Sinne einer möglichst hohen Übereinstimmung von Schulreform-strategien mit den Strategien der Politik;

• Autorität, im Sinne einer selbstverständlichen Interaktion zwischen den Trägern der Reform, dem Grad der Mitbestimmung bei Entscheidungen und der Schaffung von Netzwerken;

• Durchsetzungsmacht, im Sinne staatlicher Anreize, wie z.B. monetäre Unterstüt-zung;

• Stabilität in Bezug auf die Schulleitung, den Lehrkörper, die Administration und das politische Umfeld (Oelkers und Reusser, 2008).

Diese von Porter et al. (1988) bestimmten Kriterien beschreiben eine Policy Attributes Theory, die Desimone (2002) auf die Analyse erfolgreicher Implementationsmodelle in

35 “Sense making is not a simple decoding of the policy message; in general, the process of comprehension is an active process of interpretation that draws on the individual’s rich knowledge base of understandings, beliefs, and attitudes. “ (Spillane, Reiser und Reimer, 2002, S. 391).

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den USA anwendete. Danach ist die Institutionalisierung einer Politik wahrscheinlicher, je überzeugender ihre Autorität im Sinne einer rechtlichen Verankerung bzw. ihre Über-ein- stimmung mit sozialen Normen ist, als die Durchsetzungsmacht mittels monetärer Anreize, da diese nur befristet anhalten. Desimone (2002, S. 470) hält fest: „Findings show that while each attribute contributes to implementation, specificity is related to im-plementation fidelity, power is related to immediate effects, and authority, consistency, and stability seem to be the driving forces of long-lasting change.”.

Gräsel (2010) strukturiert die Faktoren zur erfolgreichen Implementation einer Bildungs-innovation in vier Merkmalsgruppen, in denen jeweils verschiedene theoretische und em-pirische Aspekte zum Tragen kommen. So bezieht sie in der Gruppe der (1) Merkmale der Innovation selbst die Erkenntnisse aus Rogers Diffusionstheorie (2003) mit ein und nennt damit fünf Merkmale, die „leicht transferierbare Innovationen“ aufweisen:

1. von den Lehrkräften wird ein relativer Vorteil bei der Innovation gegenüber der beste-henden Praxis erkannt,

2. die Innovation ist kompatibel mit bestehenden Überzeugungen und Werten der An-wender,

3. eine wenig komplexe Innovation wird schneller übernommen, 4. eine schrittweise Einführung wirkt weniger bedrohlich und

5. schnelle Sichtbarkeit erster positiver Ergebnisse führt zu einer beschleunigten Über-nahme (Gräsel, 2010; Rogers, 2003). Die (2) Merkmale der Lehrerinnen und Lehrer wer-den in der zweiten Gruppe benannt, worin sich die Autorin hauptsächlich auf wer-den con-cerns-based-adoption-model-Ansatz stützt (Abschnitt 3.1.3). Mit den (3) Merkmalen der Einzelschule betont sie besonders die Rolle der Schulleitung und die Kooperation im Kol-legium. Auf die Umweltfaktoren und die Transferunterstützung wird explizit in der vier-ten Merkmalsgruppe eingegangen. So werden hier Faktoren wie die Stabilität personeller Konstellationen und die Innovationsdichte benannt. Auch das Vorhandensein von schul-übergreifenden Netzwerken und das Angebot an Lehrerfortbildungen finden in dieser Gruppe ihren Raum. Gräsel (2010) gibt damit einen strukturierten Überblick über die Faktoren, die die Verbreitung oder Weitergabe von Transferiertem beeinflussen.