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Hintergründe zur Gedenk- und Erinnerungsarbeit

2.1. Wie funktioniert Erinnerung?

Der Mensch ist ein soziales Wesen und entwickelt sein Gedächtnis vor allem aufgrund seiner Zugehörigkeit zu Gruppen, wie z . B . der Familie, dem Geschlecht, der sozialen Schicht, der ethnischen Herkunft, der Ideologie oder auch der Religion . Diese Gruppen entwickeln ein Gemisch aus gemeinsam geteilten Erfahrungen, überlie-ferten Geschichten, Erzählungen über vergangene Ereignisse, etc ., welches man als Gruppengedächtnis, eine spezielle Form des kollektiven Gedächtnisses, bezeichnet . Im kollektiven Gedächtnis werden einschneiden-de Ereignisse von Gruppen, Gesellschaften und Nationen für spätere Zeiten aufbewahrt . Sie tragen zu einschneiden-deren Selbstverständnis bei und stiften damit Identität . Jede Gesellschaft greift auf die Vergangenheit zurück, um sich selbst zu definieren . Die Vergangenheit verdichtet sich dabei zu kurzen Erzählungen, die bei Bedarf so-wohl von Gruppen als auch von Individuen abgerufen, also erinnert werden können . Dafür benötigt sie aber Anstöße wie z . B . Denkmäler, Museen, Bücher, Filme, oder aber auch Rituale wie Jahrestage, Umzüge oder Gedenkveranstaltungen .

Wir stellen also fest: Erinnern und Gedenken ist nicht nur ein individueller, sondern vor allem ein gesell-schaftlicher Prozess . Dementsprechend ist für das Erinnern ebenso wie für das Gedenken – speziell an Holo-caust und Nationalsozialismus – Wille, Engagement und Anstrengung notwendig . Nicht ohne Grund existiert der Begriff „Erinnerungsarbeit“: Es ist damit ein selbstkritischer, mitunter mühsamer Prozess verknüpft .

2.2. Wie erinnern wir?

Es gibt keine „richtige“ Erinnerung, da diese sowohl soziale als auch individuelle Aspekte trägt . Allerdings sind einige Handlungsanleitungen für den Umgang mit der Erinnerung an Holocaust und Nationalsozialis-mus sinnvoll . Das vorliegende Heft kann dafür nur ein Leitfaden sein und zur weiteren Auseinandersetzung anregen . Standardisiertes Gedenken gibt es nicht . Nichtsdestotrotz muss vor Beliebigkeit bei Gedenkaktivi-täten gewarnt werden . So setzen verschiedene Gedenkprojekte unreflektiert darauf, Betroffenheitsgefühle zu produzieren . Damit laufen sie Gefahr, den Nationalsozialismus aus der Geschichte herausgelöst, als Schre-ckensherrschaft ohne Vor- und Nachgeschichte, als nebulöse Diktatur von Dämonen zu präsentieren . Dass hinter den Verbrechen „normale Menschen“ steckten und ein ganzer gesellschaftlicher Prozess zur industri-ellen Massenvernichtung hinführte, wird dadurch verschleiert . Deshalb müssen diese verkürzten Formen des Gedenkens kritisch hinterfragt und Vorkehrungen getroffen werden, dass die Erinnerung an Holocaust und Nationalsozialismus nicht nur auf die Jahre 1938 bis 1945 beschränkt bleibt, sondern in einen Kontext gesetzt wird . Erst die Kenntnis der historischen, sozialen und kulturellen Zusammenhänge kann die Basis dafür bieten, dass Erinnerungsarbeit erfolgreich ist .

Folgende vorbereitende Fragen können GruppenleiterInnen für die persönliche Auseinandersetzung und Vorbereitung hilfreich sein:

- Wie entstand der Nationalsozialismus und wie konnte er zu seiner Stärke finden?

- Welche Entwicklung nahm die NSDAP als Repräsentantin nationalsozialistischer Politik?

- Wie stellte sich die Situation in Österreich vor dem sogenannten Anschluss 1938 dar?

- Woher kam der Antisemitismus?

- Wie entstand der nationalsozialistische Terrorapparat?

- Wie kam es zur Einrichtung des Vernichtungs- und Tötungsapparats?

Die Geschichten und Erzählungen, auf die man in der Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Ho-locaust unweigerlich trifft, wühlen die Menschen auf und beschäftigen sie. Diese Emotionen sind wichtig und sollen zugelassen werden: Es ist verständlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust Trauer und Be-troffenheit hervorruft. Jedoch ist es sinnvoll, die Emotionen mit Fakten zu unterfüttern, um zu vermeiden, dass Menschen unbestimmte Gefühle entwickeln und mit diesen allein gelassen werden. Nur wenn sie die

histori-Folgende vorbereitende Fragen können GruppenleiterInnen für die persönliche Auseinandersetzung und Vorbereitung hilfreich sein:

- Wie entstand der Nationalsozialismus und wie konnte er zu seiner Stärke finden?

- Welche Entwicklung nahm die NSDAP als Repräsentantin nationalsozialistischer Politik?

- Wie stellte sich die Situation in Österreich vor dem sogenannten Anschluss 1938 dar?

- Woher kam der Antisemitismus?

- Wie entstand der nationalsozialistische Terrorapparat?

- Wie kam es zur Einrichtung des Vernichtungs- und Tötungsapparats?

Eine „Reibpartie“: Jüdische Geschäftsleute des dritten Bezirks in Wien müssen vor Zuschauern mit Bürsten und Lauge Gehsteige reiben. Quelle: DÖW

schen Zusammenhänge erkennen, können sie diese Gefühle auch zuordnen, was eine wichtige Voraussetzung dafür ist, aus der Geschichte zu lernen . Die blanke Emotionalisierung ohne entsprechende Zusatzinformatio-nen birgt die Gefahr, ins Gegenteil umzuschlagen und eine Barriere gegen die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema aufzurichten: Das mit menschlich-rationalem Verstand Unfassbare droht sich ohne entsprechende Begleitung dem Menschen zu entziehen . Wenn z . B . ein Gedenkstättenbesuch nur den Zweck hat, junge Men-schen in die ehemaligen Gaskammern zu pferchen, um sie dort die Schrecken „nachfühlen“ zu lassen, wird man mehr Widerstand denn ernsthafte Auseinandersetzungen mit den Ursachen und Ausprägungen des Holocaust ernten .

Neben den historischen Fakten muss in der Erinnerungsarbeit auch der Unterschied zwischen Opfern und Tätern zur Sprache kommen . Die Täter auszublenden – was leider viel zu oft passiert – bedeutet, einen wesent-lichen Aspekt der Geschichte zu verschweigen . Deshalb erfordert das Gedenken an die Opfer auch die Thema-tisierung der Rolle jener, die mordeten . Die Geschichte muss in der Gesamtheit und in ihren verschiedenen Facetten behandelt werden . Eine rein opferzentrierte Sicht birgt die Gefahr, die Schuldfrage auszuklammern und jene Mechanismen abzuspalten, die zum Massenmord und zur industriellen Vernichtung von Menschen führten .

2.3. Wer erinnert?

Der Holocaust wird als Zivilisationsbruch bezeichnet . Er ist das zentrale Ereignis in der europäischen Ge-schichte und stellt die Pädagogik vor allem in Deutschland und Österreich als Länder der TäterInnen vor enor-me Herausforderungen . Das Grundproblem der Erinnerung an den Nationalsozialismus ist schnell auf den Punkt gebracht: Man musste sich nach 1945 an den Nationalsozialismus, der im Holocaust seinen irrwitzigen Höhepunkt fand, als TäterInnen erinnern . Diese bis dahin noch nicht bekannte Form des „negativen Gedächt-nisses“ ist mit belastenden, schmerzlichen Erfahrungen und Traumata der Schuld verknüpft und war insofern ein historischer Bruch, als bislang heroische und ehrenhafte Erzählungen Gesellschaften prägten . Lange Zeit hatte man sich an gloriose Siege, an heldenhafte Auseinandersetzungen und den Glanz vergangener Reiche erinnert . An den Holocaust hingegen lassen sich keine positiven Erinnerungen knüpfen .

Dazu kommt, dass sich Erinnerung immer schwieriger gestaltet: Die Gesellschaft wird vielfältiger, Lebens-entwürfe verändern sich, zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund sind Teil unserer Gesellschaft, denen die Anknüpfungspunkte zum Nationalsozialismus teilweise völlig fehlen und generell wächst durch den Wechsel der Generationen die Entfernung von den Erfahrungen des Nationalsozialismus . Dieses Fak-tum sollten wir nicht nur als pädagogische Herausforderung, sondern vor allem als Chance begreifen: „Vor dem Hintergrund einer zunehmend durch ethnisch-kulturelle Vielfalt geprägten Gesellschaft können Orte des Ge-dächtnisses zu Orten einer gemeinsamen Erfahrung werden, und – über das Gedenken an die Opfer der national-sozialistischen Menschheitsverbrechen hinaus – zu Orten der Reflexion über Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Erinnerns.“*

* Heidemarie Uhl: Lernorte – Gedächtnisorte – Gedenkstätten . In: Historische Sozialkunde . Geschichte – Fachdidaktik – Politische Bildung 4/2003, S . 4-7, hier S . 7

2.4. Lehren und Erfordernisse in der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust

Da das Gedächtnis jener, die den Holocaust miterlebten, sterblich und mittlerweile ein Großteil der Zeitzeu-gInnen tot ist, muss das Wissen um die Erfahrungen an die Nachgeborenen weitergegeben und ein gemein-samer Erinnerungshorizont geschaffen werden . Um die Erinnerungen bewahren zu können, sind bewusst gesetzte pädagogische und didaktische Interventionen notwendig, die sich aber nicht darin erschöpfen dürfen, Wissen zu konservieren und statisch weiterzugeben . Vielmehr soll die Beschäftigung mit Holocaust und Nationalsozialismus eine lebendige sein: Das Lernen aus der Geschichte muss zu demokratischer Kom-petenz erziehen, zu historischen Diskursen anregen, Empathie wecken, Diskussionen und demokratische Auseinandersetzungen anstoßen sowie das Geschichtsbewusstsein und die kritische Herangehensweise schärfen . Es soll verschiedene Perspektiven und Differenzen unter dem Bezugspunkt des Holocaust zulassen und daraus positive Lehren für die künftige Gestaltung von Gemeinwesen entwickeln .

Lebendiges Gedenken fördert positive Lehren für die künftige Entwicklungen einer Gesellschaft . Jugendliche beim Besuch der Gedenkstätte Bełżec/Polen . Foto: Verein GEDENKDIENST

Die vorliegenden Methoden sind deshalb nicht nur als Übungen und Vertiefungen zum histori-schen Wissenserwerb konzipiert, sondern tragen dazu bei, auch gegenwärtige Problemstellungen zu erkennen und zu lösen. Jedoch ist es wichtig zu beachten, dass die historische Perspektive nicht unmittelbar auf die Gegenwart umgelegt werden kann. Vielmehr sollen Querverweise und jugend-spezifische Anknüpfungspunkte die Jugendlichen dazu anleiten, Parallelen zur Geschichte und zu gegenwärtigen Problemlagen zu erkennen. Der pädagogisch-didaktische Ansatz der vorliegenden Broschüre ist auf die Prinzipien Interkulturalität und Diversität ausgelegt und stellt vor allem das Individuum in den Mittelpunkt. Anknüpfungspunkte an die Lebenswelt junger Menschen werden dabei als sinnvoll erachtet, um junge Menschen glaubwürdig zu „erreichen“. Dass das Konzept des interkulturellen Lernens jedoch nicht eins zu eins auf historische Themen angewendet werden kann, muss bedacht und berücksichtigt werden.

Erinnern und Gedenken – ein Leitfaden erfordert in seiner Umsetzung Engagement und Wissen, das nicht in diesem Band bereitgestellt werden kann. Die Methodenvorschläge ersetzen die sorgfältige Vorinformation, das Nachschlagen historischer Fakten und Zusammenhänge nicht. Für Gruppen-leiterInnen ist es unerlässlich, sich zum jeweilig behandelten Thema Informationen zu beschaffen.

Nur auf Basis gesicherten Wissens ist eine spielerische Auseinandersetzung und nachhaltiges Lernen möglich. Über eine Link- und Buchtippliste soll die Informationssuche zielgerichtet und unaufwän-dig möglich sein. Die Broschüre wurde nach den Prinzipien der Niederschwelligkeit und leichten Zu-gänglichkeit gestaltet: Die Übungen sollen leicht durchführbar, verständlich und kostengünstig sein.

Neben den Methodenvorschlägen stehen aber prinzipielle Fragen des Erinnerns und Gedenkens im Mittelpunkt: Welche Herausforderungen ergeben sich in der Erinnerungs- und Gedenkarbeit? Wie kann diese möglichst interessant und jugendgerecht transportiert und sorgfältig vor- und nachberei-tet werden?