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Kapitel 7: Fazit

1.1 Hinführung

Dialekt ist allgegenwärtig. Rund 60 % aller Deutschen sprechen eine lokale oder regionale Sprachvarietät und in Baden-Württemberg sind es sogar 100 % – sollte man dem Werbe­

slogan des Bundeslandes Glauben schenken.1 Es liegt also nahe, ein derart präsentes Phä­

nomen zu erforschen.

In der Sprachwissenschaft wird Dialekt als regional begrenzte Varietät einer übergeordne­

ten Sprache definiert und in unterschiedlichen Teildisziplinen wie zum Beispiel der Areal­

linguistik, Soziolinguistik, Dialektometrie und Wahrnehmungsdialektologie untersucht.

Die Grenzen zwischen Umgangssprache, regionalen Varianten und Dialekt zu ziehen, ist dabei auch für die Sprachwissenschaft ein Problem, da die Übergänge vom Dialekt zur Standardsprache fließend sind.2 Um dem Phänomen „Sprache“ besser gerecht zu werden, nehmen Harald Baßler und Helmut Spiekermann zum Beispiel eine Unterteilung in „Dia­

lekte, Regionalsprachen, regionale Standards und nationale Standards“ vor und beschrei­

ben Dialekte darin als:

„[…] gekennzeichnet durch eine räumlich geringe kommunikative Reichweite aufgrund phonologischer, morphosyntaktischer und lexikalischer Eigenheiten, die nur für kleine geografische Räume (z.B. innerhalb eines Dorfes) gelten und sie von anderen regionalen Varietäten und von der Standardsprache unterschei­

den.“3

Baßler und Spiekermann knüpfen mit ihrem viergliedrigen Modell an die traditionelle Ein­

teilung in „Mundart, Halbmundart, Umgangssprache und Hochsprache“ an.4 Dieses Modell wurde später von Hermann Bausinger und Arno Ruoff definitorisch durch den situativen

1 Tatsächlich sprechen in Baden-Württemberg geschätzt rund 86 % der Bevölkerung einen Dialekt. Dies belegt eine Umfrage des Deutschen Instituts für Sprache in Mannheim, an der sich bundesweit 2000 Menschen beteiligten. Vgl. Ludwig M. Eichinger et al.: Aktuelle Spracheinstellungen in Deutschland.

Erste Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativumfrage. Institut für Deutsche Sprache/Universität Mannheim, Mannheim 2009.

2 Wobei im Unterschied zu Soziolekten bei Dialekten immer eine geografische Komponente eine Rolle spielt. Vgl.: Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache, München 1994 (1978), S. 11.

3 Vgl. Harald Baßler/Helmut Spiekermann: Dialekt und Standardsprache im DaF-Unterricht. Wie Schüler urteilen – wie Lehrer urteilen. In: Linguistik online 9,2/2001.

http://www.linguistik-online.de/9_01/BasslerSpiekermann.html, [14.6.2011].

4 Vgl. z.B. Hugo Moser: Deutsche Sprachgeschichte. Tübingen 1969, S. 16.

Kontext ergänzt. Das heißt Bausinger bezieht hier das „Vor-Feld sprachlicher Äußerungen“5 mit ein, was bereits erste Ansätze einer kulturwissenschaftlich perspektivier­

ten Dialektologie beinhaltet, die in den 1970er-Jahren der Soziolinguistik entscheidende methodische Impulse gab.6

Auch in den USA entwickelte sich Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre eine an­

thropologische Form der Sprachforschung, die nicht nur die vom Menschen getätigten Äu­

ßerungen, sondern den Menschen selbst mit in den analytischen Forschungsprozess mit einbezog. Der amerikanische Soziolinguist Dell Hymes fand vor allem in der Anthropolo­

gie von Franz Boas und Edward Sapir Antworten auf seine methodischen Fragen jenseits reiner Dialektbeschreibung. Hieraus entwickelte er neue sprachethnografische Ansätze, die in der Sprachwissenschaft bis dato unbekannt waren. Ausgehend von dem Verständnis von Sprache als Sprachhandlung,7 setzte für Hymes jede ernstzunehmende linguistische Theo­

rie eine Sprachethnografie voraus, die er gleichermaßen als Analyse des Sprachverhaltens und Strukturanalyse des kulturellen Verhaltens im Kontext einer Gemeinschaft charakteri­

siert.8 Er legte den Schwerpunkt auf die Frage, wie Mitglieder der Sprachgemeinschaft handeln, um soziale Bedeutungen zu produzieren und zu interpretieren.

Dieser Ansatz wird in der in den USA entstandenen Forschungsrichtung der Perceptual Dialectology fortgeführt und ausdifferenziert. Einer ihrer Hauptvertreter, Dennis R. Pre­

ston, untersucht zum Beispiel den Einfluss von Sprecherurteilen auf Alltagssprache.9 Auch in Deutschland hat sich die Perceptual Dialectology inzwischen unter dem Namen „Wahr­

nehmungsdialektologie“ etabliert. Das Ziel der noch jungen Wahrnehmungsdialektologie beschreibt Christina Ada Anders wie folgt:

5 Vgl. Hermann Bausinger: Bemerkungen zu den Formen gesprochener Sprache. In: Hugo Moser (Hg.):

Satz und Wort im heutigen Deutsch: Probleme und Ergebnisse neuerer Forschung (= Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache, Bd. 1, 1965/66). Düsseldorf 1967, S. 292–312, S. 311.

6 Arno Ruoff hat zu dieser neuen „Sprach-Empirie“ der 1970er-Jahre einen Methodenband erstellt, vgl.:

Arno Ruoff (Hg.): Die fränkisch-alemannische Sprachgrenze. Statik und Dynamik eines Übergangsgebiets untersucht und dargestellt in einem Projekt des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen (= Idiomatica, 7/Teil 1, Textband). Tübingen 1992.

7 Zur Sprechakttheorie vgl. John Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972 (Cambridge, Mass.

1962).

8 Vgl. Dell Hymes: Soziolinguistik. Zur Ethnographie der Kommunikation (eingel. und hrsg. von Florian Coulmas). Frankfurt am Main 1979 (1974), S. 113f.

9 Dennis R. Preston: Perceptual Dialectology in the 21st Century. In: Christina Ada Anders/Markus Hundt/Alexander Lasch (Hg.): „Perceptual Dialectology“ – Neue Wege der Dialektologie. Berlin/New York 2010, S. 1–29.

„Eine umfassende systematische Untersuchung des Alltagswissens, der mit den Dialekten verbundenen Einstellungen und des zugrundeliegenden kultu­

rell-konsensualen Wissens ist bislang noch nicht erfolgt und stellt ein dringen­

des Forschungsdesiderat dar.“10

Hier setzt die vorliegende Dissertation an, allerdings mit einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung. Das heißt der Fokus wird nicht auf einer Bestandsaufnahme besonders salien­

ter11 Dialektmerkmale des Schwäbischen liegen oder einen dezidierten Vergleich von sub­

jektiven und objektiven Sprachdaten anstreben. Es soll vielmehr um die Dokumentation von Sprechereinstellungen und Sprechervorstellungen über den Dialekt gehen. Zudem sol­

len Vorbedingungen von Sprachpraxen, wie zum Beispiel dialektale Identitäten und mit ih­

nen verbundene Wahrnehmungen von Dialekträumen analysiert werden. Weiterführend sollen vor allem die Wechselwirkungen zwischen sprachlichen Identitäten und zugeschrie­

ben territorialen Spezifika bzw. der regionalen Kultur und dem persönlichen Sprachhabitus herausgestellt werden.

Wie in Forschungsarbeiten des Ludwig-Uhland-Instituts üblich, wird also ein Teil des sym­

bolischen und praxeologischen Lebensalltags der Menschen ethnografiert, analysiert, re­

konstruiert und begründet. Das hat in den meisten Fällen zur Folge, dass sich große Theo­

riebegriffe in kleinräumigen Alltagsphänomenen spiegeln oder sogar neue Theorien anhand der gewonnen Erkenntnisse entwickelt werden können.

Die Empirische Kulturwissenschaft wagt sich mit einem breiten und offenen Ansatz immer wieder in fremde Felder, die nicht selten von anderen Wissenschaften protegiert werden.

Dennoch hat sie durch ihren eigenen Blick – die im Fachjargon viel zitierte EKW-Brille – Neues beizutragen und durch ihre ungewöhnlichen Methoden zeigen sich mitunter Zusam­

menhänge, die bisher im Verborgenen lagen.

In Bezug auf sprachwissenschaftliche Forschungsgegenstände erweisen sich vor allem das qualitative Interview, die teilnehmende Beobachtung und das Mental Mapping als eine ideale Ergänzung der traditionellen direkten oder indirekten Erhebungsmethoden. Es wer­

den dadurch nicht nur Sprachdaten abgefragt, sondern auch der Kontext ihrer kulturellen

10 Christina Ada Anders/Markus Hundt/Alexander Lasch (Hg.): „Perceptual Dialectology“ – Neue Wege der Dialektologie. Berlin/New York 2010, S. XI. Vgl. hierzu auch Abschnitt 1.3.3 der vorliegenden Arbeit.

11 Begriff aus der Sprachwissenschaft, der sprachliche Lautungen beschreibt, die besonders leicht für Laien hörbar bzw. unterscheidbar sind.

Praxis. Subkontexte subjektiver Einstellungs- und Wahrnehmungstraditionen werden ein­

gebunden, was eine umfassendere Analyse von Sprache ermöglicht und ihrer Funktion als kulturstiftendes Element besser gerecht wird.