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Kapitel 7: Fazit

4.6 Begriff der Ortsloyalität

Dass das Verhältnis zur Dialektregion einen Einfluss auf die Wahrnehmung und Einstel­

lung zum eigenen Dialekt hat, ist bereits mehrfach angeklungen. Die Diskussion soll an dieser Stelle noch einmal vertieft werden, da viele Faktoren, die zu einer positiven Einstel­

lung gegenüber dem Wohnort führen, auch für eine positive Einstellung gegenüber dem Dialekt verantwortlich sind.

Die Hypothese, die dem hier verwendeten Begriff der Ortsloyalität zugrunde liegt, ist die vom Ort als einem geschlossenen sprachlichen und sozialen Handlungsraum.275 Er geht zu­

rück auf Klaus Mattheier, der als Gegenbegriff zur Ortsloyalität die Urbanität anführt, was allerdings nur im Kontext seiner Theorie vom Dorf als „Ort der geschlossenen Gemein­

schaft“ und der Stadt als „Ort der offenen Gesellschaft“ verständlich wird.276

274 Interview mit Tanja Eicholz (34) Versicherungskauffrau und Jutta Metzger (30), zahnmedizinische Fachangestellte, 24.5.2011, Lauffen, es spricht Jutta Metzger (00:21:05–5).

275 Werner Besch/Klaus Mattheier: Ortssprachenforschung. Einleitende Überlegungen. In: Dies. (Hg.):

Ortssprachenforschung. Beiträge zu einem Bonner Kolloquium. Berlin 1985, S. 9–23, S. 16.

276 Mattheier geht davon aus, dass die sozialen Beziehungen in einer städtischen Gesellschaft weniger verbindlich sind und dass hier weniger gemeinschaftliche Interessen verfolgt werden als in dörflichen Strukturen. Vgl.: Klaus Mattheier: Ortsloyalität als Steuerungsfaktor von Sprachgebrauch in örtlichen

Der Soziologe Heiner Treinen untergliedert die Ortsloyalität in eine symbolische Ortsbezo­

genheit (in Bezug auf die Loyalität zum Ortsnamen) und eine emotionale Ortsbezogenheit, für die ein von ihm bezeichneter „örtlicher Verkehrskreis“277 erforderlich ist. Dieser wie­

derum wird von den Faktoren Wohndauer, Schulbildung, Herkunft, Wohnort der Verkehrs­

kreis-Angehörigen, regionalem Wissen und Mitgliedschaft in lokal agierenden Vereinen beeinflusst. Treinen stellt einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Eingebundenheit und Ortsloyalität fest:

„Personen mit Freunden und Bekannten geben eher an, im Befragungsort gerne zu leben […] als Personen ohne einen örtlichen Verkehrskreis.“278

Nach einer weiteren Hypothese Treinens hat die Schulbildung Einfluss auf den örtlichen Verkehrskreis. Sie resultiert vermutlich daraus, dass man in den 1960er-Jahren für eine hö­

here Schulbildung meist den Ort verlassen musste. Treinen findet die Hypothese in seinen Ergebnissen bestätigt, ist allerdings erstaunt darüber, dass Angehörige prestigeträchtiger Berufsgruppen öfter angaben, sehr gerne im Ort zu leben, als Angehörige von Berufsgrup­

pen mit niedrigerem Prestige.279 Dieses Ergebnis widerspricht der Hypothese des schwä­

chenden Faktors „höhere Schulbildung“, da Angehörige prestigeträchtiger Berufsgruppen meistens über eine solche verfügen. Auch in der Auswertung der Schülerumfrage zeigt sich, dass die befragten Gymnasiasten insgesamt eine höhere Dialektalität aufweisen als die befragten Realschüler (vgl. Abschnitt 3.4.4.3). Es konnte damit kein Zusammenhang zwischen geringer Bildung und stärkerem Dialektgebrauch nachgewiesen werden.

Heiner Treinen sieht im Dialekt weiterführend ein Symbol für die Bestätigung des vorherr­

schenden Wert- und Sozialgefüges – seine Nichtverwendung interpretiert er daher auch als Ablehnung dieses Gefüges. Er geht von einem engen Zusammenhang von Ortsloyalität und Dialektaliät aus.280 Auch für Mattheier steht fest, dass sich die Ortsloyalität auf das sprach­

Sprachgemeinschaften. In: Werner Besch/Klaus Mattheier (Hg.): Ortssprachenforschung. Beiträge zu einem Bonner Kolloquium. Berlin 1985, S. 139–157. Diese Theorie wird jedoch in dem Moment hinfällig, in dem man auf die Gliederung einer Stadt in Stadtviertel und Straßen und damit verbundene Vergemeinschaftungsprozesse hinweist.

277 Vgl. Heiner Treinen: Symbolische Ortsbezogenheit: Eine soziologische Untersuchung zum Heimatproblem (Dissertation Ludwig-Maximilians-Universität München 1962/Sonderdruck des Westdeutschen Verlags). Köln 1965, S. 28.

278 Ebd. S. 32.

279 Vgl. Heiner Treinen: Symbolische Ortsbezogenheit. In: Peter Atterslander/Bernd Hamm (Hg.):

Materialien zur Siedlungssoziologie. Gütersloh 1974, S. 234–259, S. 252.

280 Auch in anderen linguistischen Untersuchungen spielt die soziale Netzwerkforschung eine Rolle, so

liche Verhalten auswirken muss, da sie Ausdruck einer regionalen Identität sei. Es erscheint ihm selbstverständlich, dass jemand, der sich einem Ort und den dort lebenden Menschen verbunden fühlt, auch die in diesem Ort verbreiteten Verhaltensweisen (zum Beispiel den örtlichen Dialekt) schätzt und praktiziert.

Dies kann durch die im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführte quantitative Unter­

suchung nicht bestätigt werden – im Gegenteil: Die Ergebnisse belegen, dass kein Zusam­

menhang zwischen Orts- und Dialektloyalität besteht. Auch Petra Leunenberger sagt, dass eben dieser naheliegende Schluss nicht zulässig ist. Bei ihrer in Basel mit 33 Dialektspre­

chern durchgeführten Studie weisen Befragte mit einer hohen Ortsloyalität lediglich ein et­

was geringeres Maß an Sprachvariation auf, aber kein höheres Maß an Dialektalität:

„Zwischen der Ortsloyalität und dem Sprachvariationsverhalten besteht ein Zu­

sammenhang dahingehend, dass stark ortsloyale Personen bei weniger Sprach­

merkmalen variieren als schwach ortsloyale.“281

Ausgehend von den Theorien Treinens und Mattheiers zur starken Bedeutung des örtlichen Verkehrskreises konnte Leunenberger zum einen die Wechselbeziehung zwischen der Mit­

gliedschaft in lokalen Vereinen und den Bewohnern bestätigen – wer Freunde und Bekann­

te in einem Wohnort hat, beurteilt sein Verhältnis zu diesem als positiv. Zum anderen stär­

ken politische Partizipation, Zufriedenheit mit der Wohnsituation, lokale Mediennutzung und ein lokaler Aktionsradius im Allgemeinen die Ortsloyalität. Darüber hinaus ist ein po­

sitives Verhältnis zum momentanen Wohnort Ursache für und Folge von Immobiliät bzw.

geringer Mobilität.282

zum Beispiel bei William Labov, vgl. Wiliam Labov: The Linguistic Consequences of Being a Lame. In:

Language in Society 2/1973, S. 81–115 und auch bei John Gumperz, vgl. John J. Gumperz/Dell Hymes (Hg.): Directions in Sociolinguistics. The Ethnography of Communication. New York 1972, sowie in John J. Gumperz: Sprache, lokale Kultur und soziale Identität. Theoretische Beiträge und Fallstudien.

Düsseldorf 1975. In dieser berühmten Sprachethnografie des norwegischen Ortes Hemnesberget, begegnet Gumperz hier einer situativ bzw. sozial klar gesteuerten Nutzung der zwei Varietäten Ranamål (Dialekt) und Bokmål (Standardsprache).

281 Petra Leunenberger: Ortsloyalität als verhaltens- und sprachsteuernder Faktor. Eine empirische Untersuchung (= Basler Studien zur Deutschen Sprache und Literatur, 74). Tübingen/Basel 1999, S.

198.

282 Petra Leunenberger: Ortsloyalität und Variationsverhalten. In: Annelies Häcki Buhofer (Hg.): Vom Umgang mit sprachlicher Variation: Soziolinguistik, Dialektologie, Methoden und

Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Heinrich Löffler zum 60. Geburtstag (= Basler Studien zur Deutschen Sprache und Literatur, 80). Tübingen 2000, S.159–172, S. 165.

Leunenberger konstatiert schließlich, dass das Phänomen Ortsloyalität in Bezug auf seinen Einfluss auf Dialekte entweder überschätzt werde oder man geeignetere Methoden finden müsse, um die Ortsloyalität genauer analysieren bzw. operationalisieren zu können.

Auch in späteren Arbeiten wurde immer wieder versucht, einen Zusammenhang von Orts­

loyalität und Sprachverhalten nachzuweisen. Christiane Steiner widmete sich in ihrer Dis­

sertation „Sprachvariation in Mainz: Quantitative und qualitative Analysen“, der „Umzugs­

willigkeit“, um die Ortsloyalität besser zu fassen.283 Auch Evelyn Ziegler widmete ihre Ar­

beit zu großen Teilen der Beschreibung des Zusammenhangs von Sprachwissen und Sprachgebrauch. Sie bezeichnet den Ortsdialekt als Symbol für eine gemeinsame Kultur und sieht eine seiner Hauptfunktionen in der sozialen Abgrenzung zu Einwohnern benach­

barter Ortschaften oder anderen, meist sozial übergeordneten Standardsprechern.284

Wie in allen sozialen Bereichen, ist also auch in Bezug auf eine dialektale Identität ein Fremder nötig, um die eigene Sprache und Individualität zu erkennen oder gegebenenfalls erst zu etablieren. Inwiefern diese Prozesse an Prozesse der Selbstwahrnehmung und Iden­

titätsbildung geknüpft sind, inwiefern also ein Identitätsbildungsprozess regional und sprachlich bedingt ist, ist Gegenstand von Kapitel 6 (Dialekt und kulturelle Identität).