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Kapitel 7: Fazit

1.3 Dialektforschung als volkskundliche Forschung

1.3.1 Dialektforschung in Tübingen

Im 19. Jahrhundert wurde das Interesse am Dialekt bzw. an der deutschen Sprache größer – auch in Tübingen – und so wurde hier 1830 der erste Lehrstuhl für neuere Philologie einge­

richtet. Bis 1832 übernahm Ludwig Uhland die erste außerordentliche Professur. Trotz sei­

ner Bedeutung für das Ludwig-Uhland-Institut kann er weder allein für die Volkskunde noch für die Dialektologie in Tübingen stehen. Seine Verdienste liegen neben eingängigen Gedichten, Prosa und seinem Engagement in der 1848er-Revolution vor allem in seinen Volksliedersammlungen und Schriften für die Volkskunde. Sein Name steht daher paradig­

matisch für die enge Verbundenheit von Germanistik und Volkskunde in Tübingen. Nicht ohne Grund trug das nach ihm benannte Institut von 1948 bis 1971 den Untertitel „für Volkskunde, Mundartenforschung und Deutsche Altertumswissenschaft“.17

Auf Uhland folgte Adalbert von Keller, der nun tatsächlich erste Mundartforschungen an der Universität Tübingen betrieb, indem er Mundartbeschreibungen und indirekte Sprach­

belege aus Konferenzaufsätzen zog.18 Ab 1888 wirkte dann Hermann Fischer, der die be­

gonnenen Arbeiten Kellers zum Schwäbischen Wörterbuch vollendete, dessen Materialien noch im Original an der Landesstelle für Volkskunde in Stuttgart zu finden sind.19 Der für das Ludwig-Uhland-Institut wichtigste Vordenker der kulturwissenschaftlichen Dialektfor­

16 Das Projekt Sprachalltag wurde selbst zum Medium des Transfers von dialektalem Wissen und thematisierte dieses Zirkulieren szientifischer und alltäglicher Ordnungen auch als Gastgeber der 18.

Arbeitstagung zur alemannischen Dialektologie von 8.-10.10.2014 an der Universität Tübingen unter dem Motto „Dialekt und Öffentlichkeit“.

17 Vgl. Sabine Besenfelder: „Staatsnotwendige Wissenschaft“. Die Tübinger Volkskunde in den 1930er und 1940er-Jahren (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 94).

Tübingen 2002.

18 Konferenzaufsätze sind von württembergischen Volksschullehrern von Mitte des 19. bis Mitte des 20.

Jahrhunderts verfasste Berichte über bestimmte kulturelle Eigenarten der Orte, in denen sie tätig waren.

Vgl.: Eberhard Forner/Lioba Keller-Drescher: Bräuche sammeln. Zur Praxis der

Überlieferungsherstellung. In: Tübinger Kataloge Nr. 90 (hg. von der Universitätsstadt Tübingen, Fachbereich Kultur, anlässlich der Ausstellung „feste formen. tübinger feiern von advent bis ostern“).

Tübingen 2010, S. 85–93.

19 Vgl. Hermann Fischer: Schwäbisches Wörterbuch (Bände I–VI.2). Auf Grund der von Adalbert von Keller begonnenen Sammlung und mit Unterstützung des Württembergischen Staates bearbeitet von Hermann Fischer. Tübingen 1901–1936. Eine Onlineversion des ersten Bandes findet sich auch unter https://archive.org/details/schwbischeswrte00kellgoog [10.2.2013].

schung ist jedoch Karl Bohnenberger (1863–1951), der erste eigene direkte Erhebungen durchführte. Diese mündeten in zahlreiche dialektologische Orts- und Gebietsmonografien, die auch zur Gründung der ersten volkskundlichen Vereinigung beitrugen.20

Bohnenberger befasste sich mit den Ausbreitungswegen verschiedener Dialektformen und nennt Verkehr und Prestige als stärkste Faktoren, die die Ausbreitung bestimmter Dialekte begünstigen.21 Er steht damit in der deutschen Tradition von Johann Andreas Schmeller (1785–1852) mit der Erfassung der Mundarten Bayerns und Karl Bernhardi (1799–1874), der eine erste Sprachkarte von Deutschland erstellte. Es ist davon auszugehen, dass auch Georg Wenker die Arbeiten von Schmeller und Bernhardi kannte, als er die wichtigste und bis heute grundlegende Untersuchung des deutschen Sprachraums anstellte, die zum Sprachatlas des Deutschen Reichs führte. Seine Erhebung mit 40 zu übersetzenden Sätzen, die an 40.000 Schulen im Deutschen Reich versandt wurden, hat neun Jahre gedauert, von 1879–1888. Die Auswertung und Kartierung benötigte weitere 34 Jahre. 1923 war die Ge­

samtübersicht fertig: Der Sprachatlas des Deutschen Reichs, der heute kurz DSA oder Deutscher Sprachatlas genannt wird, oder auch DiWA – Digitaler Wenker-Atlas, denn seit 2001 gibt es Wenkers Karten auch online. Sie werden vom „Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas“ in Marburg verwaltet und dienen noch oft als Grundlage für diachrone For­

schungen.

An der Universität Tübingen wäre es nach der Emeritierung Karl Bohnenbergers vermut­

lich auch ohne die Nationalsozialisten irgendwann zur Gründung eines Studienfaches wie der Volkskunde gekommen. Tatsächlich aber wurde die Volkskunde hier 1933 mit dem „In­

stitut für Deutsche Volkskunde“ von dem Nationalsozialisten Gustav Bebermeyer gegrün­

det. Neben Volkskunde und Frühgeschichte wurde auch Rassenkunde gelehrt.

1945 übernahm zunächst der Rektor der Universität, Hermann Schneider, die Leitung des Instituts – wieder ein Germanist. 1948 wurde das Institut in „Ludwig-Uhland-Institut für deutsche Altertumswissenschaft, Volkskunde und Mundartenforschung“ umbenannt, ehe es

20 Vgl. Eberhard Forner/Lioba Keller-Drescher: Bräuche sammeln. Zur Praxis der Überlieferungsherstel­

lung. In: Tübinger Kataloge Nr. 90 (hg. von der Universitätsstadt Tübingen, Fachbereich Kultur, anlässlich der Ausstellung „feste formen. tübinger feiern von advent bis ostern“). Tübingen 2010, S. 85–

93.

21 Vgl. Heinrich Löffler: Zu den Wurzeln der Perceptual Dialectology. In: Christina Ada Anders/Markus Hundt/Alexander Lasch (Hg.): „Perceptual Dialectology“ – Neue Wege der Dialektologie. Berlin/New York 2010, S. 31–49, S. 38. Er verweist hier auf einen Aufsatz von Karl Bohnenberger, vgl. Karl Bohnenberger: Über Sprachgrenzen und deren Ursachen, insbesondere in Württemberg. In: Württem­

bergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte NF6, Stuttgart 1897, S. 161–191.

1971 seinen heutigen Namen erhielt „Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwis­

senschaft“ kurz „LUI“. 1954 wurde Hermann Schneider emeritiert, Helmut Dölker folgte bis 1960 und von 1960 bis 1992 Hermann Bausinger.

Hermann Bausinger war und ist bis heute der bedeutendste Dialektforscher am Lud­

wig-Uhland-Institut. In den 1950er-Jahren erstellte er zusammen mit Arno Ruoff in Baden-Württemberg, Bayerisch-Schwaben, Vorarlberg und Liechtenstein über 2000 Aufnahmen für das deutsche Spracharchiv, was 1959 zur Gründung der Tübinger Außenstelle des Deut­

schen Spracharchivs führte. Diese wiederum wurde dann 1973 die Tübinger Arbeitsstelle

„Sprache in Südwestdeutschland“. 1973 war auch das Geburtsjahr der hauseigenen Reihe

„Idiomatica“: Hier wurden unter soziolinguistischen und pragmalinguistischen Fragestel­

lungen die Ergebnisse der riesigen erfassten Datenmengen analysiert und weitere For­

schungsarbeiten (zum Beispiel von studentischen Projekten) publiziert. Bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren entstand also, unter der Leitung von Arno Ruoff, ein bedeuten­

des dialektologisches Archiv an der Universität Tübingen.

Einen weiteren wichtigen Tübinger Beitrag im Bereich der Sprachbarriereforschung liefer­

te 1972 Ulrich Ammon mit seiner Dissertation „Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule“,22 in der er insbesondere die diastratische, also sozialsymbolische Funktion des Schwäbischen untersucht und sich dabei indirekt auf Basil Bernsteins These vom elaborier­

ten und restringierten Code bezieht.23 Seine wesentlichen Forderungen sind die Berück­

sichtigung von Einstellungen und der spezifischen historischen Situation in Bezug auf den Sprachgebrauch.

In der Reihe „Idiomatica“ konstatierte Ruoff bereits Anfang der 1970er-Jahre, dass subjek­

tive Dialektgrenzen und die Selbsteinschätzung der Sprecher erheblichen Einfluss auf die Entwicklung bestehender Dialekträume haben. Dennoch blieben diese Arbeiten zu genera­

22 Vgl. Ulrich Ammon: Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule (= Pragmalinguistik, 2). Weinheim/Basel 1973.

23 Vgl. zur Bernstein-Hypothese Sigrid Zamani: Die soziolinguistischen Arbeiten Basil Bernsteins, ihre empirische Basis und ihre bildungspolitischen Auswirkungen. Dissertation, Mainz 1976. Zamani beschreibt hier die Entstehung der umstrittenen These des britischen Soziolinguisten im England der späten 1950-Jahre. Diese besagt, dass Mittel- und Oberschicht einen anderen sprachlichen „Code“

benutzten als die Unterschicht. In der deutschen Soziolinguistik der 1970er-Jahre wurde dies als ein Grund dafür gesehen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien geringeren schulischen Erfolg hatten und seltener in akademischen Berufen zu finden waren als Kinder aus sozial besser gestellten Familien. Dabei wurde allerdings oft missachtet, dass sich Bernstein auf die spezifische, auch soziodialektale, Situation in England bezieht, und sich daher die These nicht ohne weiterführende Kontextualisierungen auf deutsche Verhältnisse übertragen lässt.

tions- oder geschlechtsspezifischem Sprachgebrauch ohne direkte Nachfolge und nachhal­

tige Auswirkungen auf Forschung und Lehre des Ludwig-Uhland-Instituts. Dieses Fehlen von Untersuchungen zu Sprache in der volkskundlichen Kulturforschung bemängelt Her­

mann Bausinger noch in seinem 2003 erschienenen Aufsatz „Unter der Sprachnorm“.24 Ebenfalls 2003 erschienen ist ein Band von Studierenden des Instituts, u.a. von der Verfas­

serin der vorliegenden Arbeit, die die lange dialektwissenschaftliche Abstinenz des LUI be­

endete und neue Fragestellungen zum Thema Dialekt entwickelten. Die Projektpublikation

„Renaissance des Dialekts?“, unter Herausgeberschaft des Projektleiters Eckart Frahm, streift viele Grundlagen der Dialektforschung und setzt Schwerpunkte bei den Themen „si­

tuationsspezifischer Dialektgebrauch“, „Dialekt und Öffentlichkeit“, „Dialekt und Identi­

tät“ sowie „Dialekt und Generationen“.25 Einige der hier Beteiligten beschäftigten sich auch nach Beendigung des Projekts mit dem Thema und leisteten wichtige Impulse und Beiträge für die Tagung „Dialekt und regionale Kulturforschung“, die 2006 im Fürstensaal von Schloss Hohentübingen stattfand.26 Aus dieser Tagung wiederum hat sich das Gerüst für das Projekt Sprachalltag konsolidiert, das dann drei Jahre später, durch die Initiative von Bernhard Tschofen und Hubert Klausmann, seine Arbeit aufnehmen konnte.

Da die vorliegende Arbeit jedoch nicht alleine mit Erkenntnissen arbeitet, die am Ludwig-Uhland-Institut gewonnen wurden, werden im Folgenden weitere Theorien und Wissen­

schaftszweige angeführt, die essentielle Grundlagen für das Forschungsdesign lieferten.