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Kapitel 7: Fazit

4.5 Das Eigene und das Andere – Reichweite und Raumbezogenheit von

4.5.2 Dialektale Identitäten in Neuhausen auf den Fildern

Hinweise auf einen langsamen Abbau der basisdialektalen Varietät in der Generationenfol­

ge gab es nur in Neuhausen auf den Fildern – allerdings kann dies nur in lexikalischer Hin­

sicht, nicht in lautlicher Hinsicht belegt werden. Tatsächlich fanden sich aber nur in Neu­

hausen erstmals auch bei jüngeren Dialektsprechern Merkmale der Abgrenzung gegenüber älteren Sprechern. In zwei Drittel der Fälle grenzte sich wiederum die ältere Generation vom Sprachgebrauch der jüngeren ab (siehe Ergebnisse unter Abschnitt 3.2.6). So verorte­

ten die jüngeren Dialektsprecher unbekannte Lautungen und unbekannte Lexik nicht nur auf die Schwäbische Alb, sondern schrieben sie auch den eigenen Großeltern zu:

„Wenn man das so hört, dann kann man sich vielleicht dran erinnern, dass das die Oma mal irgendwann gesagt hat, aber abgespeichert ist das nicht.“257

256 Mobilität wird in dialektologischen Forschungen oft als dialektschwächender Faktor angeführt.

257 Interview mit Frederik Hufschmied (19), Abiturient, 26.8.2010, Neuhausen (00:10:45–3), (vgl. S. 34).

Die ältere Generation steht damit in der subjektiven sozialen Hierarchie der jungen Gene­

ration sprachlich auf einer Stufe mit den Bewohnern der Schwäbischen Alb, die ebenfalls einen als stark dialektal empfundenen Sprachgebrauch aufweisen. Der Sprachraum wird also nicht nur territorial, sondern auch als generationenabhängig wahrgenommen, wie das bereits auf S. 73 angeführte Zitat aus einem anderen Interview belegt:

„Also wenn ich mit der Oma rede, dann verstehen wir uns – aber wenn sie dann mit Freundinnen redet – dann komme ich teilweise auch nicht mehr hin­

terher. Also wenn die dann so richtig anfangen, dann bin ich raus, dann kriege ich das nicht mehr mit.“258

Neben der territorialen und generationellen Abgrenzung gibt es in Neuhausen zudem eine starke soziale Abgrenzung gegen einen tiefen dialektalen Sprachgebrauch:

„Also, wo ich es merke, ist dann, wenn ich Richtung Reutlingen unterwegs bin.

Also ich reite nebenher, und da stehen die Pferde – und da finde ich, da merkt man es extrem, da die [Menschen, die auf dem Bauernhof arbeiten] viel mehr zum Schwäbischen tendieren. Wobei ich da nicht weiß, ob es nicht deswegen ist, weil die da alle aus der Landwirtschaft kommen. Also wirklich noch so bauernmäßig sind. Und der Nachwuchs da, die sind dann auch alle so um die 30, bei denen merkt man es schon extrem – da ist auch der ganze Freundes­

kreis, der extrem schwäbelt. […]. Bis auf meine Oma und denen halt im Stall wüsste ich auch niemanden, der wirklich noch so breit spricht.“259

Ein stark dialektaler Sprachgebrauch wird also nicht immer territorial begründet, sondern erscheint der jüngeren Generation in Neuhausen auch abhängig von Alter und sozialem Umfeld. Diese Erweiterung der Kriterien ist insofern notwendig, als die befragten jüngeren Personen konkrete territoriale Dialektgrenzen teilweise nicht mehr benennen konnten.

Während die ältere Generation in Neuhausen sich klar von den umliegenden schwäbischen Dialekten der Nachbarorte abzugrenzen weiß – auch wenn die hierzu vorgetragenen lautli­

chen Beispiele nicht immer belegt werden konnten – so ist dies bei der jüngeren Generati­

258 Gruppeninterview mit Tanja Hartmann (27), Groß- und Außenhandelskauffrau und ihrem Lebensgefährten Michael Metzger (27), 10.5.2011, Neuhausen (00:11:33–3), (vgl. S. 73).

259 Ebd. (00:05:37–1).

on nicht mehr der Fall. Zwar finden sich Tendenzen, einen jeweils an die eigene Region angrenzenden anderen Dialekt zu umschreiben, meist werden hierzu aber bereits die Dialekträume „Alb“ oder „Stuttgart“ hinzugezogen und die entsprechenden großräumigen, allgemein üblichen Abstufungen im Schwäbischen genannt, wie das „Stuttgarter Schwä­

bisch“ oder das „Älblerisch“. Diese beiden, als Gegensatzpaar empfundenen, Begriffe ste­

hen paradigmatisch für eine standardnähere bzw. eine standardfernere Varietät, sodass die Sprecher ihren eigenen Sprachgebrauch in der Mitte, zwischen den beiden Extremen, ver­

orten können. Dieses „In-der-Mitte-sein“ kommt auch in den territorialen Mental Maps zum Ausdruck. Während die ältere Generation einen Grenzkreis um Neuhausen zieht, deu­

ten bei der jüngeren Generation lediglich ein paar schräge Linien nach Nordwesten (Stutt­

garter Raum) und nach Südosten (Schwäbische Alb) an, dass sich hier dialektale Grenzen finden lassen könnten. Wie lässt sich diese extreme Veränderung in der territorialen Wahr­

nehmung der beiden Generationen des örtlichen Dialektes erklären?

Ein möglicher Ansatz wäre, dass die von der älteren Generation gezeichnete Dialektgrenze der konfessionellen Grenze entspricht, da Neuhausen die einzige katholische Gemeinde in­

nerhalb eines evangelisch geprägten Umfeldes darstellt. Obwohl auch die jüngere Genera­

tion den Namen „Katholisch-Neuhausen“ als Bezeichnung für ihren Wohnort kennt, spie­

gelt sich bei ihnen dieser Sonderstatus nicht in den subjektiven territorialen Dialektgrenzen wider. Eine weitere mögliche Begründung für die neuen subjektiven Grenzen der jüngeren Generation könnte in der Verringerung des Wissens über die direkten Nachbardialekte lie­

gen, die ihre Ursache auch mutmaßlich darin hat, dass die Neuhausener Schüler heute Schulen in Ostfildern-Nellingen und Stuttgart-Plieningen besuchen, und dass durch eine höhere Mobilität der Nahraum generell an Bedeutung verliert.

Neuhausen auf den Fildern liegt ca. 20 km von Stuttgart und ca. 10 km von Esslingen ent­

fernt. Hier leben viele Personen, die in der Stadt arbeiten und die Verkehrsinfrastruktur mit nahem Flughafen und Autobahnauffahrt (A 8) nutzen. Neuhausen ähnelt daher eher einem städtischen denn einem ländlichem Umfeld. Die starke Orientierung hin zu den beiden ge­

nannten urbanen Zentren und damit auch an einer standardnäheren Varietät des Ortsdialek­

tes kommt in den Interviews mit der jüngeren Dialektgeneration deutlich zum Ausdruck:

Franziska Wolf: „Also wir waren eigentlich jedes Wochenende in Stuttgart.“

Interviewerin: „Und so zum Einkaufen, wo fährt man da hin?“

F. W.: „Stuttgart.“

I. : „Habt ihr denn den Eindruck dass ihr noch viel Dialekt sprecht?“

Antonia Wolf: „Also ich spreche eher Hochdeutsch mit meinen Freunden. Die können das auch gar nicht so.“

I. : „Aber die kommen auch alle aus der Ecke?“

F. W.: „Alle von Neuhausen.“260

Es stellt sich die Frage, ob und in wieweit sich dieses sprachliche Verhalten im Vergleich zu dem der anderen jungen Dialektsprecher in den anderen beiden untersuchten Regionen unterscheidet, denn auch hier nutzt man das kulturelle Angebot und die Einkaufsmöglich­

keiten der nahe gelegenen Städte (Lauffen: Heilbronn; Stimpfach: Ellwangen und Crails­

heim). Es müssen also noch andere Faktoren außer dem Einfluss der Städte eine Rolle spielen. Denn urbane Praktiken des Konsumverhaltens, der Mediennutzung und der Frei­

zeitgestaltung sind nicht allein auf den städtischen Raum begrenzt. Und umgekehrt lassen sich auch Elemente ländlichen Lebens in mittelgroßen Städten finden. Viele vermeintlich dialektschwächende Faktoren, wie eine hohe territoriale Mobilität, sind auf dem Land all­

gegenwärtig, vielleicht sogar gegenwärtiger als in der Stadt (man denke an die weiten Stre­

cken, die mit dem Auto zurückgelegt werden müssen).261

Obwohl sich auch auf dem Land urbane Praktiken262 finden lassen, wird gerade dort der Stadt-Land-Gegensatz stark wahrgenommen und zeigt sich insbesondere in Formen der Abgrenzung der ländlichen Bevölkerung gegenüber dem Städtischen. Es ist also wahr­

260 Interview mit Franziska Wolf (29), Erzieherin in Neuhausen, (verheiratet mit einem Landwirt aus Neuhausen) und ihrer Schwester Antonia Wolf (21), 15.9.2010, Neuhausen (01:02:55–0).

261 Vgl. Nina Kim Leonhardt: Regional – sozial – individual: Bedeutung und Wandel subjektiver

Sprachräume in Nord-Baden-Württemberg. In: Dies./Rudolf Bühler/Rebekka Bürkle (Hg).: Sprachkultur – Regionalkultur. Neue Felder kulturwissenschaftlicher Dialektforschung (= Studien und Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 49), S. 55–70.

262 Vgl. Silke Göttsch-Elten: Mobilitäten – Alltagspraktiken, Deutungshorizonte und Forschungs­

perspektiven. In: Reinhard Johler et al. (Hg.): Mobilitäten – Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung. 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Freiburg im Breisgau vom 27. bis 30. September 2009. Münster/München/Berlin 2011, S. 15–29, S. 23: „Die meisten Menschen leben also in lokalen, regionalen Bindungen, bedienen sich aber ganz selbstverständ­

lich globaler Kommunikationsmedien." Weiter bezieht sich Göttsch-Elten nicht nur auf Kommunikation, sondern auch auf Alltagspraktiken. Vgl. hierzu auch: Hermann Bausinger: Heimat und Welt. Globali­

sierter Alltag. In: Katrin Hanika/Bernd Wagner (Hg.): Kulturelle Globalisierung und regionale Identität.

Beiträge zum kulturpolitischen Diskurs (= Texte zur Kulturpolitik, 17). Essen 2004, S. 21–31.

scheinlich, dass die Gründe für eine Abnahme des Dialekts unter jüngeren Sprechern eher in deren Einstellungen als in den gesellschaftlich-räumlichen Gegebenheiten und Bedin­

gungen – wie Mobilität und Urbanisierung – zu suchen sind. Für Neuhausener ist der Sprachraum „Stadt“ Paradigma einer standardnahen Varietät, was von einer jungen Neu­

hausenerin wie folgt erklärt wird:

„Du hast ja in Esslingen Innenstadt selber so viele Ausländer, die da neu zuge­

zogen sind, also Ausländer jetzt im Sinne von ‚Nicht-Esslinger‘, die das dann ja auch gar nicht mehr kennen und nicht weiterleben – von daher. Und das ist dann ja in Stuttgart noch mal viel massiver, weil es einfach noch mal viel viel größer ist.“263

Der Zuzug von nicht-dialektalen Standardsprechern oder Sprechern einer anderen Varietät wird hier als dialektschwächendes und urbanes Symptom klassifiziert. Dass es tatsächlich Einfluss auf den Dialektalitätsgrad hat, wenn ein Elternteil nicht aus der Region stammt, haben die Ergebnisse der Schülerumfrage gezeigt (vgl. Abschnitt 3.4.4.2). Dass es aber auch auf dem Land, gerade in der Nähe von Ballungszentren, Zuzug von außen gibt, wird hier von der Interviewpartnerin nicht thematisiert. Des Weiteren existieren viele Studien zum dialektalen Sprachgebrauch von Migranten und Zugezogenen, die belegen, dass hier in den meisten Fällen eine sprachliche Anpassung stattfindet. So auch im Falle der Unter­

nehmensethnografie von Rebekka Bürkle, die durch Interviews und teilnehmende Beob­

achtung bei einer Niederlassung der Firma Würth in Bad Mergentheim festgestellt hat, dass sich Kollegen aus andersdialektalen Gebieten an die im Unternehmen vorherrschende leicht regionalsprachlich gefärbte Aussprachenorm anpassen.264

Bewusste Abgrenzungen zu anderen Dialektsprechern, Selbstwahrnehmungen und Einstel­

lungen haben – neben soziodemografischen und territorialen Faktoren, die diese mit bedin­

gen – erheblichen Einfluss auf ländliche Identitäten und den dialektalen Sprachgebrauch.

In Neuhausen auf den Fildern könnte neben den fehlenden territorialen Abgrenzungsmög­

lichkeiten auch das Bewusstsein über generationelle Sprachgrenzen dafür ursächlich sein,

263 Ausschnitt aus einem Gruppeninterview mit Tanja Hartmann (27) und ihrem Lebensgefährten Michael Metzger (27), 10.5.2011, Neuhausen, hier spricht Tanja Hartmann (00:29:09–0).

264 Rebekka Bürkle: Sprachalltag in der Arbeitswelt – Sprachpraktiken zwischen Flexibilität und Limitie­

rung in Baden-Württemberg (Arbeitstitel). Dissertation Universität Tübingen 2015 (i.E.).

dass die dialektale Identität der jüngeren Generation geschwächt wird (die Befragten möchten weder alt noch bäuerlich sein).

Zwar geschieht die sprachliche Abgrenzung zur älteren Generation hier auch unter dem Zeichen, sich selbst eine urbanere bzw. standardnähere Aussprache zuzuschreiben, den­

noch implizieren diese Angaben auch eine gewisse selbstverschuldete sprachliche Unzu­

länglichkeit, da man zugibt den Dialekt der Älteren „nicht mehr zu verstehen“. Zudem könnte die ablehnende Haltung der älteren Neuhausener gegenüber dem „breiten“ Dialekt der Sielminger von der jüngeren Generation indirekt fortgeführt worden sein, indem man sie auf die „Älbler“ übertragen hat. Denn die negative Einstellung gegenüber dialektaleren Formen findet sich bereits bei den älteren Sprechern.