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Herder um 1800: Oper, Musik und ästhetische Autonomie

TEIL II: KLASSIZISTEN

3. Oper als ästhetisches Modell bei Herder und Schiller: zwischen Anthropologie, Affektrhetorik und autonomem Gesamtkunstwerk

3.2 Oper als Modell in Herders anthropologischer Ästhetik

3.2.3 Herder um 1800: Oper, Musik und ästhetische Autonomie

Was läßt sich zu Oper als Modell bei Herder um 1800 sagen? Herders „klassizistische Wendung”517 bedeutet für seine Musikästhetik vor allem die Abkehr von seinen ausdrucksästhetischen Opernkonzeptionen auf der einen und einer starken Aufwertung der wortlosen Instrumentalmusik auf der anderen Seite. Insgesamt jedoch weisen Herders Auffassungen durchaus einige Inkonsistenzen auf, was das Verhältnis von Musik und Text,

514 Herder: Brief am Gluck vom 5. November 1774, zitiert nach Kirby, S. 322.

515 Vgl. dazu Lütteken: „Vor diesem Hintergrund aber wird nicht nur eine Indifferenz von Poesie und Musik erkennbar, die das artifizielle Ereignis dem sprachmusikalischen ‚Ur-Laut’ annähert, sondern deren direkter Einfluß auf die Musik. Denn Herders Vorstellung richtet sich ja nicht auf eine Musik, die dem Wort folgt und damit etwa bloß den Rhythmus der Verse, die Sprachakzente nachahmt. Vielmehr erhofft er sich von der Musik, daß sie gleichsam die affektive Syntax herstellt – und damit eigentlich erst das Drama selbst verständlich macht. Das aber ist nur möglich in einer Musik, die nicht strikt Vokalmusik ist, sondern Musik im allgemein denkbarsten Sinn.” (Lütteken, S. 263.)

516 Krämer, S. 744, Herv. S.L.

517 Ebd., S. 750. – Neben den im folgenden zu erörternden Aspekten von Herders Klassizismus gehört dazu auch die Vorstellung von der Wirkung der Musik „auf Denkart und Sitten” (vgl. den entsprechenden Abschnitt in Herder: Adrastea, S. 314-317). Vgl. auch Krämer: „Herder sucht nun gerade das Überindividuelle der Kunst und betont ihre moralische Funktion und erzieherische Bedeutung.” (Krämer, S. 750.)

Oper und Instrumentalmusik angeht. Die Interpedenzen von Oper, „Musik”, ästhetischer Autonomie und Gesamtkunstwerk-Konzepten in den Schriften um 1800 sind Gegenstand der folgenden abschließenden Diskussion von Herders Opernmodell.

Wichtige Elemente von Herders Musik- und Opernästhetik bleiben konstant, insbesondere das energetische „Bewegungs”-Prinzip, aber auch die Oper als Ideal der Vereinigung der Künste. Gleichzeitig finden deutliche Akzentverschiebungen statt: die radikale Aufwertung der „wortlosen” Musik, wie sie sich im Vierten Wäldchen bereits als eine aus sich selbst heraus entwickelnde Kunst ankündigte, und damit einhergehend Musik an Stelle des Tanzes als Leitkunst innerhalb der Oper. Ganz aufgegeben wird der „Unmittelbarkeits”-Topos, stattdessen markiert Herder eine Subjekt-Objekt-Distanz durch die Einführung der Kategorie „Medium”. Zum Vergleich stehen insbesondere die Kant-Replik Kalligone von 1800 und das Vierte Stück aus Herders Zeitschriften-Projekt Adrastea, darin der Abschnit 9

„Tanz und Melodram” von 1801 (vordatiert 1802). Der Vergleich zeigt, wie (Instrumental-) Musik und Oper für Herder im Fokus seiner Kunstideale stehen. Ist in der Kalligone die

„Vorrangstellung der Vokalmusik und speziell der Oper, die für den frühen Herder noch fraglos galt,”518 beendet, so gilt dies doch keineswegs von der Adrastea, für die ebenfalls.

Zwar ist es richtig, daß Herder deutlich Kritik an der real existierenden zeitgenössischen Oper übt. Das tat er auch schon in Ueber die Oper, wenngleich der Bezug wechselt: war es dort die französische Tragédie, so ist es hier offensichtlich das neuere deutsche Musiktheater, wie sich etwa an der Opernparodie Olla Potrida ablesen läßt (s.u.). Als Ideal, Modell oder Utopie ist sie in Tanz und Melodram aber weiterhin präsent. Das entscheidende dabei ist, daß Herder der Musik und dem Musiker innerhalb des Gesamtkunstwerks Oper eine neue, bedeutende Stellung einräumt, die sich tatsächlich signifikant von den Positionen in Ueber die Oper unterscheidet, wo die „Töne” ebenso wie der Gesang nur am Rande angesprochen wurden. Das entspricht der im systematischen Teil beschriebenen These von der Veränderung des „Musik”-Konzeptes auch innerhalb der Oper.

Um diese Argumentation zum Modell Oper bei Herder transparent zu machen, möchte ich im folgenden einige Überlegungen zur Kalligone anstellen und anschließend die Rolle der Oper in der Adrastea vergleichend in den Blick nehmen.

In der Kalligone findet eine deutliche Objektivation der Musik statt, die als eigengesetzliche Kunst ihre Autonom ie behauptet. Das historische Bewußtsein Herders für diesen Prozeß zeigt deutlich, wie seine neue Musikästhetik auch als eine Reaktion auf die veränderte kompositorische Landschaft gesehen werden kann:

„Ohne Worte, bloß durch und an sich, hat sich die Musik zur Kunst ihrer Art gebildet. (...) Wie schwer es der Musik worden sei, sich von ihren Schwestern, Worten und Gebärden zu trennen, und für sich selbst als Kunst auszubilden, erweiset der langsame Gang ihrer Geschichte.”519

518 Ebd., S. 749.

519 Herder: Kalligone, S. 818. Vgl. auch Herder im Vierten Wäldchen: „ Wie diese [die Musik der Alten, S.L.] nicht mehr eine unmittelbare Dienerin der Leidenschaft: sondern eine prächtige eigenmächtige Kunst geworden: so auch jene [die stumme Poesie, S.L.]. Sie zirkelt so in künstlichen Linien der Bewegungen und Stellungen, wie die neuere Tonkunst in Tönen und Akkorden – beide Veränderungen sind unzertrennlich.” (Herder: Viertes Wäldchen, S. 367.)

An die Stelle der Kategorie der „Unmittelbarkeit” aus den frühen Entwürfen, mit der die Töne (des Gesangs) auf das Gehör und die Seele direkt und unvermittelt einwirkt, tritt die Konzeption eines Mediums, das zwischen Objekt Musik und Subjekt des Rezipienten geschoben ist – im Fall der Musik wird der Schall als Medium benannt. Die Position des Schalls als Träger der Musik ist zwar schon in den frühen Schriften von Herder erörtert worden, wie wir oben gesehen haben. Aber die Vorstellung vom „Körper der Musik”, der das Gehör berührt, basiert auf dem Konzept der Unmittelbarkeit, während die Analyse des Schalls in der Kalligone als „Medium” gerade die Mittelbarkeit, die Trennung zwischen künstlerischem Objekt und rezipierendem Subjekt unterstreicht. Als Replik auf Kants Kritik der Urteilskraft will Herder die Musik gegenüber Kants Abwertung als ein bloß „schönes Spiel der Empfindungen”520 nobilitieren. Gerade das Transitorische, das bei Kant eine Wertschätzung der Musik verhindert,521 wertet Herder auf und macht es zur Grundlage musikalischer Autonomie:

„Vorübergehend also ist jeder Augenblick dieser Kunst und muß es sein: denn eben das kürzer und länger, stärker und schwächer, höher und tiefer, mehr und minder ist seine Bedeutung, sein Eindruck.”522

Diese Begründung ästhetischer Autonomie der Musik modifiziert das Bewegungs-Paradigma, das schon im Umkreis der frühen Opernskizze ein entscheidendes ästhetisches Kriterium war. Dort beruhte es allerdings auf einem Korrespondenz-Modell: die musikalische oder gesangliche „Erschütterung” wurde über das Gehör (beim Tanz durch den Tastsinn) sozusagen unmittelbar in „Seelenbewegung” übertragen. Ausdruck als Darstellungsziel ist ein wirkungsästhetischer Fokus. Jetzt ist der Bezug zwischen künstlerischem Objekt und Rezipienten eher vage formuliert, der Fokus liegt eindeutig auf den Struktureigenschaften der Musik; ihr Eindruck auf die Seele wird zwar noch mitgedacht, bleibt aber sehr vage und auf das künstlerische Objekt bezogen. Zur Durchsetzung des „Harmonie”-Konzeptes als überzeitliche Grundlage gegenüber den historischen musikalischen Formen erläutert Krämer:

„Während [Herder] die Geschichtlichkeit der musikalischen Formen und der Melodiebildung betont, findet er das Überzeitliche in der Harmonie und in der menschlichen Anthropologie. Damit hat Herder eine Art ästhetischer Objektivität bestimmt, die ihn zugleich abrückt von den Postulaten der Geniezeit: Denn es ist gerade nicht die individuelle Expression, die hier betont wird, sondern eine kollektiv-allgemeine.”523

Der angemessene Rezeptionsmodus für die in dieser Weise emanzipierte (Instrumental-) Musik ist für Herder die „Andacht”. Damit lassen sich seine Ausführungen als direkte Vorläufer frühromantischer Musikanschauungen lesen:

520 Zitiert in Herder: Kalligone, z.B. S. 810f.

521 Vgl. Krämer, S. 748f.

522 Herder: Kalligone, S. 819, Herv. im Orig.

523 Krämer, S. 747.

„Die Andacht. Andacht ists, die den Menschen und eine Menschenversammlung über Worte und Gebärden erhebt, da dann seinen Gefühlen nichts bleibt als – Töne.”524

In proto-kunstreligiöser Weise erringt die Musik hier die höchste Stellung im System der Künste, da allein sie als Medium für die „Andacht”, die hier als einzig angemessene Rezeptionshaltung aufscheint, in Frage kommt. Mit diesem neuen Kunstverständnis wird eine komplette Entsubjektivation der autonomen Ästhetik vollzogen. Der Geist steht über dem Körper, die Musik als Korrespondent des „Weltalls” über dem Menschen, die unmittelbare Anschauung weicht der Kontemplation. Das bedeutet auch den endgültigen Abschied vom Vokalmusik-Paradigma, da dort gewissermaßen „zu viel Mensch” an der Kunst beteiligt ist – eine totale Kehrtwende gegenüber den Positionen von 1769 („O eine neu zu schaffende Deutsche Oper! Auf Menschlichem Grund und Boden”). Die Musik wird zu einer metaphysischen Größe und übertrifft alle anderen Künste:

„Die Andacht will nicht sehen, wer singt; vom Himmel kommen ihr die Töne; sie singt im Herzen; das Herz selbst singet und spielet. Wie also der Ton von der getroffenen Saite oder aus seinem engen Rohr losgemacht, frei in den Lüften hallet (...): so schwebt, von Tönen emporgetragen, die Andacht rein und frei über der Erde, genießend in Einem das All, in Einem Ton harmonisch alle Töne. (...) fühlend im engen Umfang unsrer wenigen Tongänge und Tonarten alle Schwingungen, Bewegungen, Modos, Akzentuationen des Weltgeistes, des Weltalls; wäre es noch Frage, ob die Musik jede Kunst, die am Sichtbaren haftet, an innerer Wirksamkeit übertreffen werde? Sie muß sie übertreffen, wie Geist den Körper: denn sie ist Geist, verwandt mit der großen Natur innersten Kraft, der Bewegung. Was anschaulich dem Menschen nicht werden kann, wird ihm in ihrer Weise, in ihrer Weise allein, mitteilbar, die Welt des Unsichtbaren.”525

So steigt die Musik nicht nur zum Modell der Künste auf, Herder erhebt sie auch explizit aufgrund ihrer oben ausgeführten Struktureigenschaften zum Modell für die Literatur. Die Abfolge musikalischer Töne wird als „dramatische” Narration interpretiert:

„Der lyrische, epische, selbst der dramatische Dichter, ob dieser gleich an Formen der Vorstellung gebunden ist, eifert hierin den Verwicklungen und Auflösungen reiner Töne, ihren gewaltigen Katastrophen nach, und macht sie dem Geist, der dramatische Dichter dem Auge anschaulich.”526

Die Oper wird in Kalligone tatsächlich nur einmal erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit Tanz und Gebärde. Herder wendet sich gegen den Vorwurf, daß es unnatürlich sei, wenn in der Oper im Affekt gesung en würde statt gesprochen: „Über die Oper hat man oft

524 Herder: Kalligone, S. 819.

525 Ebd., Herv. im Orig.

526 Ebd., S. 904. Vgl. auch Irmschers Kommentar zu dieser Textstelle: „Die ‚dramatisch’

interpretierte Struktur der musikalischen Sukzession (...) ist für Herder hier auch der Ursprung dramatischer Abläufe in den anderen poetischen Gattungen.” (Irmscher, S. 1233.) Die Auffassung vom quasi dramatischen Ablauf von „Musik” erinnert an die These von Dahlhaus/Miller, die die wechselseitige Durchdringung von dramatischem, d.i. derjenige der Oper, und symphonischem Stil beschreiben. Für Oper als Modell bedeutet das, daß sie – als Modell des Musikalisch-Dramatischen – auch durch die (Instrumental-) Musik als „Ursprung” für andere poetische Gattungen wirken kann.

so gesprochen, und nannte es kritisieren; über die Wortlose Musik nicht anders.”527 Oper und Musik werden in einem Atemzug genannt, um die Unabhängigkeit von Worten und mimetischen Gefühlsinhalten zu unterstreichen, wobei „Oper” insgesamt ziemlich aus dem Blickfeld geraten zu sein scheint. In dieser Textstelle schwingt allerdings auch mit, daß die Konzeption von Oper als künstliche, autonome Kunstform hinlänglich bekannt, die

„Wortlose Musik” mit ihrem ästhetisch aufregenden Potential aber noch neu ist und mithin im Mittelpunkt des Interesses steht. Außerdem kommen, auch ohne daß der Begriff „Oper”

fällt, mehrfach Vorstellungen vom Gesamtkunstwerk zum Ausdruck, die im Kontext von Herders ästhetischem System durchaus mit dem Konzept „Oper” in Zusammenhang stehen (vgl. dazu Gesamtkunstwerk und Oper in Adrastea, s.u.). Kurz nach der zitierten Erwähnung der Oper heißt es etwa: „Dies Naturband zwischen Ton, Gebärde, Tanz und Wort erkannten oder empfanden alle Völker, und überließen sich dem ganzen Ausdruck ihrer Empfindung.”528 Das Ideal der Vereinigung der Künste wird mit der Kategorie „Natur”

begründet („Naturband”), was dem Gesamtkunstwerk-Konzept Emphase verleiht. An dieser Stelle werden auch wieder „die Griechen” als Modell eingesetzt. Entgegen Krämers Behauptung von der neuerlichen „Textdominanz und Reduktion der Musik”529, die mit dem (Wieder-) Einsetzen der üblichen Ableitung aus der griechischen Tragödie einhergehen soll, ist hier gerade nicht die Sprache, sondern die Musik als Leitkunst innerhalb der Vereinigung der Künste vorgesehen:

„Daher blieb die griechische Musik so lange und gern dem Tanz, der Gebärdung, den Chören, der dramatischen Vorstellung, und diese ihr treu; (...) Nach der entschiedenen Vortrefflichkeit, in welcher wir die dramatische und lyrische Poesie, überhaupt auch die durch Gesang und Deklamation gebildete Sprache der Griechen kennen, können wir von ihrer Musik, sofern sie Tanz, Gesang, Gebärden und Worte regiert und leitet, wie auch von diesen ihr entsprechenden Künsten nicht groß und zart genug denken.”530

Statt auf dem Tanz wie in Ueber die Oper liegt Herders Augenmerk beim Gesamtkunstwerk jetzt auf der Musik, die die anderen Künste einschließlich der Sprache „regieren” und

„leiten” soll.

Wird schon in der Kalligone Oper als Modell im Sinne eines Gesamtkunstwerks zumindest ansatzweise mitgedacht, so ist das in dem etwa zeitgleich entstandenen Abschnitt 9 Tanz.

Melodrama Herders Zeitschrift Adrastea531 ganz gewiß der Fall. Dort finden sich eine ganze

527 Ebd., S. 815.

528 Ebd.

529 Krämer, S. 750.

530 Herder: Kalligone, S. 816.

531 Johann Gottfried Herder: Adrastea, II. Band, 4. Stück, Abschnitt 9. „Tanz. Melodrama.”. In:

Ders.: Adrastea (Auswahl). Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt a.M. 2000 (=J.G. Herder: Werke in 10 Bdn. Hg. v. G. Arnold, Bd. 10), S. 306-317. – Der Herausgeber merkt im Kommentar dazu an:

„’Melodrama’ ist Herders Bezeichnung für das Musikdrama.” (Ebd., S. 1151.) In dem an „Tanz.

Melodram” anschließenden Abschnitt „Das Drama” heißt es zu Beginn: „Jahrhunderte vor der Geburt der Italiänischen und Französischen Oper gab es ein Volk, das dem Melodrama eine hohe Gestalt gegeben hatte, die Griechen.” (Herder: Adrastea, S. 317.) Zum Ideal des Gesamtkunstwerks als eine Art höhere Form von Dichtung vgl. die Aussage in „Tanz. Melodram”:

„Nicht Alles kann der Tanz, nicht Alles die stumme Gebärde, auch von Musik begleitet,

Reihe von Anmerkungen zur Oper, einschließlich der zitierten Passage zum „Fortgang des Jahrhunderts”, der „uns auf einen Mann führen” wird , sowie Überlegungen zur Verbindung von Tanz und Gebärde, Wort und Ton, die – unter der Prämisse des weiten Opernbegriffs – auch in den Bereich des Modells Oper fallen. Der Antagonismus der Bezugspunkte in der Kalligone einerseits, die autonome Musik, und in Adrastea andererseits, das zusammengesetzte Kunstwerk, wird außerdem dadurch entschärft, daß bestimmte ästhetische Kategorien in beiden Schriften zum Tragen kommen. Wegen der Position der Adrastea als „Herders Abschiedswerk”, das als „große Synthese noch einmal den Universalismus der Aufklärung zeigt, bereichert durch die Erfahrungen der Französischen Revolution”532, kann man dem darin vertretenen Opernkonzept einige Bedeutung beimessen, die die Bestimmung der autonomen Musik in der Kalligone ergänzt.

Zunächst ist zum Abschnitt Tanz. Melodrama. in der Adrastea festzuhalten, daß Herder ein Ideal des Gesamtkunstwerks vertritt, das durchaus an seine frühen Konzepte anschließt.

War in Ueber die Oper die zeitgenössische französische Oper Ausgangspunkt seiner Kritik und Anlaß zu dem prospektiven Entwurf einer „neu zu schaffenden Deutschen Oper”, so ist auch hier eine vielleicht noch stärkere Durchdringung mit einem Bewußtsein von Historizität zu verzeichnen. Ein Ideal war die italienische Oper schon in ihren Anfängen:

„Natürlich hielt sie sich an die Gegenstände, die zur Musik die fähigsten warten, an Szenen der Liebe und Freude. Daher die Verzierungen, die man der Oper sogleich in ihrer Geburt beifügte; Szenen der schönen, wohl auch romantisch-wilden Natur, Chöre, Tänze. Für alle Sinne wollte man ein Arkadien schaffen; in gemeinschaftlicher Freude sollte Auge und Ohr daran Theil nehmen.”533

Die Kritik an der zeitgenössischen Oper ist deutlich, ihr gilt sein Spott: „Die Au Au- und Wau Wau-Arien, die Niese- und stummen Hum-Hum, Dumm-Dumm-Duette (...) habt ihr so gern!”534 In der fünfaktigen Libretto-Satire Olla Potrida gibt er eine Probe „unserer neusten Deutschen Oper”.535 Gelten läßt er die Oper seiner Zeit nur dort, wo es wieder ausdrücken; Musik mit Sprache in Verbindung gebracht und dann von Gebärden unterstützt, öffnet ein neues Feld der Dichtkunst.” (Ebd., S. 308f, Herv. im Orig.) – Ähnliches stellt Irmscher im Stellenkommentar zu Briefe zur Beförderung der Humanität fest: „die Oper] Herder macht keinen erkennbaren Unterschied zwischen Oper, lyrischem Drama und Melodrama. Im Vordergrund steht für ihn das Interesse an den ästhetischen Möglichkeiten der Verknüpfung von Poesie und Musik.” (J. G. Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. = J. G. Herder: Werke in 10 Bdn. Hg. v. Martin Bollacher u.a., Bd. 7. Frankfurt a.M.

1991, S. 1042.)

532 Der Klassiker-Verlag (J. G. Herder: Werke in 10 Bdn. Hg. v. Günter Arnold u.a., Bd. 10. Frankfurt a.M. 2000) kündigt die kommentierte Auswahledition auf dem Buchumschlag mit diesen Worten an.

533 Herder: Adrastea, S. 309, Herv. im Orig. – Explizit am Ideal der antiken griechischen Tragödie orientierte Herder sein Melodrama Ariadne-Libera von 1802, das er, wie im Vorwort zu lesen ist,

„unter das Gesetz des Griechischen Dramas” stellt. ([J. G. Herder:] Herders Poetische Werke.

hg. v. Carl Redlich. = Herders Sämtliche Werke. Hg. v. Bernard Suphan, Bd. 28. Berlin 1884, S.

319, Herv. im Orig.) 534 Ebd., S. 313.

535 „Olla Potrida musikalischer Gedanken und Empfindungen; oder die neueste Deutsche Oper”

(Herder: Adrastea, S. 314; im entsprechenden Bd. der Suphan-Werkausgabe ist der Text vollständig abgedruckt: S. 337-343). „Olla Potrida” bedeutet laut Günter Arnolds Kommentar zur Adrastea so viel wie „Potpourri, Allerlei (span. Nationalgericht)” (Arnold, S. 1154). Lütteken (S.

einmal um die Abwehr rationalistischer Kritik an der „Unnatürlichkeit” der Oper geht:

„Unnöthiger Weise hat man sich über dies Wunderbare der Oper gequält, wie Menschen an dergleichen Träumen der Un- oder Übernatur Geschmack finden können.”536 Hier zeigt sich deutlich die ästhetische Umwertung um 1800: Hatte Herder in der Opern-Skizze das

„Wunderbare” der französischen Oper noch vehement abgelehnt, so verteidigt er es hier in einer Weise, die der romantischen Ästhetik sehr nahe steht. Wie wir unten im Kapitel zur Romantik, speziell zu Tieck sehen werden, erhält die Oper im Umkreis von ästhetischen Konzepten wie „Zauberwelt” und „Traum” Vorbildfunktion. Im Tanz. Melodrama. liest man:

„Sind wir im wirklichen Traum nicht eben sowohl in einer Zauberwelt? und wie wahr sind uns die Träume! Darfs also keine Kunst geben, die uns mit den schönsten Träumen auf schönste auch wachend vergnüge? Einmal in eine Welt gesetzt, in der Alles singt, Alles tanzet, entspreche auch die Welt ringsum dieser Gemüthsart; sie bezaubre.”537

Der prospektive Aspekt in Herders Opernutopie kommt besonders in dem oben bereits ausgeführten Abschnitt zum „Fortgang des Jahrhunderts” zu tragen, der „uns auf einen Mann führen” wird (s.o. S. 138). Die Absage an eine wortlose Instrumentalmusik („Trödelkram Wortloser Töne verachtend”) und Forderung nach einem zusammenhängendem „lyrischen Gebäude, in welchem Poesie, Musik, Aktion, Dekoration Eins sind”, steht der Bestimmung autonomer Musik in der Kalligone gegenüber. Beide Schriften müssen also in gegenseitiger Ergänzung gelesen werden. An anderer Stelle äußert sich Herder dazu, daß das „Melodrama” (die Oper) als das „kostbarste Schau- und Hörspiel, ein zusammengetragnes Ideal aller Künste, das über die Natur selbst hinausgeht,”538 gilt.

Mit den beiden letztgenannten Belegstellen argumentiert Kirby dafür, daß Herder eine Art

„forerunner of the Wagnerian Gesamtkunstwerk” sei.539

Schaut man sich Herders Gesamtkunstwerk-Modelle an, so erkennt man zwei Varianten:

eine, die die Oper als Ganzes in den Blick nimmt und als Ideal aller Künste betrachtet – von dieser Variante war bisher die Rede – und eine zweite, die die neu gewonnene Autonomie der „Wortlosen” Musik in der Vordergrund stellt. Denn anders als es Krämers abschließende Formulierung von der „Textdominanz und Reduktion der Musik”540 aufgrund der Wendung zum Modell der griechischen Tragödie in Herders Opernkonzeption in der Adrastea nahelegt, geht Herder mehrfach auf die Musik als Leitdisziplin auch und gerade innerhalb der Oper ein. Davon war bereits die Rede und es soll hier noch einmal deutlich und in Bezug auf die beiden Modi des Modells Oper, Gesamtkunstwerk und ästhetische Autonomie, 450) erwähnt eine Zeitschrift mit dem Titel Olla Potrida, in der Beiträge zu Musik und Poesie veröffentlicht wurden. Möglicherweise bezieht sich Herders Satire auch auf diese Zeitschrift.

536 Herder: Adrastea, S. 309, Herv. im Orig.

537 Ebd., S. 309f.

538 Ebd., S. 3317.

539 Kirby, S. 321. Das wird von Krämer allerdings eher kritisch kommentiert, andererseits könne man Herder auch nicht umstandslos auf eine Autonomie-Ästhetik festlegen, wie es etwa Köhler macht. (Krämer, S. 746 und Anm. 188.)

540 Krämer, S. 750.

ausgeführt werden. Musik als die (neue) Leitkunst könnte auch die Literatur bereichern:

„Musik mit Sprache in Verbindung gebracht und dann von Gebehrden unterstützt, öffnet ein neues Feld der Dichtkunst.”541 Anders als es Krämer für den späten Herder beschreibt542 vertritt Herder in der Adrastea weiterhin die These von der Oper als

„natürliches Produkt” der italienischen Sprache: „Die erste der neueren Sprachen, die sich zu diesem musikalischen Ausdruck emporschwang, war die Italiänische; lange vorher, ehe Opern da waren, war in ihr der Geist der Oper.”543 In der Musikalität der italienischen Sprache liegt für Herder die Begründung für die Oper, deren „Geist” schon wirkte, bevor diese überhaupt erfunden worden war. Der Schwerpunkt liegt auf dem „Musikalischen”, so wie insgesamt in Adrastea der „Tonkünstler” und die Musik stark in den Vordergrund treten.

War es in Ueber die Oper die Tanzkunst, die die ästhetische Leitdisziplin darstellt – die Erörterung der Musik fand im Vierten Wäldchen statt –, so erscheint die Musik nun in besonderer Weise als ästhetisches Vorbild, was sie zur „Engelssprache” macht, der die Dichter zu dienen haben – was wiederum mit dem Musikkonzept in der Kalligone übereinstimmt:

„Unser Ohr wird anders gestimmt mit den Zeiten; (...) Das Wahre allein, Verstand und Empfindung dauern. In ihnen sind Quinault, Addison, Metastasio, jeder künftige Metastasio Diener Einer und derselben Engelssprache, der Sprecherin für alle reinen Menschen-Empfindungen, der Musik.”544

Damit markiert auch Herders gegenüber 1769 radikal veränderte Auffassung von Musik und Oper die Dominanz des Musikalischen, die, wie gesagt, eine zentrale These zum Modell Oper ausmacht. Die Aufwertung der Musik als Sprache jenseits der Sprache wirkt auch zurück auf die Konzeption von Oper, das neue Modell des Musikalischen wird über die veränderte Musikauffassung innerhalb der Oper mitbegründet:

„Musikalische Gedanken ohne Worte, Decorationen ohne eine verständige Fabel sind freilich sonderbare Dinge; wir denken aber einmal in der Oper rein-musikalisch.”545

Der Tonfalls Herders in diesem Beispiel zeigt, daß er nicht unbedingt glücklich ist mit der Tendenz zu nicht-mimetischen Kunstformen, die sich aus der Orientierung an der Sprache gelöst haben; die Dominanz des Musikalischen nimmt er nichtsdestotrotz als Tatsache zur Kenntnis. Die Musik als neue Leitkunst setzt auch für die Oper, für deren Texte und Dramaturgie, neue Maßstäbe. Herausragende Musiker wie Mozart müßten unter den schlechtesten Libretti leiden: „Die Töne setzen uns in den Himmel, der Anblick der Szenen ins Fegefeuer, wo nicht gar tiefer.”546

541 Herder: Adrastea, S. 308f, Herv. im Orig.

542 Krämer, S. 750.

543 Herder: Adrastea, S. 309, Herv. im Orig.

544 Ebd., S. 310f.

545 Ebd., S. 311, Herv. im Orig.

546 Ebd., S. 312.