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Vereinigung aller Sinne und Künste in der ‚neu zu schaffenden deutschen Oper’ (Ueber die Oper)

TEIL II: KLASSIZISTEN

3. Oper als ästhetisches Modell bei Herder und Schiller: zwischen Anthropologie, Affektrhetorik und autonomem Gesamtkunstwerk

3.2 Oper als Modell in Herders anthropologischer Ästhetik

3.2.1 Vereinigung aller Sinne und Künste in der ‚neu zu schaffenden deutschen Oper’ (Ueber die Oper)

Wenn man sich mit der Oper als ästhetisches Modell auseinandersetzt, wie es Herder in seiner Skizze Ueber die Oper entworfen hat und von diesem Text aus Filiationen zu seiner

‚Ästhetik von unten’ im Vierten Kritischen Wäldchen und anderen Projekten im Umkreis zieht, dann erweist sich ‚Oper’ als ein Problem der Anthropologie, Ästhetik und Sinnesphysiologie. Das entscheidende Kriterium für die Oper und – abgeleitet von der Oper – für die Ästhetik ist eine neue Anthropologie, insbesondere die der Sinne. Unter dieser Prämisse ist Oper die ideale Kunst, weil sie aufgrund ihrer die Einzelkünste integrierenden Faktur die ästhetische Wahrnehmung am vollkommensten und über Gehör und Gefühl am intensivsten anspricht.

Schon mit dem ersten Satz, einer leicht ironischen Sentenz, schreibt Herder die Oper in die zeitgenössische Sinnesdebatte ein:

„Ein Tauber, der sähe, und ein Blinder, der hörte, wer hätte mehr von der Oper?

Jener bei der Französischen, dieser unstreitig bei der Italienischen.”432

Die Modellhaftigkeit der Oper wird bei Herder nicht explizit gemacht, sondern muß aus der Verortung der Oper in das System von Ästhesiologie und Ästhetik erschlossen werden. Um dieser These nachzugehen, stehen im folgenden neben der Skizze Über die Oper einigeTextstellen aus den „Einzelnen Blättern zum Journal der Reise”, aus dem Vierten Wäldchen und aus anderen Schriften dieses Umkreises zur Diskussion. Das zentrale Argument für die Modellhaftigkeit der Oper liegt in dem Element der „Erschütterung”, d.h.

einer Ein- und Ausdrucks-Ästhetik, die Herder insbesondere am Tänzer-Körper gewinnt. In diesem Kontext erweist sich „Bewegung” als eine übergeordnete Kategorie, die verschiedene Sinne, Medien und Künste übergreift, insbesondere Tanz und Musik mit

429 Rafael Köhler: Johann Gottfried Herder und die Überwindung der musikalischen Nachahmungsästhetik. In: AfMw 52 (1995), S. 205-219.

430 Hans Heinrich Eggebrecht: Das Ausdrucksprinzip im musikalischen Sturm und Drang. In: DVjs 29 (1955), S. 323-349.

431 Hartmut Krones: Johann Gottfried Herder, die Affektenlehre und die Musik. In: Ideen und Ideale (wie Anm. 422), S. 71-88.

432 Johann Gottfried Herder: Über die Oper (1769). In: Einzelne Blätter zum „Journal der Reise”. In:

Herders sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 4. Berlin 1878, S. 483-486. Da Herders Skizze Über die Oper nur etwas mehr als zwei (Druck-) Seiten umfaßt, wird im folgenden ohne Seitenangabe daraus zitiert.

Körpern und Schall als den bewegten Medien und Tastsinn und Gehör als den Rezeptionsorganen. Analog dazu ist die „Bewegung” der Seele im Rezipienten gedacht; die Dichtkunst wird ebenfalls unter dem Bewegungsparadigma verhandelt (z.B. bei Klopstock;

s.u.). Zugleich wird dieser visuell vermittelte Tänzer-Körper in der Oper bei Herder – die Schauspieler-Gebärden, Ausstattung und Dekoration zählen auch zu den Bestandteilen der visuellen Rezeption –, mit den auditiven Wahrnehmungsweisen, also der Rezeption von

„Tönen” und Musik verrechnet und über eben dieses Bewegungs-Paradigma parallel gesetzt. Der dritte, für Herder ästhetisch relevante Sinn, das „Gefühl”, deutet sich schon hier als kommender Leit-Sinn für Herder an: es ist das Rezeptionsorgan für die Tanzkunst und wird von der mehrfach erwähnten Figur des Blinden impliziert. Das Gefühl bleibt aber in der Sinnes-Melange, die Herder der Oper als integrativem Modell zugrunde legt, unauflöslich mit den beiden anderen Hauptsinnen verwoben.

„Das Gehör allein, ist der Innigste, der Tiefste der Sinne”, schreibt Herder im Vierten Wäldchen.433 Da Herder dem Gehör und der Musik trotz seiner Tanzkunst-Emphatik in Ueber die Oper einen hohen Stellenwert zumißt, ist Jörg Krämers Schlußfolgerung, der Eigenwert der Musik werde negiert und diese zu einer fürs Verständnis des Werks überflüssigen Zutat434, so nicht zuzustimmen. Krämers Einwand, daß Herder zufolge auch ein Tauber die Oper müsste verstehen können, bezieht sich, wie in der zitierten Eingangssentenz zu sehen ist, auf die französische Oper, die Tragédie lyrique, die Herder während seines Aufenthalts in Paris kennengelernt hatte. Die aber wird von Herder vehement abgelehnt, während die italienische Opera seria für den hörenden Blinden ideal wäre. Da Herder aber sowohl über die aufklärerische Sinnesdebatte als auch die französische Querelle des buffons, die er beide in dem Eingangszitat aufruft, hinausgeht, kann aus dieser Textstelle nicht eine Negation der Musik in Ueber die Oper geschlossen werden. Mit den Figuren des Tauben und Blinden greift Herder direkt auf Diderot zurück,435 überbietet ihn jedoch mit seinem eigenen Modell des Gefühls mit der Oper als Ideal – Krämer spricht treffend von einer „semiotischen Mehrfach- oder Übercodierung der Gattung”436. Zugleich entgegnet er der anzitierten Querelle mit einer grundsätzlichen Kritik an der französischen Oper und der emphatischen Idee eines dritten Wegs, einer sinnestheoretisch begründeten deutschen Nationaloper, um die in dieser Zeit heftige Debatten geführt wurden:

433 Johann Gottfried Herder: Die kritischen Wälder zur Ästhetik. In: Ders.: Werke in zehn Bänden.

Hg. v. Günter Arnold u.a. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781. Hg. v. Gunter Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 9-442, hier S. 357.

434 „Die Vorstellung, auch ein Tauber müsse die Oper verstehen können, negiert in letzter Konsequenz allen Eigenwert der Musik und macht diese zu einer fürs Verständnis des Werks überflüssigen Zutat.” (Krämer, S. 745.) – Vgl. insgesamt zum Komplex von Herders Ästhetik und Anthropologie in Bezug auf Musik und Musiktheater von Ueber die Oper und dem Vierten Wäldchen bis zum „klassischen” Herder um 1800 Krämer, S. 742-750. Aufschlußreich für Herders Ästhetik des Musiktheaters sind auch Krämers Ausführungen im Kontext der Brutus-Analyse (S.

261-292), insbesondere der Abschnitt „2. Das Verhältnis von Text und Musik”, in dem Krämer u.a.

einen wichtigen Brief Herders an Gluck von 1774 [s.u.] interpretiert (S. 273-281).

435 Vgl. dessen berühmte Briefe, den Brief über die Blinden (Lettre sur les aveugles, 1749) und den Brief über die Taubstummen (Lettre sur les sords et muets, 1751). Mehr zu Herder und Diderot s.u.

436 Krämer, S. 745.

„O eine neu zu schaffende Deutsche Oper! Auf Menschlichem Grund und Boden;

mit Menschlicher Musik und Deklamation und Verzierung, aber mit Empfindung, Empfindung; o grosser Zweck! großes Werk!” (Herv. im Orig.).

Was Herder an der französischen Oper scharf kritisiert, ist das „Wunderbare” in der Fabel, der Dramaturgie, der Musik, bei Dekoration und Kostümen. Die Darstellung der Götter- und Zauberwelt war Grundprinzip des höfischen Spektakels, als das er die Tragédie lyrique empfindet:

„Man hat sich über die Französische Oper zerzankt: ich finde nichts simpler, als daß ihre Fehler zusammen hangen. Ein wunderbarer Grund, der pittoresker Grund des Ganzen ist, und wenig Menschliches, als nur in Episoden und Nebenscenen enthält, muß auch wunderbare Musik haben, die Wüsten malt, Felsen bildet, donnert, blitzt, kurz die Magisch, Zauberisch, Göttlich und – unmenschlich ist:

muß wunderbare Dekorationen haben, Pracht fürs Auge, steife Röcke, und steife Aktion.” (Herv. im Orig.)

Aber anders als die rationalistische Kritik will Herder das „Wunderbare” der Oper nicht an Sprache und Vernunft rückgebunden wissen, sondern er sucht in der Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit des Menschen die neue Begründung von Oper. Die Malerei als Paradigma, Chiffre für eine abbildende Nachahmung in der Musik („pittoresker Grund”, Musik, die „Wüsten malt” etc.) wird abgelehnt, an deren Stelle soll das Prinzip der Bewegung und Erschütterung treten. Damit steht Herder für die Begründung der musikalischen Empfindsamkeit und Ausdrucksästhetik. Zugleich zeichnen sich Ansätze auf dem Weg zu einer musikalische Autonomieästhetik ab, die beim „späten” Herder, beispielsweise in der Kalligone, voll zur Entfaltung kommen. Rafael Köhler, der verschiedene Schriften Herders auswertet, beurteilt das Prinzip der Bewegung als

„grundlegenden Beitrag”: „Durch die Beschreibung der Musik als Bewegungskunst hat Herder einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis der Musik als autonomer Kunst geliefert.”437 Jörg Krämer identifiziert den späten Herder wegen des von ihm betonten, positiv umgewerteten transitorischen Charakters, also der „Bewegung” der Musik, als Theoretiker autonomer Musik:

„Den musikalischen Ausdruck bilden nicht verbalisierbare Inhalte, wie sie die zeitgenössischen Ästhetiker suchen, sondern die Zeitläufe und eigengesetzliche Strukturen der Musik selbst als Kunst: ‚denn eben das kürzer und länger, stärker und schwächer, höher und tiefer, mehr und minder ist sein Bedeutung, sein Eindruck.’ Herder entwickelt damit ein folgenreiches Modell autonomer musikalischer Strukturbeschreibung. Die Bedeutung der Musik als Kunst baut sich nicht über die direkte Koppelung ihrer Elemente mit Außermusikalischem auf, sondern nur in der Relation ihrer eigenen Elemente zueinander.”438

Auf die autonomieästhetischen Aspekte in Herders Ästhetik wird später noch zurückzukommen sein. Wichtig ist, daß deren Grundlage, das Prinzip der „Bewegung”, schon hier, und zwar explizit im Zusammenhang mit der Oper ausgeprägt ist. Mit der

437 Köhler, S. 219. – Laut Dahlhaus ist die „Analogie zwischen Gefühlbewegung und ‚tönend bewegter Form’” in der Musik ein „durch Jahrtausende überlieferter Topos der Musiktheorie”

(Carl Dahlhaus: Formbegriff und Ausdrucksprinzip in Schillers Musikästhetik. In: Ders.: Klassische und romantische Musikästhetik, S. 67-76, hier S. 67).

438 Krämer, S. 748, Herv. in Herders Orig.

Absage an die musikalische „Malerei” und die Konzentration auf den Ausdruck von Empfindung emanzipieren sich Oper und Musik zunehmend von der Mimesis-Doktrin.

In Ueber die Oper wird der Weg dazu vorgezeichnet. Musik solle nicht „malen”, sondern

„erschüttern”. So wie sie selbst aus bewegten Tönen besteht, setzt sie die empfindende Seele in Bewegung: „Wo sind die Töne des Gesangs, die unmittelbar erschüttern?” Und der Tanz wiederum ist, wie Herder im Vierten Wäldchen in Abwandlung des ut pictura poesis-Prinzips festhält, „eine sichtbar gemachte Musik: denn wie Leidenschaften ihre Töne haben: so haben sie auch durch den Ausdruck der Natur ihre Gebärden und Bewegungen – jene sind das fürs Ohr was diese fürs Auge sind.”439 Das heißt, auch der Tanz in der Oper, der, wie wir noch sehen werden, Herders Ästhetik des Gefühls im Plastik-Projekt vorwegnimmt, ist dem transitorischen Bewegungs-Paradigma unterworfen und über dieses Paradigma mit der auditiven Rezeption gleichgeschaltet. Dieses übergeordnete Prinzip der Bewegung macht das Besondere an Herders Opernmodell aus. Die Künste werden nicht als distinkte zusammengeführt, sondern erhalten eine sozusagen wesensmäßige Verwandtschaft zugeschrieben, die zu ihrer Integration in der Oper führt.

In der Schlußpassage von Ueber die Oper widmet sich Herder in mehreren kurzen, assoziativen Abschnitten ausdrücklich der Musik und ihren Bedingungen. Es kann also kaum von einer Negation allen Eigenwerts der Musik gesprochen werden, wie sie Krämer konstatiert hatte. Zum einen ist es die Melange der Sinne im Bewegungs-Paradigma, die Herder beschäftigt. Wieweit der Klang der Musik dem Gang der Tänzer entsprechen kann, ist eine der Überlegungen:

„Wer sollte glauben, daß es möglich sei, Takt in die Menschlichen Füße bis auf jede kleine Note zu bringen? Wer glauben, daß jeder kleine Gang fürs Ohr dem Auge durch eine Linie könne sinnlich gemacht werden?”

Vermutlich spielt Herder damit auf die Diskussion um die Schönheitslinie an. Dabei ist Schönheit, wie an anderen Stellen deutlich wird, eher eine Kategorie, die Herder als

„einförmige Grazie” zugunsten des Ausdrucks ablehnt: „Ehre, die die Tänze belebt, Nobleße und einförmige Grazie ist alles, was sie ausdrucken, statt der ganzen Empfindung, die durch einen ganzen Körper spreche.” Künstlichkeit, „Linien” statt Körper, der Vergleich mit der „Gothischen Baukunst”440 sind Kategorien, die Herder mit der französischen Oper verbindet und deswegen entschieden ablehnt.

In dem Abschnitt Schöne Künste – – in Paris geschrieben d. 2. Dec. [1769], der in Bernhard Suphans Herder-Ausgabe unmittelbar vor Ueber die Oper abgedruckt ist,441 erklärt Herder seinen Zugang zur französischen Oper in Paris. Er habe die Sprache zu Anfang nicht verstanden und daher mit den Augen gehört. Aus dieser Konstellation, die an Diderots Theater-Experiment im Brief an die Taubstummen erinnert (s.u.), leitet Herder seinen

439 Herder: Viertes Wäldchen (wie Anm. 433), S. 366, Herv. im Orig.

440 „Es wird die Zeit kommen, da unsere Musik erscheinen wird, wie unsere Gothische Baukunst, auch künstlich im Kleinen und nichts im Großen – keine Simplizität, kein Menschlicher Ausdruck, kein Eindruck.” (Herder: Schöne Künste, S. 479, Herv. im Orig.)

441 Johann Gottfried Herder: Schöne Künste – in Paris geschrieben d. 2. Dec. [1769]. In: Einzelne Blätter zum „Journal der Reise” (wie Anm. 432), S. 479-483.

Vergleich und Austausch von Auge und Ohr im Theater ab. Dabei werden „Sprache” und

„Musik”, Auge und Ohr zusammengebunden:

„Ich konnte die Sprache im Anfange noch nicht und hörte also mit den Augen.

[...] Ich habe die Tänze der Oper mit der Musik verbunden – um den hörbaren Ausdruck sichtbar zu sehen, und Modulation gefunden, Maas gefunden, Linien gefunden; aber keine Kraft – oft selbst keine Stellungen des Wohlstandes, der Wohlform, des Ausdrucks, aber Geschwindigkeit, Spiel und Mißstellung des Körpers.”442

Insgesamt jedoch herrscht hier die visuelle Rezeption vor. Die Oper einschließlich ihrer akustischen Komponenten (Gesang, Anteile von Instrumentalmusik) wird als „Gemälde”

betrachtet, so zu Beginn des Abschnitts Schöne Künste: „aber die Oper (...), welch Gemälde?”, so auch am Ende von Ueber die Oper, hier allerdings schon mit dem Hinweis auf die Ausweitung über den visuellen Rezeptionsmodus hinaus: ”Halte das Glas für? Das ganze Operntheater ist Gemälde. O da sollte Alles genutzt werden: Pyramiden Gräber, ihr solltet nicht blos fürs Auge daseyn!”

Bevor weitere Überlegungen zum Komplex Auge und Ohr folgen, zunächst noch zwei Anmerkungen zur Bedeutung der Musik in Herders Opern-Skizze, die in den Absätzen der Schlußpassage angestellt werden. Neben den aufgeworfenen Fragen zum Verhältnis von Auge und Ohr, zur ‚Linie’ in Musik und Tanz, richtet Herder zum einen seine grundsätzliche Kritik an Rameaus Harmonielehre:

„Stehe an einer Seite, wo nur der Baß brummt: hörst du die Musik? Philosoph, der du nur den Fundamentalbaß deiner Abstraktion siehst, siehst du die Welt? die Harmonie des Ganzen? stehst du am rechten Orte?”

Rameaus Fundamental- oder Grundbaß, eine physikalisch-mathematische Abstraktion aus der Harmonik eines Musikstücks, bildet eine imaginäre Grundmelodie, die sich aus den jeweiligen Grundtönen der Akkorde zusammensetzt. Mit dem Grundbaß läßt sich der harmonischen Verlauf tonaler Musik beschreiben, er tritt aber nicht als komponierte Instrumentalstimme in Erscheinung. In der Querelle des buffons, beim Streit zwischen Anhängern der italienischen und der französischen Oper in Paris, stellen Rousseau und Rameau prominente Antagonisten dar: Rousseau stand – sehr verkürzt gesagt – für den emphatischen Melodiebegriff als Grundlage der Musik, weil die Melodie als der ursprüngliche und unmittelbare Ausdruck der menschlichen Natur gelten müsse, während Rameau das Fundament der Musik in einem physikalisch begründeten harmonischen Prinzip sah, also der vertikalen Zusammenfügung der Töne in den Akkorden.443 Der Musik-Begriff Herders, der in Über die Oper zutage tritt und im Vierten Wäldchen expliziert wird,

442 Ebd., S.479, Herv. im Orig. – An dieser Stelle findet sich auch eine Vorausschau auf mit Seitenhieb gegen die autonome – deutsche – Instrumentalmusik, für die der negative Vergleich mit der Baukunst herangezogen wird: „Es wird die Zeit kommen, da unsere Musik erscheinen wird, wie unsere Gothische Baukunst, auch künstlich im Kleinen und nichts im Großen – keine Simplicität, kein Menschlicher Ausdruck, kein Eindruck.” (Ebd., Herv. im Orig.)

443 Zu Rousseau und Rameau als Antagonisten im Streit um Harmonie und Melodie vor dem Hintergrund sensualistischer Entwicklungen im 18. Jahrhundert vgl. Wolfgang Hirschmann: Art.

„Empfindsamkeit”. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearb. Aufl. Bd. 2.

Kassel/Basel/Stuttgart 1995, Sp. 1765-1771. Vgl. dazu auch Lütteken, S. 113-116.

wendet sich „zentral gegen die rationalistischen Theorien Rameaus”444. Zur Rezeption der Debatte erläutert Dahlhaus:

„Die Kontroverse war kein Streit über den Vorrang der Oberstimme oder des mehrstimmigen Satzes, als der sie manchmal mißverstanden wurde, sondern eine Auseinandersetzung darüber, ob tönende Interjektion oder regulierte Tonbeziehungen – Tonbeziehungen, die auf dem in der Melodik wie in der Harmonik wirksamen Konsonanzprinzip beruhen – die eigentliche Substanz der Musik darstellen.”445

Für die Bedeutung von Harmonie-Konzepten in der klassisch-romantischen Ästhetik muß man also auch zwischen philosophisch-ästhetischen und kompositionsgeschichtlichen Argumenten und Bezügen unterscheiden. Herder nimmt in seinen späteren Entwürfen zu einer autonomen (Instrumental-) Musik in der Kalligone sein Rameau-Bashing der frühen Schriften etwas zurück. Er läßt sich nach wie vor nicht auf das „Rechnen und Zahlenschreiben”446 Rameaus ein, bezieht sich aber mit seiner Herausarbeitung eines Harmonie-Modells im Verlauf der Schrift gleichwohl auf dessen nicht-subjektivistische Begründung von Musik (inklusive des „Tonkreises”, d.h. des die harmonischen Zusammenhänge des Dur-Moll-Tonsystems in einem zyklischen Modell zusammenschließende Quintenzirkels). Dabei zielt Herder – anders als Rameau, der seine Harmonielehre auch für den praktischen Gebrauch geschrieben hat – nicht auf konkrete kompositionsgeschichtliche Argumente. In seinem energetischen Musikkonzept bleibt die Melodie als wirkende Aneinanderreihung von Ton-Kräften der Angelpunkt seines Denkens und außerdem wird das Ganze in ein metaphysisches Modell eingebunden. Entscheidend gegenüber der Rameau-Rousseau-Querelle und seinen eigenen frühen Entwürfen ist, daß für den späten Herder nicht mehr die empfindende Subjektivität des Menschen der Fokus ist, sondern das Tonsystem in seiner Eigengesetzlichkeit und dessen Verhältnis zur Natur, innerhalb derer der Mensch nur ein Teil ist. Die ewigen Gesetze der Natur, die in der Harmonielehre erfaßt werden, verbinden sich mit der Ausdruckshaftigkeit des Menschen. In der Musik sind „alle aber von Einer ewigen Regel, dem Tonkreise gebunden. Dieser stehet und bleibt; unzählige Melodien, d.i. Schwingungen und Gänge der Leidenschaft sind in und mit ihm gegeben.”447

Mit der Ablehnung der Rameauschen Harmonietheorie hängt auch der zweite Aspekt zusammen, den Herder in der Schlußpassage zur Musik anführt: die Differenzierung von

„Schällen” und „Tönen”; Herder formuliert sie wiederum mit Blick auf eine Abwertung der französischen Oper:

444 Krämer, S. 743.

445 Carl Dahlhaus: Das System der Künste und die Musik. In: Klassische und romantische Musikästhetik, S. 15-20, hier S. 17.

446 Johann Gottfried Herder: Kalligone. In: Ders.: Schriften zur Literatur und Philosophie 1792-1800.

Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.M. 1998 (= Ders.: Werke in 10 Bdn. Hg. v. Günter Arnold u.a., Bd. 8), S. 641-964, hier S. 701.

447 Herder: Kalligone, S. 705, Herv. im Orig.

„Hat das französische Theater schöne Schälle? die schönsten von der Welt! schöne Töne? wenig oder keine!” (Herv. im Orig.)

Diese Unterscheidung resultiert direkt aus der oben angesprochenen Konzeption Herders, daß das Gehör der „Innigste, der Tiefste der Sinne” sei. Anders als Rameau, dessen

„Harmonielehre” auf quasi objektiven, mathematisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten beruht, legt Herder eine hörpsychologisch, mithin subjektivistisch begründete Auffassung des akustisch-musikalischen Materials zugrunde. Er erläutert die Differenz von Schall und Ton im Vierten Wäldchen. Auf der Basis einer rigorosen Abgrenzung von Außen und Innen ist der musikalische, der empfundene Ton ein innerer Vorgang, während der Schall das äußere physikalische Phänomen bezeichnet.448 Genau umgekehrt wie beim Auge, dessen Bild zwar „in der Seele” zu verorten ist, der Gegenstand des Bildes aber klar außerhalb des Subjekts „schwebt”449, verhält es sich mit dem Gehör. Der „Gegenstand” der Musik dringt in den Körper und – was fast nicht als Übersetzungsprozeß gedacht ist – in die Psyche ein:

„Das Ohr ist der Seele am nächsten – eben weil es ein inneres Gefühl ist. Der Schall, als Körper betrachtet, berühret nur die äußerlichen Organe des Gehörs, wo dies noch äußerliches allgemeines Gefühl ist. Der bereitete einfache Ton, die Mathematische Linie des Schalles gleichsam, er allein würkt auf die feine Nerve des Gehörs, die die Nachbarin des Geistes ist, und wie innig also? (...) Daher also der große unvergleichbare Unterschied zwischen Schall und empfindsamen Tone:

jener würkt nur aufs Gehör, als ein äußeres Gefühl; dieser durchs innere Gefühl auf die Seele.”450

Bemerkenswert ist dabei zum einen, daß der Schall in Analogie zu den optisch wahrzunehmenden Gegenständen als ein „Körper” vorgestellt wird, und zum anderen, daß Herder mit der Konzeption einer inneren Wahrnehmung des Tons versucht, die Doppelung von Körper und Geist aufzuheben. Die Physiologie des Gehörs („die feine Nerve”) ist in Herders Differenzierung von „Schall” und „Ton” durch das Argument der Nachbarschaft („Nachbarin des Geistes”) kaum noch unterscheidbar von dem immateriellen, geistig-seelischen Bereich. Der Leib-Seele-Dualismus erscheint hier als ein durch den Körper markierter Dualismus von Außen und Innen. Die Körperoberfläche bildet die Grenze und Übergangsstelle. Dabei stellt das Gehör deswegen den „innigsten” Sinn dar, weil dort die

448 Zur Unterscheidung von „Schall” und „Ton” vgl. Lütteken „Während der bloße Schall nur das gleichsam akustische Ereignis der musikalischen Hervorbringung darstellt, ist mit dem Ton die affektive, in jedem Fall distanzlose Seite derselben Hervorbringung gemeint.” (S. 242). Herders Theorie des „Tons” steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Sprachursprungstheorie, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Darin versucht er, ähnlich wie Rousseau, aber unabhängig von ihm, die erste lautliche Äußerung des Menschen als ursprünglichen affektiven Ausdruck festzumachen, wo es noch keinen substantiellen Unterschied zwischen Sprache und Musik gibt. Im Zusammenhang mit Herders „Ton”-Theorie stellt Lütteken im Hinblick auf die Rolle der Musik in Herders System fest, sie sei „nicht ein Akzidens von Herder Sprachphilosophie, sondern nimmt einen eigenen (und außerordentlich gewichtigen) Anteil in seinen frühen Schriften ein.” (S. 242)

449 „Das Bild des Auges ist mir zwar in der Seele; aber der Gegenstand des Bildes schwebt mir doch außer mir klar vor.” (Herder: Viertes Wäldchen, S. 355.)

450 Herder: Viertes Wäldchen, S. 355. Vgl. auch die Doppelung des Konzepts „Gefühl” bei Herder in eine physiologische (äußerer Tastsinn) und eine psychologische (inneres Empfinden) Komponente.

– Weitere Überlegungen zu Herders Differenzierung von „Schall” und „Ton” und deren Wahrnehmungsmodalitäten finden sich bei Zeuch, „Ton und Farbe”, bes. S. 235f.

Grenze zwischen Körper und Geist, physischer und psychischer Empfindung im Vergleich zu allen anderen Sinnen am weitesten nach innen verlagert ist. Die Vorstellung vom Schall, dem Material der Musik, als ein „Körper”, der das Gehör berührt,451 ruft das Modell des Tastens auf. In der Vorstellung vom Gehör, das sozusagen den Schallkörper abtastet, wird erstens die sinnesphysiologische Differenz zwischen Gehör und Gefühl konzeptionell überschrieben, und zweitens verlagert Herder damit das Modell von der Körperoberfläche als Übergangsstelle zwischen Innen und Außen von der realen Körperoberfläche in das Innere des Ohres. Für die Opernskizze bedeutet das, daß die dort angesprochene Differenz von Schall und Ton mit der Tanzkunst, die eine zentrale Stellung in Ueber die Oper einnimmt, zusammengebunden wird. Denn die ästhetische Erfahrung des Tanzes manifestiert sich am Tänzer-Körper, der der – visuell simulierten – taktilen Rezeption unterliegt, also dem Rezeptionsmodus, den Herder im Vierten Wäldchen für den Schall konzipiert.

Die Sprachhaftigkeit des Tanzes ist ein erster wichtiger Aspekt dieses für die Opernskizze zentralen Elementes des Tanzes („Pantomime”). Ganz im Sinne einer empfindsamen Ausdrucksästhetik erscheint die Musik in Verbindung mit der „Pantomime” als die bessere Sprache der Empfindung, die die Wortsprache überflüssig macht:

„Sprechen, wo man spricht: singen, wo man singt! Oder nein! statt sprechen, ganze Auftritte durch nur Pantomime, und denn singen, wo man empfindet – – das ist eine Oper!”

Oper und Tanz sind hier die Modelle für den Emanzipationsprozeß von der Wortsprache.

Der Text des Librettos ist unbedeutend für den Mitteilungswert des Kunstwerks. Im Umkreis des Textes Ueber die Oper kommt Herder mehrfach auf diesen Aspekt zu sprechen. Sein Begründung, er habe zunächst die französischen Texte in der Pariser Oper ohnehin nicht verstanden, und die daraus resultierende Rezeption von Musik und Tanz als Bewegung via Auge und Ohr – aber ohne Wortsprache – wurde oben bereits erwähnt. In einem weiteren Fragment im Umkreis des Journals meiner Reise, im Abschnitt Nutzung dieser Beispiele, kommt die Irrelevanz der Wortsprache zum Ausdruck:

„Das Ohr muß aus dem Gesange und unartikulierten Tönen auch ohne Sprache, und das Auge mit Gestikulationen und Auftritten erkennen und den Fortgang der Handlung sehen.”452

Standen bisher die Implikation von Herders Konzepten von „Gesicht” und „Gehör” im Rahmen der Oper als ästhetisches Modell im Mittelpunkt, so kommen wir nun zum Gefühl, dem dritten der ästhetisch relevanten Sinne bei Herder. Das entscheidende an der Skizze Ueber die Oper ist die Tatsache, daß hier dem Gefühl als dem wichtigsten Sinn, die Tanzkunst zugeordnet ist und nicht wie später die Plastik. Über das Paradigma der Bewegung und die Sinnesmodalität des Tastens sind mit dem Tanz, wie eben erläutert, die anderen an der Oper beteiligten Künste, insbesondere jedoch die Musik zusammengeschlossen. Die Bedeutung der Oper als integratives, anthropologisch

451 Vgl. auch den vorangegangen Abschnitt im Vierten Wäldchen: „Schall ist eine körperliche Masse von Tönen.” (Ebd., S. 346.)

452 Herder: Einzelne Blätter, S. 475.