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Drei Modi der Funktionalisierung von Oper als ästhetisches Modell

2. Modell Oper (I) : Bedingungen und Systematik

2.3. Drei Modi der Funktionalisierung von Oper als ästhetisches Modell

Innerhalb der Ansätze, bei denen die Oper um 1800 als ein ästhetisches und literarisches Modell konstituiert wird, lassen sich spezifische Übereinstimmungen beobachten, die in drei Perspektivierungen des Modells Oper zusammenlaufen. Sie werden im Rahmen der hier vorgestellten Theorie zum Modell Oper als ‚Modi’ bezeichnet, die es im folgenden zu spezifizieren gilt. Im Unterschied zu den Diskurs-Kategorien, die auf eine Bündelung von Merkmalen der Oper und deren Diskursivierung abzielen, stellen die Modi drei Kategorien bereit, mit denen sich die Funktionen des Modells Oper erklären lassen. Es sind dies der Modus 1: Oper und die Idee der absoluten Musik (Autonomieästhetik), Modus 2: Oper und die Idee des Gesamtkunstwerks und Modus 3: Oper und die poetologische Idee der Ironie.

Sie dienen als systematisierte Orientierungs-Linien für die Zuordnung der einzelnen Ansätze, in denen sich die Oper als ästhetisches und strukturelles Modell um 1800 ausprägt.

In diesem Sinn lassen sie sich als eine Matrix, eine Art Koordinatenkreuz beschreiben, deren drei Achsen – die drei Modi – das Modell Oper aufspannen, in deren Raum die verschiedenen Ansätze des Modells Oper mittels der Koordinaten (Modi) präzise verortet werden können. Dieses mathematisch-räumliche Modell bildet den gedachten Zusammenhang zwischen den Modi gut ab, die nicht als oppositionelle Erklärungsmuster gedacht sind, sondern in verschieden starker Ausprägung in den einzelnen Beispielen gemeinsam auftreten können, als eine Art zugespitzte Benennung von drei Clustern, die sich im Feld der Funktionalisierungen der Oper als ästhetisches Modell bilden. Wenn man im Bild des Koordinatenkreuzes bleibt, dann nimmt der Modus 3 (Idee der Ironie) die von der x,y-Ebene in den Raum ragende z-Achse ein. Im Unterschied zu den beiden ersten Modi (Idee der absoluten Musik und des Gesamtkunstwerks), die sich auf ästhetische Zusammenhänge konzentrieren, zielt der dritte Modus auf solche Textstrategien, die eine Art Metaebene zu den beiden anderen Modi darstellen.

Die Bezüge zum Forschungskontext, wie er in der Einleitung erörtert wurde, stellen sich wie folgt dar: Modus 1 stellt die Ausweitung der Fragestellungen zum Musikalischen als Modell um 1800 auf die Oper dar, Modus 2 ist die Ergänzung dazu, indem nämlich die einmalige, gefeierte und ebenso umstrittene Tatsache der Oper als Kompositum einen gänzlich neuen Aspekt gegenüber dem Autonomie-Modell beinhaltet. Modus 3 schließlich bildet den Anschluß des Modells Oper an genuin poetologische Fragestellungen. Er fragt nach der ironischen Faktur von Texten, Schreibweisen und Strukturprinzipien im Zeichen der Oper. Bei der folgenden Spezifizierung der Modi geraten erneut die Diskursivierungen der Oper in den Blick. Damit soll der Forschungskontext erläutert werden, in dessen Rahmen die Systematisierung des Modells Oper und die Zuordnung der drei Modi vollzogen wird. Im anschließenden historischen Teil der Arbeit, den ästhetischen und literarischen Analysen um 1800, sind die Modi als erkenntnisleitende Kategorien implizit und explizit präsent. Wie weit sie über diese Zeit hinaus tragen würden, wäre in einer anderen Arbeit zu prüfen. Die oben vorgestellten Beispiele zum „Modell Oper heute“ lassen eine weitere Gültigkeit vermuten, der folgende historische Teil der Arbeit beschränkt sich allerdings schon allein aus pragmatischen Gründen auf die Zeit um 1800.

Die drei Modi sind im Einzelnen:

1. Oper und die Idee der absoluten Musik (Autonomieästhetik) – Modus 1 zielt auf autonomieästhetische Entwürfen in den verschiedensten Ausprägungen, die an der Oper als Modell artikuliert oder entwickelt werden. Die Formulierung „Idee der absoluten Musik“

bezieht sich auf den theoretischen Kontext der an der Instrumentalmusik orientierten Modellvorstellung von Musik (vgl. die Ausführungen zu Dahlhaus, Lubkoll, Gier, Wolf u. a. in der Einleitung) und soll auf eine Erweiterung der bisherigen Forschungskonzepte verweisen.

Der diskutierte Status der Oper als nicht-mimetische Kunstform wird im Modus 1 gegen das aufklärerisches Mimesis-Postulat gewendet und von Klassizisten wie Romantikern für eine neue Ästhetik in Anschlag gebracht.

2. Oper und die Idee des Gesamtkunstwerks – Modus 2 ist opernspezifisch und stellt insofern eine Ergänzung der Fragestellung zum Musikalischen als Modell dar. Der Modus zielt auf das Ideal des Zusammenwirkens der verschiedenen Künste in der Oper, das zu einem den Einzelkünsten überlegenen Ganzen führt. Der Terminus ‚Gesamtkunstwerk’ wird im Hinblick auf die Oper als Kompositum und deren utopischen Funktionalisierungen im Rahmen des Modells Oper gebraucht und nicht als historischer, auf Wagners Ästhetik bezogener Terminus. Ansätze in der Perspektive des zweiten Modus können retrospektiv argumentieren , indem sie sich auf die antike Tragödie als vergangenes, an der Oper reaktualisierbares Modell beziehen, oder sie können prospektiv formuliert sein im Sinne einer noch zu verwirklichenden Utopie. Häufig sind die retrospektiven Ansätze mit den prospektiven verknüpft, vor allem dann, wenn sich die Bestimmung der Oper als Wiederbelebung des antiken Dramas mit der Hoffnung auf eine zukünftige Revision von Ästhetik und Literatur im Zeichen der Oper verknüpft. Die Nähe zur romantischen Romanpoetik und Universalpoesie-Konzepten wird Gegenstand der Untersuchungen im fünften Kapitel zu den Romantikern sein.

3. Oper und die poetologische Idee der Ironie – Im dritten Modus schließlich steht Oper als Modell für ein selbstreflexives Schreiben, für bestimmte poetologisch ausgerichtete Textstrategien. Die Idee der Ironie fächert sich dabei in zwei Varianten auf, die sich mit

‚romantische Ironie’ (um einen ästhetikgeschichtlichen Terminus aufzugreifen) und

‚dramatische Ironie’ am ehesten erfassen lassen. Erstere Variante zielt auf eine Ironisierung von Literatur und Sprache, die in Analogie zu bestimmten Merkmalen der Oper wie der Selbstdistanzierung der Sprache im Gesang oder der Konzeption der Oper als ‚ewig Werdendes’ gefunden werden kann; die zweite Variante zielt eher auf die dramaturgischen Brüche in der Oper, die sich in einer nicht-linearen Dramaturgie (Oper als episches Theater, Dissoziation der Zeit) oder der Differenzierung von Kommunikationssystemen und Erzählebenen (Orchester als ‚Erzählkommentar’, parabatische Funktionen von Chören, antiillusionistischer Operngesang) zeigen können und auf die beim Modell Oper rekurriert wird.

a) Modus 1: Oper und die Idee der absoluten Musik (Autonomieästhetik)

Die Formulierung ‚Idee der absoluten Musik’, die den ausschließlich auf der Instrumentalmusik basierenden neueren Musikbegriff als Prämisse für die bisherigen Entwürfe zum Modell des Musikalischen auf den Punkt bringt, dient als Schlagwort für den

ersten Modus der Oper als Modell für die Literatur. Das ist durchaus provokant gemeint. Die textgebundene Oper ist natürlich nicht in dem strengen Sinn ‚absolute Musik’, wie es der von Dahlhaus geprägte musikästhetische Terminus meint.329 Oper erfährt aber in der ästhetischen Theorie und der literarischen Praxis um 1800 eine ähnliche modellhafte Funktionalisierung wie die autonome Instrumentalmusik, die Umwertung der Musik zur

‚absoluten’ Kunst – die „Musikalisierung der Musik“, wie Michael Lingner es so treffend ausdrückt330 – geht auch innerhalb der Oper vonstatten, sozusagen als ‚Musikalisierung der Oper’. Was der Terminus ‚absolute Musik’ anzeigen will, ist die Tendenz zur totalen Autonomisierung der Kunst. Das ‚Absolute’ als Denkfigur gibt die Richtung an. Die vielbeschworene ‚Künstlichkeit’ der Oper besagt eben dies: losgelöst von Mimesis-Postulaten wird die Oper als ein radikal autonomes Kunstwerk rezipiert und funktionalisiert. Modus 1 bezeichnet also die im Zeichen der Oper aufgestellte Forderung nach einer möglichst großen künstlerischen Autonomie mit dem teleologischen Gestus des

‚Absoluten’.

Sieht man in den Autonomiebestrebungen eines der wichtigsten Merkmale moderner Ästhetik, dann kommt der Oper um 1800 gerade in Bezug auf dieses Merkmal eine wichtige Rolle als ästhetisches Modell zu. Zum Status der Oper, der die ‚Künstlichkeit’ zur ‚Natur’

geworden ist – für die also ein spezifisches Konzept ästhetischer Autonomie gattungsdefinierend ist –, hat Mathias Mayer in seinem Aufsatz zur „Literaturgeschichte der Oper“ einen guten Überblick gegeben. Ihre „Künstlichkeit“ mache sie zum „Medium der Erkenntnis“, indem sie ganz bewußt „den Abstand zur Wirklichkeit als Selbstlegitimation nutzt“.331 Wegen ihrer ‚Künstlichkeit’ ist die Oper eine Art proto-modernes Kunstwerk, und das schon seit dem 18. Jahrhundert (oder dem 17. oder 19. Jahrhundert – je nach Prämisse). Es läßt sich mit Dahlhaus zeigen, daß einige der Kategorien, in denen sich im Schauspiel eine moderne Dramaturgie manifestiert, in der Oper

„paradoxerweise zu den Merkmalen gehören, die immer schon, zumindest im 19.

Jahrhundert, für die Gattung konstitutiv waren. Mit anderen Worten: Die ‚nicht-aristotelische’ Dramaturgie, im Schauspiel ein Zeichen von Modernität, erscheint in der Oper, pointiert ausgedrückt, als ein Stück Tradition.“ 332

Beispiele für solche Merkmale sind der Zerfall des Dialogs, die ästhetische Präsenz des Autors, die Trennung des Darstellers von der Rolle und die Montagetechnik der Szenenfügung.333

329 Vgl. auch Dahlhaus’ zweifache Ausdeutung des Konzeptes „absolut“: einmal im Sinne von

‚losgelöst’, nämlich von losgelöst von ‚außermusikalischen’ Inhalten und zum anderen als Ahnung des oder Bewegung hin zum ‚Absoluten’ (Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, S. 1).

330 Michael Lingner: Der Ursprung des Gesamtkunstwerkes aus der Unmöglichkeit ‚Absoluter Kunst’.

Zur rezeptionsästhetischen Typologisierung von Philipp Otto Runges Universalkunstwerk und Richard Wagners Totalkunstwerk. In: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800 (Katalog zur Ausstellung). Hg. v. Harald Szeemann. Aarau, Frankfurt a. M. 1983, S. 52-69, hier S. 59.

331 Mayer, S. 160. Mayers Zusammenstellung der Argumente von Gottsched bis Wagner und Bachmann stützt die These vom ahistorischen Blick auf die Oper bei ihrer Konstituierung als ästhetisches Modell.

332 Dahlhaus: Traditionelle Dramaturgie, S. 284.

333 Vgl. ebd., S. 287.

Weitere Aspekte, die zum autonomieästhetischen Status der Oper gezählt werden können, sind ihre nicht-illusionistische, nicht-aristotelische Dramaturgie und ihre nicht-diskursive Struktur, bei der „im Libretto die Logik und Rhetorik des dramatischen Diskurses durch eine einfache Affektsprache zurückgedrängt wird“334. Oper kann als ein Residuum für die von der Aufklärung zurückgedrängte Irrationalität und Emotionalität betrachtet werden:

„Zwar ist die Oper, als Drama der Affekte, wie das Schauspiel durch Konflikte bestimmt, die das bewegende Moment der Handlung bilden. Die Gegensätze werden jedoch weniger in Dialogen ausgetragen, als daß sie in drastischen dramatischen Situationen, die zu entschiedenen musikalischen Affektäußerungen herausfordern, sinnfällig zutage treten und als ‚szenisch-musikalische Bilder’, als tönende Tableaus, festgehalten werden. Nicht die Rationalität des Rededuells, sondern die Irrationalität des Zusammenpralles von Affekten dominiert in der Oper.“335

Das Kriterium der Künstlichkeit und ästhetischen Autonomie im Rahmen des ersten Modus betrifft auch das ‚eigene’ oder ‚andere Welt’-Argument (s.o. S. 58). Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden: auf der einen Seite die klassizistisch-romantische ‚eigene Welt’-Konzeption, die unter Rekurs auf die ästhetische Autonomie der Oper, nicht zuletzt aufgrund ihres Status’ als „Paradigma des Wunderbaren“ (Lütteken) und insbesondere wegen der ‚wunderbaren’ Musik, an der Auflösung des Mimesis-Postulat arbeitet; auf der anderen Seite die ‚eigene Welt’ auf der Theaterbühne, die gerade in ihrer (fiktiven) Abgeschlossenheit gegenüber dem Zuschauerraum ein ästhetisches Abbild der Welt vorführen soll.336 Die Charakterisierung der Oper als offenes Drama, das sich schon immer radikal von der dramatischen Illusion im Sprechtheater unterschieden hat, besagt, daß das Bewußtmachen ihrer Artifizialität zum ‚Wesen’ der Oper gehört.

Der Modus 1 Oper und die Idee der absoluten Musik kommt also dort zum Tragen, wo die Funktionalisierung der Oper als Modell für autonomieästhetische Konzepte erkennbar ist.

Diese Konzepte weisen in den einzelnen Beispielen eine große Bandbreite an Möglichkeiten auf und sie betreffen alle Bereiche der Textsorten. Um Funktionalisierungen im ersten Modus handelt es sich beispielsweise dort, wo in autonomieästhetischen Entwürfen anhand der Oper neue Konzepte und Ideale erprobt werden (Bsp. Goethe, Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke, E.T.A. Hoffmann, Der Dichter und der Komponist). Im Bereich der dramatischen Texte ist es sowohl der Aspekt der Verselbstständigung der musikalischen Schicht als auch derjenige der dramaturgischen Konzeptionierung als tendenziell nicht-aristotelisches Drama, mit der die Oper als autonomieästhetisches Modell im Drama installiert wird (Bsp. Goethe, Egmont, Schiller, Die Braut von Messina, Tieck, Der

334 Ebd., S. 290.

335 Ebd., S. 285.

336 „Daß ein Schauspiel eine eigene, in sich geschlossene Welt darstellt, in die das Publikum bloßzufällig, gleichsam durch Wegziehen einer Wand, Einblick erhält, gehört zu den tragenden Prämissen oder Fiktionen, von denen das klassische Drama ausging.“ Es sollte „der Schein aufrechterhalten werden“, die Leute sprächen nur zueinander. Dagegen sind in der Oper

„Formen der direkten, unverstellten Anrede an das Publikum“ wie Prolog, Epilog und Chor, die

„in der antiken Tragödie (...) unentbehrlich waren (...), niemals so rigoros zurückgedrängt worden wie im Schauspiel der Neuzeit. Die Oper ist ein prinzipiell ‚offenes’, an das Publikum gerichtetes Theater.“ (Ebd., S. 289f.)

gestiefelte Kater). Gerade der Faktor Musik als neue amimetische Schicht im Drama wird auch in ästhetischen Reflexionen, in denen Oper als Modell erscheint, thematisiert (Bsp.

Tieck, Shakespeares Behandlung des Wunderbaren). In Prosatexten können sowohl die dramaturgische Autonomie als auch die musikalische Autonomie als Funktionen des Modells Oper identifiziert werden, beispielsweise bei der opernbezogenen Verwendung von epischen Szenen und der ‚Musikalisierung’ eines Erzähltextes, wie er vor allem in den Märchen zu finden ist (Eichendorff, Jean Paul, Goethe, Hoffmann).

b) Modus 2: Oper und die Idee des Gesamtkunstwerks

„Unter den verschiedenen Arten dramatischer Werke ist die Oper allen übrigen weit überlegen, weil sich da alle schönen Künste ohne Ausnahme bey einander finden. Wenn alle diejenigen, welche das Ihrige dazu beytragen, dieses Schauspiel glänzend zu machen, wenn Dichter, Tonkünstler, Schauspieler, Tänzer, Mahler u.s.w. mit dem Charakter großer Künstler philosophische Einsichten verbänden und in ihren Absichten recht einstimmig wären, so würde dieses Schauspiel unter den Händen eines philosophischen Gesetzgebers unendlich wichtig werden. Aber eben dieses Schauspiel beweist auf eine merkwürdige Art, wie weit die Neueren den wahren Begriff desselben verfehlen.“337

Was Johann Georg Sulzer hier als Charakteristik der Oper als Gesamtkunstwerk anführt, umfaßt praktisch alle Aspekte, die im zweiten Modus des Modells Oper zum Tragen kommen: die theaterpraktische Vereinung der Künste in Verbindung mit ästhetischen Reflexionen („philosophische Einsichten“), die herausragende Stellung, die der Oper als Gesamtkunstwerk in der Ästhetik zukommt oder zukommen könnte, wenn nicht Realität und Ideal so weit auseinanderklaffen würde, schließlich die anhaltend präsente Vergleichsform der antiken Tragödie (als gedachter Gegenpol zu den „Neueren“). In Sinne dieser Diskursivierung der Oper als Gesamtkunstwerk läßt sich immer dann vom Modus 2 des Modells Oper sprechen, wenn anhand der Oper das Ideal einer Synthese der Künste ästhetisch beschworen oder im literarischen Text inszeniert wird. Nicht die Tatsache an sich, daß die Oper eine Kompositum vieler Künste und Medien ist, sondern die utopische oder modellhafte Diskursivierung dieser Tatsache macht die Oper zum Gesamtkunstwerk im Sinne des zweiten Modus’.338 Die Art der Verbindung der Künste, die dabei angestrebt wird, kann sich im Einzelfalls recht unterschiedlich gestalten. Für die Frühromantik beispielsweise läßt sich das Konzept des Gesamtkunstwerks einerseits dem Modell der

337 Johann Georg Sulzer: Von der Kraft in den Werken der schönen Künste (1765). Zitiert nach:

Szeemann (wie Anm. 330), S. 114.

338 Vgl. dazu Carl Dahlhaus: „Die Oper ist ein zusammengesetztes, aber darum noch kein Gesamtkunstwerk.“ (Carl Dahlhaus: Musikästhetik. Köln 1967, S. 98.) Dahlhaus würde nur dann von einem ‚Gesamtkunstwerk’ sprechen, wenn die Oper einen Zustand der „inneren Gleichzeitigkeit der Künste“ erreichen würde, bei dem die beteiligten Künste „sämtlich dieselbe Entwicklungsstufe repräsentieren“ – ein Zustand, der in der Oper selten oder nie verwirklicht werden konnte, nicht einmal bei Wagner. Selbst einem orthodoxen Wagnerianer müsse es schwer fallen, sich „blind gegenüber der Tatsache zu machen, daß Wagners malerische Phantasie hinter seiner musikalischen zurückbleibt.“ (Ebd., S. 98.).

Synästhesie zuordnen, bei dem die verschiedenen Kunstarten zusammenfließen, und andererseits der Idee der progressiven Universalpoesie, bei der Formen und Kunstarten einen Kosmos bilden und ineinander übergehen, ohne daß die Grenzen zwischen den Künsten verschwimmen.339

Auch wenn die Verwendung des Begriffs ‚Gesamtkunstwerk’ in der Forschung facettenreich ist und stark variieren kann, zum Teil auch ins Allgemeine oder Normative tendiert340, so läßt sich das Konzept im Anschluß an Jürgen Sörings Darstellung im Reallexikon der deutsche Literaturwissenschaft wie folgt explizieren:

„Das Gesamtkunstwerk beruht auf dem – die Autonomie der Einzelkünste widerrufenden – Prinzip der intermedialen Grenzüberschreitung und intendiert eine Reintegration der Darstellungsmittel von Dichtung, Musik, Schauspiel-, Tanz- und bildender Kunst zu einer komplexen Ganzheit. Deren Gelingen hängt sowohl vom Grad der Selbstbewahrung ihrer (Teil-) Momente als auch von deren

‚Hingebung an das Gemeinsame’ ab (R. Wagner). Damit kann in letzter Konsequenz eine ‚Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität’ (O. Marquard) als Übergang der Kunst ins Leben verbunden sein.“341

Die folgenden Erläuterungen zum Kontext des Konzeptes ‚Gesamtkunstwerk’ geben Aufschluß über einige der Bezugspunkte, die für den Modus 2 des Modells Oper besonders relevant sind.

Die antike Tragödie als Folie für die Idee vom Gesamtkunstwerk ist vor allem eine utopische Größe, mit der ein triadisches Zeitmodell installiert werden kann: von der ursprünglichen Einheit über die gegenwärtige Zersplitterung der Künste zu einer wiederzuerlangenden Einheit. Die konzeptionelle Nähe zum Modell des Musikalischen, das häufig mit einer ursprünglichen Einheit von Musik und Sprache operiert, ist wohl kein Zufall. Mit der antiken Tragödie als einem zentralen Bezugspunkt für den zweiten Modus des Modells Oper entsteht auch ein neues Erklärungsmuster für die im 18. Jahrhundert so wichtige Antiken-Rezeption. Durch die Verknüpfung mit der Oper wird die antike Tragödie nicht mehr im Sinne der aristotelischen Poetik aktualisiert, sondern sie würde als frühe oder ursprüngliche Form des ‚Gesamtkunstwerks’, als Verbindung von Literatur, Musik, bildender Kunst und Tanz rezipiert. Die Oper als Wiederbelebung des antiken Dramas spielt seit der Begründung der Gattung eine entscheidende Rolle. Schauenberg verweist darauf, daß der Versuch, die Oper als Restauration der antiken Tragödie zu verstehen, in der

339 Zum Gesamtkunstwerk als utopisches Konzept in der Romantik vgl. Peter Rummenhöller: „Ist Utopie der Begriff, in dem sich die Unerfüllbarkeit romantischen Denkens fassen läßt, so hat diese Utopie im Bereich der Kunst ihre Erscheinung in der Idee des Gesamtkunstwerks.“ (Peter Rummenhöller: Romantik und Gesamtkunstwerk. In: Walter Salmen (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert. Regensburg 1965 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhundert; 1), S. 161-170, hier S. 161)

340 Vgl. beispielsweise die psychoanalytisch ausgerichtete Studie von Robert Donington zum Symbolischen in der Oper: „Text, Musik und Inszenierung vereinigen sich zu einem unauflöslichen Ganzen und ergeben zusammen die wirklich große Oper.“ (Robert Donington: Die Geschichte der Oper. Die Einheit von Text, Musik und Inszenierung. München 1997, S. 12.) Donington spricht dem

„absoluten“ Kunstwerk Oper eine einzigartige Kulturposition zu, weil sie einen „Königsweg zum Unbewußten“ bietet und wie kaum eine andere Kunst rationale und emotionale Elemente miteinander verwebt und leidenschaftlich erlebbar macht (ebd., S. 9).

341 Jürgen Söring: Art. „Gesamtkunstwerk“. In: Reallexikon der deutsche Literaturwissenschaft. Hg.

v. Klaus Weimar, Bd. 1. Neubearb. Ausg. Berlin, New York 1997, S. 710-712, hier S. 710.

Operngeschichte bis hin zu Richard Wagner immer wieder unternommen wurde, aber schon von Beginn an, schon bei den Bemühungen der Florentiner Camerata, bekanntlich irrtümlichen Vorstellungen über die Rolle der Musik im antiken Drama unterlag:

„Dem Irrtum, das Drama der Antike in seiner ursprünglichen Form wiederherstellen zu können, ist auch die Camerata verfallen. Daß ihr Antikenbild keineswegs durch die Vorstellungen der Hellenen geprägt ist, sondern durch die Bukolik Vergils und zeitgenössischer italienischer Dichtkunst, liest man unschwer an den Werken des Kreises ab. (...) Zwar ist die Mitwirkung von Musik bei den Dramen der Antike verbürgt, von einem Zusammenwirken im Sinne des Musiktheaters kann jedoch nach dem heutigen Stand der Forschung nicht die Rede sein.“342

Dahlhaus bezeichnet diese Versuche der Rückbindung der Oper an die antike Tragödie zutreffend als eine „idée fixe der Operngeschichte“. Das „Unerreichbare oder unerreichbar Scheinende“ stellt die Herausforderung dar, die den Motor der Gattungsentwicklung antreibt:

„Immer wieder ist versucht worden, das zusammengesetzte in ein Gesamtkunstwerk zu verwandeln; und zwar zehrte die Vorstellung, daß es möglich sein müsse, die heterogenen Momente zu einer homogenen Form zusammenzuzwingen, von einer Idee, die gleichsam eine idée fixe der Operngeschichte darstellt: dem Traum von einer Wiederkehr oder Renaissance der antiken Tragödie.“343

Es bleibt die Fiktionalität der historischen Bezugsgrößen festzuhalten. Diskussionen um das Gesamtkunstwerk handeln immer von der eigenen Zeit, den eigenen Bedürfnissen und empfundenen Leerstellen, sie sind als Projektionen auf vergangene Größe und zukünftige ästhetische Programme zu lesen. Deswegen hat der Konnex von antiker Tragödie und Oper Modellcharakter.

Erstaunlicherweise ist die lexikalische Erfassung des Begriffs „Gesamtkunstwerk“ sehr spärlich, sie nimmt erst in jüngster Zeit zu. Unter den einschlägigen musikwissenschaftlichen Standardwerken verzeichnet eigentlich nur die neue Ausgabe des MGG sowie die Neuausgabe des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft (s. vorige S.) einen Eintrag zum Gesamtkunstwerk.344 Dieter Borchmeyer konstatiert in seinem

342 Schauenberg, S. 31 – Hier sei die Diskussion um die ‚Musikalität’ der griechischen Sprache, die auch um 1800 eine nicht unbedeutende Rolle spielt, lediglich erwähnt. Schauenberg konstatiert in Anlehnung an die Forschungen des Musikwissenschaftlers Thrasyboulos Georgiades: „In der griechischen Sprache sind Sprachrhythmus und musikalischer Rhythmus identisch, da die Silbenlänge a priori festgelegt und musikalisch nicht veränderbar ist. Komponierbare Musik für Singstimme im heutigen Sinne wäre also unmöglich.“ (Ebd., S. 30) Roland Harweg widerspricht explizit der Auffassung Georgiades’: Die „rhythmischen Verpflichtungen der Verssprache“ seien

„außersprachlicher Natur“, also das, was Harweg „musikalische Rhythmen“ nennt, sie seien „der Sprache gleichsam von außen übergestülpt.“ Das dürfte, „entgegen der prononciert gegenteiligen Ansicht von Th. Georgiades (...), auch für den altgriechischen Vers gelten.“ (Harweg: Prosa, Verse, Gesang, S. 137 u. Anm. 5.)

343 Dahlhaus: Tradition und Reform in der Oper. In: Ders.: Musikästhetik. Köln 1967, S. 97-104, hier S. 98.

344 Keine Einträge finden sich in der alten MGG, im Handbuch der musikalischen Terminologie, im Brockhaus Riemann Musiklexikon, dem Standardwerk für den englischsprachigen Raum The New Groves Dictionary of Music and Musicians und auch nicht im Historischen Wörterbuch der Philosophie.

Beitrag in der neuen MGG345 eine gegenüber der Begriffsgeschichte sehr viel weiter zurückreichende Ideengeschichte. Wagner ist dabei nur eine Station, wenngleich eine wichtige. Bevor der Begriff als Kompositum zum ersten Mal bei dem spätromantischen Philosophen Karl Friedrich Eusebius Trahndorff 1827 in dessen Aesthetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst nachgewiesen werden kann, läßt sich die Idee schon um 1800 in einer klassischen und einer romantischen Variante beobachten. Borchmeyer identifiziert „Idee und Begriff“ des Gesamtkunstwerks als „ein Produkt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts“346. Es ist als eine Gegenbewegung zu der im 18. Jahrhundert einsetzenden Desintegration und Defunktionalisierung der Künste zu verstehen, die mit dem Zerfall einer übergreifenden und bindenden religiösen, politischen (Französische Revolution!) und gesellschaftlichen Ordnung korrespondiert. Der Ausdifferenzierungsprozeß der Moderne führe, so Borchmeyer, nicht nur zur Autonomie der Kunst als solcher (Kant), sondern auch zur Ausdifferenzierung der Einzelkünste, die sich besonders an der Emanzipation von der Rhetorik ablesen lasse. Den „Preis ihrer ‚Freiheit’“ – hier nimmt Borchmeyers Stil selbst eine kulturutopische Wendung – sei ihre „Entwurzelung, Zersplitterung, Einsamkeit und Heimatlosigkeit, die einen melancholischen Schatten auf das Selbstverständnis des Künstlers seit der Romantik werfen.“347 Nun machte man aus der Not (der Desintegration der Künste) eine Tugend, indem man die Künste programmatisch voneinander absonderte oder aber Grenzüberschreitungen oder synästhetische Grenzverwischungen als neue Integrationsmodelle erprobte. Eine Art klassische Variante des Gesamtkunstwerks findet sich – trotz der eigentlich intendierten

„Abgrenzungsästhetik“ – bei Goethe (im „gattungsmischenden“ Faust) und Schiller (Vorrede zur Chortragödie Die Braut von Messina). Die „gleichzeitige romantische Kunsttheorie“ setzte auf die „zumal von der Musik inspirierten Synthese der Gattungen und Künste“.348 Der Begriff des Gesamtkunstwerks läßt sich mit Borchmeyer auf ein spezifisches, utopisch modelliertes Kunstkonzept eingrenzen, das die ‚ältere’ Oper nicht mit einschließt:

„Das Zusammenwirken verschiedener Künste vor allem in der Architektur und im Theater (zumal in der Oper) der vormodernen Gesellschaften bedarf eines anderen terminologischen und analytischen Instrumentariums.“349

345 Dieter Borchmeyer: Art. „Gesamtkunstwerk“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart.

Sachteil, Bd. 3. Kassel/Basel/Stuttgart 1995, Sp. 1282-1289.

346 Ebd., Sp. 1282.

347 Ebd., Sp. 1283.

348 Ebd.

349 Ebd., Sp. 1288. – Hofmannsthals Funktionalisierung der Barockoper als Gesamtkunstwerk bzw.

„Wiedergeburt des antiken Gesamtkunstwerks“ als Gegenbewegung zu Wagners Musikdrama analysiert Borchmeyer als eine Rückprojektion moderner Kunsttendenzen: „Nicht das Wagnersche, sondern die Fiktion des barocken Gesamtkunstwerks ist das in einer Spätzeit heraufbeschworene Gespenst; Wagner subjektivierte nicht alte Kunsttendenzen, sondern Hofmannsthal reprojizierte durchaus moderne Kunsttendenzen – nämlich den aus dem Zerfall der übergreifenden Einheit der Künste am Endes des 18. Jahrhunderts, ihrer modernen

‚Ausdifferenzierung’ resultierenden Hang zum Gesamtkunstwerk – in den Barock.“ (Ebd.)