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Oper als Modell für das ‚Meta-Libretto’ Faust

TEIL II: KLASSIZISTEN

4. Goethes wunderbare Welt der Oper

4.2 Oper als Modell für das ‚Meta-Libretto’ Faust

auch andere Perspektiven und Ansätze zur Sprache kommen, zum Beispiel die der Musikalisierung der Sprache und die der dramatischen Ironie, die Goethe durch den Rückgriff auf Formen des Musiktheaters erzeugt.

4.2.1 Musiktheater und Modell Oper im Faust: Bemerkungen zum Forschungs-stand und den Aspekten episches Drama, Chor und Antikenrezeption

Im folgenden Abschnitt werden unter Rückgriff auf den aktuellen Forschungsstand zum Thema Musiktheaterformen im Faust einige zentrale Aspekte von Goethes Dichtung vorgestellt, die im Rahmen der Studie zur Oper als Modell für die Literatur um 1800 als besonders relevant erscheinen. Zunächst werden einige allgemeine Charakteristiken der Faust-Dichtung genannt, die sich auf das Vorbild des Musiktheaters zurückführen lassen, und einige der Vorbilder benannt, auf die Goethe aufgrund seiner Beschäftigung mit Singspiel-Dichtungen und seiner Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Musiktheater zurückgegriffen hat. Anschließend werden drei zentrale Aspekte des Modells Oper, episches Theater, Chor und Antikenrezeption, in den Blick genommen, da an ihnen einiges von der Spezifik des Modells Oper im Faust demonstriert werden kann.

Neben der bereits erwähnten Studie von Benedikt Holtbernd zu Goethes Singspielen stellen Thomas Baumanns Arbeit zum norddeutschen Singspiel694, Markus Walduras Beitrag zu Goethes Singspielen im Goethe-Handbuch695 und die Untersuchung der metrischen Gestaltung in Goethes Faust von Markus Ciupke696 wichtige Studien über die Auseinandersetzung Goethes mit dem Musiktheater dar. Die wohl umfangreichste Arbeit zu Goethes Arbeiten für das Musiktheater und dessen Einfluß auf die Faust-Dichtungen hat jüngst Tina Hartmann vorgelegt, womit einer der „vermutlich letzten unbekannten Bereiche der Goethephilologie“697 erschlossen wurde. Ihre Ergebnisse stellen einen zentralen Beitrag zur Beschreibung der Modell-Funktion der Oper im Faust dar, auch wenn Hartmann selbst nicht mit der Formulierung ‚Modell’ operiert. Im Rahmen der vorliegenden Studie kann zum einen auf Hartmanns Ergebnisse verwiesen werden, was die Bezüge des Faust zum Musiktheater en detail betrifft, also die gattungsgeschichtlichen und ästhetischen Vorbilder, zum anderen läßt sich in der Analyse spezifischer, für die Systematik des Modells Oper relevanter Aspekte direkt an ihre Ergebnisse anschließen. Das Neue bei Hartmann liegt in ihrer konsequenten Auswertung von Goethes Erfahrungen mit dem Musiktheater und in der Fundierung ihrer detaillierten Sprachformvergleiche auf den

694 Thomas Baumann: North German Opera in the Age of Goethe. Cambridge 1985.

695 Markus Waldura: Die Singspiele. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hg. v. Bernd Witte. Bd. 2:

Dramen. Hg. v. Theo Buck. Stuttgart, Weimar 1997, S. 173-194.

696 Markus Ciupke: Des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch. Die metrische Gestaltung in Goethes Faust. Göttingen 1995.

697 Hartmann, S. 1.

Ergebnissen zu Goethes eigenen hochartifiziellen Singspiel-Dichtungen. Ihre leitende These besagt, daß Goethes Intentionen bei der Verwendung der Musiktheater-Formen als Folie für seine Faust-Dichtung weit über die Funktion des bloß Dekorativen oder allgemein Erhebenden hinausgeht. Die vorliegende Studie geht über Hartmanns Erkenntnisinteresse hinaus, indem sie nicht nur die gattungsgeschichtlichen und librettologischen Fragen, die Hartmann bearbeitet, für den Fokus des Modells Oper im Faust systematisiert, sondern auch durch die Perspektivierung im Rahmen dieses Kapitels, die neben der Diskursivierung des Modells Oper vor allem auch die Analyse eines Prosatextes, Das Märchen, im Hinblick auf seine Opernhaftigkeit unternimmt.

Neben den Stellenkommentaren zu den Faust-Dichtungen, die sich aus nahliegenden Gründen mehr oder weniger intensiv auch mit den Einflüssen des Musiktheaters auseinandersetzen, gibt es eine Vielzahl an einzelnen Beiträgen, die die Modellfunktion der Oper für den Faust untersuchen. Dabei bleiben die Bezüge zum Musiktheater schematisch und – was für unseren Kontext besonders relevant ist – häufig implizit auf bestimmten Opernkonzepte bezogen, die ex post auf Goethes projiziert werden, die jedoch bei einer generischen Analyse nicht tragen.

Ein gutes Beispiel für diesen Umgang mit der Frage nach Formen und Funktionen der Oper im Faust ist die in den 1960er Jahren vorgelegte Studie von Hermann Fähnrich, die explizit die These vertritt, daß es sich bei der Fausttragödie um die „Erfüllung und Vollendung“ von Goethes Opernreform handelt.698 Sein Ansatz, von Goethes Plänen zur Erneuerung des deutschen Musiktheaters auszugehen, ist innovativ; die emphatische Goethe-Verehrung und der implizite Fokus auf die romantische Oper und auf Richard Wagner stellen jedoch eine typische teleologische Konstruktion dar. Die schematische Differenzierung von Wortdrama und dem „irrationalen Reich der Oper“699 folgt den bekannten dichotomen Mustern:

„Dem Wort sind die Szenen menschlichen Ringens und Kämpfens, Leidens und Untergangs vorbehalten, während die Musik – im Sinne Shakespeares – das Göttliche, Dämonische, Übernatürliche und Zauberhafte schildert. Hier war die Gefahr der absoluten Vorherrschaft der Musik gegeben, das romantische Opernideal in greifbare Nähe gerückt, hätte Goethe nicht Vernunft und Verstand über die Gefühlswelt herrschen lassen.“700

Mit zu dieser Dichotomisierung von Wort und Musik, Vernunft und Gefühl bei Fähnrich gehörte auch eine typische Konnotation der Geschlechterdichotomien. Das „menschliche Ringen und Kämpfen“ ist dem Männlichen, die Musik, das Romantische, die Gefühlswelt und eben die Oper sind dem Weiblichen zugeordnet – und zwar unabhängig von der Frage, wie Goethes Werk Geschlechterdichotomien konstruiert und funktionalisiert.701 Damit

698 Hermann Fähnrich: Goethes Musikanschauung in seiner Fausttragödie – die Erfüllung und Vollendung seiner Opernreform. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft. N.F. 25 (1963), S. 250-263.

699 Ebd., S. 260.

700 Ebd., S. 254.

701 Zu der der klassisch-romantischen Kultur tief eingeschriebenen Dichotomisierung von

‚Weiblichem’ und ‚Männlichem’ vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit.

Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M. 1979.

unterliegt Fähnrichs Analyse der Opernhaftigkeit des Faust einer spezifischen Bewertung, die mit seinem teleologischen Wagner-Fokus in Zusammenhang steht. Richard Wagner hat in Oper und Drama die Musik mit dem Weiblichen konnotiert („Die Musik ist ein Weib“702), das vom Wort des Dichters mit seiner zeugenden Kraft zu befruchten sei. Fähnrichs typische Verengung auf eine eben auch geschlechtlich konnotierte Dichotomie, etwa bei der Analyse der Euphorion-Szene, fällt konzeptionell hinter seinen Gegenstand zurück.

Bei der Bestimmung der Intentionen, die Goethe mit dem Rückgriff auf die Oper im Faust verfolgte, kommt Fähnrich auf das gleiche Konzept wie Hofmannsthal zu sprechen: das des

„Festspiels“ als höchster Form des Gesamtkunstwerk-Ideals, das er dezidiert von Wagners Musikdrama abgrenzt:

„Wir möchten sie [die neue Form, S.L.] als Gesamtkunstwerk bezeichnen, in einem umfassenderen, die Einzelkünste harmonischer verbindenden Sinne als das Gesamtwerk Richard Wagners. Goethe hat Dichtung und Musik, pantomimische Gebärde und Bühnenbild zu einer gewaltigen Synthese gesteigert, durch seine

‚Sprachmusik’, worunter ich nicht nur den musikalischen Klang seiner Verse verstehe, sondern den ganzen musikalischen Aufbau der Tragödie. Hier hat Goethe das Ziel seiner Opernreform erreicht: die Vermählung von Wort und Ton, die Erhaltung der poetischen und musikalischen Formen, die Überhöhung der dramatischen und musikalischen Szenen zum Festspiel, zum Gesamtkunstwerk.“703

Damit erscheint Goethe als der bessere Wagner. Indem Fähnrich vier personenbezogene

„Erinnerungs- oder Leitmotive“704 unterscheidet, je eines zu Faust, Gretchen, Helena und Mephisto, und die „kontrapunktische Führung der einzelnen Personen“705 untersucht, appliziert er bezeichnenderweise spezifisch musikalische Formen auf Goethes Text, für die Wagner und die Idee der absoluten Musik als Signum einstehen. Damit wird nicht nur über das musikalische Rollenmodell Wagner eine Begründung für Goethe gesucht, mit dem das ideengeschichtliche Vorbild (aus Fähnrichs Perspektive) oder Nachbild (in historischer Perspektive) überrundet werden kann, sondern auch die Dichotomie von Musik und Oper weitergeschrieben, die bei dem hier vorgelegten Ansatz zum Modell Oper grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Die folgende Überblicksdarstellung zur Genese der Faust-Dichtungen aus den Formen des Musiktheaters bezieht sich, wo nicht anders angegeben, auf die in dieser Hinsicht grundlegenden Untersuchungsergebnisse von Hartmann zum Musiktheater bei Goethe. Bei der Gestaltung der Faust-Dichtung suchte Goethe schon früh nach einer umfassenderen

702 Richard Wagner: Oper und Drama. Stuttgart 1984, S. 118, Herv. im Orig. – Zur Parallelisierung von Weiblichkeit und Musik als kulturgeschichtlicher Topos vgl. Sigrid Nieberle und Susanne Fröhlich: Auf der Suche nach den un-gehorsamen Töchtern. Genus in der Musikwissenschaft. In:

Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Hg. v. Hadumod Bußmann u.

Renate Hof. Stuttgart 1995, S. 292-339.

703 Fähnrich, S. 261. – Zum Festspiel bei Goethe vgl. Hartmann: „1816 vereinigte Goethe bei der Redaktion seiner Werke für den 8. Band der Werkausgabe Paläophron und Neoterpe, Pandora und Des Epimenides Erwachen unter der Gattungsbezeichnung ‚Festspiele‘, die damit als eigener Werkkomplex von poetologischer Spezifik in Erscheinung treten.“ (S. 290) und Ursula Dustmann:

Wesen und Form des Goetheschen Festspiels. Köln 1963.

704 Fähnrich, S. 257.

705 Ebd., S. 259.