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Operngeschichtliche Voraussetzungen im ausgehenden 18. Jahrhundert für die Herausbildung der Oper als Modell

TEIL II: KLASSIZISTEN

3. Oper als ästhetisches Modell bei Herder und Schiller: zwischen Anthropologie, Affektrhetorik und autonomem Gesamtkunstwerk

3.1 Operngeschichtliche Voraussetzungen im ausgehenden 18. Jahrhundert für die Herausbildung der Oper als Modell

Besonders im Zusammenhang mit Theatertheorien, aber auch allgemein in der Auseinandersetzung mit einer rationalistischen Poetik spielt die Oper aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften als ‚unmögliches’ Kunstwerk immer wieder eine herausragende und richtungweisende Rolle. Diese Rolle wurde – so eine These der Studie – um 1800 zwar relativiert und auf die (Instrumental-)Musik übertragen, aber keineswegs für die Oper gänzlich aufgegeben. Die folgenden Erörterungen einiger operngeschichtlicher Voraussetzungen im 18. Jahrhundert, die für die Herausbildung der Oper als ästhetisches Modell relevant sind, orientieren sich an den einer Studie von Gloria Flaherty, die die Bedeutung der Oper für die deutsche Literaturkritik herausgearbeitet hat, und an Jörg Krämers Darstellung des deutschsprachigen Musiktheaters im späten 18. Jahrhundert.

Hier stehen ästhetische und theoretische Aspekte der Operndebatte im Vordergrund, hinzuweisen wäre aber auch auf die große soziale Bedeutung des Musiktheaters. Das deutschsprachige Musiktheater – die aufwendige italienische Oper wird praktisch ausschließlich im Kontext der Fürstenhöfe rezipiert, ist dort aber auch z.T. öffentlich zugänglich – bildet im späten 18. Jahrhundert

„in seinen vielfältigen und heterogenen Formen den erfolgreichsten und publikumswirksamsten Bestandteil der Theaterpraxis. Es zeichnet sich insgesamt durch eine breite soziale Streuung der Rezeption aus, die sowohl verschiedene

‚bürgerliche’ wie auch höfische Publiken erreicht, katholische wie protestantische, Laien wie Fachleute.“379

Daher kann die Oper als eine „besonders wirksame Art der Öffentlichkeitsstiftung und Diskursbündelung angesehen werden.“ Dieser soziologische Kontext ist bei der Präsenz und der Rezeption von ‚Oper’ in der Literatur mitzubedenken.

Ein spezielles theoretisches und ästhetikgeschichtliches Problem im Rahmen des Modells Oper stellt die Mimesis-Doktrin in ihren Ausprägungen im 18. Jahrhundert dar, deren Ablösung ein wesentliches Moment für die klassisch-romantischen Kunstautonomie ausmacht. In diesem Prozeß hat die Musik, wie in vielen Studien bereits ausführlich beschrieben wurde, aber auch die Oper – das zeigen die Ergebnisse von Gloria Flaherty – eine wichtige Funktion als ästhetisches Vorbild. Die mehr oder weniger synonyme Verwendung „Oper und ästhetische Autonomie“ und „Oper und die Idee der absoluten Musik“ im Rahmen der oben vorgestellten Modi des Modells Oper soll nicht die Differenzen zwischen den verschiedenen Ausprägungen von Mimesis und Mimesis-Ablösung nivellieren – ganz abgesehen davon, daß die musikwissenschaftlichen Konzepte von „autonomer Musik“

eher auf eine soziologische Fragestellung im Sinne von nicht-funktional und von „absoluter

379 Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. Teil I: Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur; 149), Teil II: Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur; 150), S. 4.

Musik“ auf die ästhetisch-philosophischen Implikationen verweisen. Vielmehr soll durch die Wahl dieser Terminologie der Bereich umrissen werden, in dem sich die Binnendifferenzierungen des Autonomie-Modus’ im Rahmen des Modells Oper bewegen.

Nach der Verengung des alten Mimesis-Konzept auf „Naturnachahmung“ im 18. Jahrhundert wird die Frage, welches Nachahmungskonzept eigentlich abgelöst wird, in der Forschung mit unterschiedlicher Akzentsetzung beantwortet.380 Im Rahmen der Idee der absoluten Musik wird dort, wo sie an den Formalismus grenzt, jegliche Weltbezüglichkeit negiert, auch die Gefühls- und Ausdruckshaftigkeit, und nur auf die selbstbezügliche autonome Struktur rekurriert. Andere Ansätze unterscheiden zwischen Nachahmungs- und Ausdrucksästhetik, während beispielsweise Jörg Krämer die Position vertritt, daß die Verabschiedung der Mimesis-Doktrin die Ablösung der rationalistischen Regelpoetik381 bedeutet, an deren Stelle Forderungen nach Empfindungen in der Musik und Ausdruck der Leidenschaften treten:

„Die Mimesis-Doktrin bleibt ein topisches Element der Diskussion über Musiktheater, verliert aber in den 1770er Jahren endgültig ihre diskursbestimmende Funktion. (...) Die Löschung der Mimesis-Doktrin ist einer der Punkte, wo Empfindsame und Geniebewegung in den 1770er Jahren an einem Strang ziehen.“382

Krämer weist nachdrücklich auf die Notwendigkeit hin, die veralteten Fortschrittskonzepte in der Musikwissenschaft zu revidieren, die ein zu simples Modell über die Veränderungen von einer Nachahmungs- zur Autonomieästhetik entwerfen und bis heute vor allem in den Nachbardisziplinen Nachwirkungen zeitigen. Demnach erscheint die Theoriebildung des 18.

Jahrhunderts als

„Fortschrittsbewegung von der starren, unmusikalischen (und ‚undeutschen’) Nachahmungspoetik zum Gipfel einer ‚Ausdruckskunst’, die entweder in der Klassik oder bei Richard Wagner angesiedelt wird, zu deren Vorbereitern oder Vorläufern das gesamte 18. Jahrhundert stilisiert wird. Entsprechend wird die Nachahmungspoetik generell als zu überwindendes Hemmnis angesehen und (auch

380 Zur musikalischen Nachahmungsästhetik vgl. die immer noch lesenswerte Studie von Walter Serauky: Die musikalische Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850. Münster 1929. In Seraukys Untersuchung stehen drei „Problemkreise“, die dem „Grundsatz der musikalischen Nachahmung der Natur zugeordnet“ sind, im Mittelpunkt: 1. die Nachahmung der menschlichen Affekte, 2. die Nachahmung der „Sonorlaute der beseelten und unbeseelten Natur“ (also die Klang- und Lautmalerei) und 3. die Nachahmung der „Inflexionen der Sprache“ (ebd., S. XIII).

381 Das Verhältnis von Musik und Sprache war im Rahmen der Mimesis-Doktrin, die eine Rhetorisierung der Künste beinhaltete, ein Abhängigkeitsverhältnis der Musik von der Sprache:

„Das [die Partizipation der Musik an der Rhetorisierung der Kunst, S.L.] bedeutet jedoch nicht (...) eine Annäherung von sprachlicher und musikalischer Struktur, sondern eine Applizierung der einen auf die andere – und damit den einseitigen Verlust einer eigenen Wertigkeit. Die vermeintliche semantische Annäherung ist also letztlich eine tiefgreifende strukturelle Entfremdung, da an die Stelle einer Symbiose nurmehr die ‚Imitation’ der sprachlich rhetorischen Gebärde tritt.“ (Lütteken, S. 84.) Zur Lösung der Musik aus der Abhängigkeit von der Sprache, die über die Bildung von Analogien bis zur Musik als Maßstab für die Poesie führt, vgl. Lütteken, Kapitel „[...] in der Wahl der Worte Tonkünstler“: Musik und Poesie (ebd., S. 85-102).

382 Krämer, S. 706f.

unausgesprochen) negativ konnotiert; dagegen werden alle Äußerungen, die auf Genie- oder Autonomiepositionen hinweisen, überbewertet.“383

Es bleibt festzuhalten, daß keine Vereinheitlichung der Perspektive angestrebt ist, unter dem der Modus „Oper und ästhetische Autonomie/absolute Musik“ linear zu erfassen wäre.

Die Autonomie-Bestrebungen in den Künsten werden als allgemeines Paradigma für die Untersuchungen zum Modell Oper vorausgesetzt, ohne daß es eine diesbezügliche Entwicklungsgeschichte nachzuzeichnen gälte. Der Beitrag des Modells Oper zu dieser Entwicklung konzentriert sich auf die im Detail vorgestellten Beispiele, aus denen in der Summe der Beitrag ersichtlich wird, den die Oper als ästhetisches Modell für Konzeptionen von der Autonomie der Künste, speziell der Literatur, leisten kann.

Die Oper spielte, wie sich mit Gloria Flahertys Studie Opera in the Development of German Critical Thought zeigen läßt, eine herausragende, impulsgebende Rolle für Ästhetik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert und für die Goethezeit. Gegenstand von Flahertys materialreicher Studie ist die Opernkritik, das heißt das opernästhetische und -theoretische Schrifttum, im Zeitraum von den Anfängen der Oper im deutschen Raum nach dem Dreißigjährigen Krieg bis zu Wieland.384 Im „Epilog“ bietet sie einen Ausblick auf die Goethezeit und die Relevanz der von ihr aufgezeigten Entwicklung, mit der die Oper zum Modell für die Ästhetik wurde, für die Zeit um 1800. Flaherty gelingt es, die Bedeutung der Oper als Modell für die Ästhetik zu zeigen, die in der Forschung bis zu dieser Zeit praktisch keine Aufmerksamkeit gefunden hatte:

„One of the best indicators of changing aesthetic premises and critical attidtudes is never, or hardly ever mentioned in works discussing the evolution of German criticism or the artistic flowering of the Goethean age. And that is opera: the theatrical form that innumerable German poets, critics, and philosophers considered the ultimate artistic possibility.”385

Ursprüngliche Intention ihrer Arbeit war es lediglich zu zeigen, daß Schriften zur Verteidigung der Oper gegen rationalistische Verurteilungen die künstlerischen Wertvorstellungen, philosophischen Positionen und kritischen Methoden, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschten, vorweggenommen haben – was an sich schon eine interessante These ist. Es zeigte sich jedoch, daß die Bedeutung der frühen Schriften zur Oper tiefer reichte. An ihnen lasse sich studieren, so Flaherty, wie die Grundlagen für die künstlerische Blüte der Goethezeit gelegt wurden.386 Im Epilog finden sich neben einer Zusammenfassung der Ergebnisse auch etliche einschlägige Beispiele aus der Goethezeit, an denen Flaherty die anhaltende Bedeutung der Oper für die deutsche Ästhetik und Poetik um 1800 aufzeigt. Die Bedeutung der Oper für eine genuin deutsche Ästhetik könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

383 Ebd., S. 49.

384 Flaherty nennt als historische Eckdaten Renaissance und Goethe-Zeitalter, z. B. ebd., S. 5.

385 Flaherty, S. 4, Herv. S.L.

386 Vgl. ebd., Vorwort S. ix.

“Eventually opera came to exemplify certain aesthetic ideas and was mentioned more and more often in works dealing primarily with theatrical history of the criticism of spoken drama. By the end of the eighteenth century, the premises and principles contained in operatic writings had permeated all branches of criticism and aesthetic theory. Opera’s exponents had helped to transmit the viable ideas of the past and to transform them so that they could be employed meaningfully in the future. As a result, German criticism gained its own distinctive character and began to exert considerable influence on European letters.”387

Die kulturelle Blüte in der Goethezeit um 1800 wird von Flaherty als Kulminationspunkt künstlerischer Tendenzen seit der Renaissance eingestuft, für die die Oper eine herausragende Rolle spielte:

„The critical thought of the Goethean Age represents the culmination of tendencies, attitudes, and habits that had been evolving uninterruptedly since the Renaissance. Opera figured importanly in that evolution. As both a theatrical reality and an artistic potentiality, opera continued to stimulate so much interest and so much debate that it became one of the shibboleths [Schlagwort] of German criticism. Succeeding generations of German critics took up ideas from the past and, modifying them for application to opera, transformed them for the future. Their operatic writings reflected shifts in artistic values, philosophical point of view, and critical methodologies. More significant was that they very often anticipated such shifts and sometimes even helped to induce, retard, or accelerate them.”388

Flaherty präsentiert damit eine Konzeption von der Emanzipation der Ästhetik von der Mimesis-Doktrin hin zu einem emphatischen Kunstbegriff ästhetischer Autonomie, bei dem die Oper als ästhetisches Leitbild dient, was sich um 1800 besonders bei Goethe und Schiller zeigt:

„Late eighteenth- and early nineteenth-century German poets, critics, and philosophers often referred to opera when distinguishing art from nature, clarifiying artistic truth, explaining the aesthetic experience, or discrediting naturalistic tendenencies in the performing arts as well as in the plastic arts.

They recapitulated the arguments and used the vocabulary that had become standard in operatic writings.”389

Flahertys Studie unterliegt dabei offenbar dem Paradigma der Weimarer Klassik, auf deren Größen der Fokus ihrer Arbeit liegt. Daher stellen Goethe und Schiller die abschließenden Beispiele für den Einfluß der Oper als ästhetisches Modell (Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke, Schillers Brief an Goethe, Vorwort zur Braut von Messina), daneben auch andere (vor-)klassische Denker wie Gerstenberg und Möser. Sie halfen, so Flaherty,

„to bring the long battle against the doctrine of mimesis to a successful conclusion. (…) Opera had long symbolized the artificiality of all art, but they made it into a symbol for artistic creativity and freedom.”390

387 Ebd., S. 9.

388 Ebd., S. 281.

389 Ebd., S. 296.

390 Ebd., S. 295f.

In Bezug auf die deutsche Klassik hebt Flaherty die Bedeutung der Musik hervor, die größer sei, als die bisherige Betonung der bildenden Künste zu erkennen gibt: „All too often has the importance of the plastic arts been stressed and the importance of music been ignored in discussion of die deutsche Klassik.”391 Das läßt sich einerseits an die oben vorgestellte These von der Aufwertung der Musik auch innerhalb der Oper anschließen und verweist andererseits – auch zwanzig Jahre nach ihrem Erscheinen noch – auf ein Desiderat, daß es nämlich die häufig sehr schematische Zuordnung von Bildenden Künsten zur Klassik und Musik zur Romantik aufzubrechen gilt.

Man sollte sich aber nicht zu der Hypothese verführen lassen, daß sich die Modellfunktionen aus den Bereichen Musik und Musiktheater nach dem Schema verteilten, Modell Oper für den Klassizismus, Modell Musik für die Romantik, auch wenn sich letztlich Studien wie die von Flaherty und von Neubauer im Vergleich so lesen. Während Neubauer in seiner Studie über die Emanzipation der Musik von der Sprache mit einem Ausblick auf die Romantiker endet, liegt Flahertys Untersuchung zur Modellfunktion der Oper für den ästhetischen Diskurs im 18. Jahrhundert eine implizite Normativität des Kla ssischen zugrunde, die Goethe und Schiller als Protagonisten betrachten. Flaherty ist sich der Verschränkung der beiden Kunstströmungen Klassizismus und Romantik in Deutschland durchaus bewußt: „German Classicism and Romanticism were not antipodal tendencies.”392 Diese Prämisse wird im „Epilog” insofern eingelöst, als auch Beispiele von Romantikern für die anhaltende Bedeutung der Oper als ästhetisches Modell angeführt werden. Allerdings wird der Weimarer Klassik so sehr der Vorzug zu gegeben, dass man sich fragen muß, ob die allgemeine Formulierung „Late eighteenth- and early nineteenth-century German poets, critics, and philosophers often referred to opera“ wirklich Klassizismus und Romantik meint.393

Zeigt Flaherty die nicht zu überschätzende Relevanz der Oper für Ästhetik und Kritik im 18.

Jahrhunderts auf, so konstatiert Krämer das Ende der Oper als Leitdiskurs, um 1800 verliere „das Musiktheater seine den ästhetischen Diskurs bestimmende Kraft.“394 Krämers Studie zum deutschsprachigen Musiktheater im späten 18. Jahrhundert endet um 1800 mit Mozarts Zauberflöte im werkanalytischen, mit klassischer Autonomieästhetik im Ästhetik-Teil. Den anstehenden musikästhetischen Paradigmenwechsel erwähnt Krämer im letzten Absatz nur noch als Ausblick, der erkennbar unter dem Einfluß des romantischen Diskurses der „Idee der absoluten Musik“ steht:

391 Ebd., S. 287.

392 Ebd., S. 288. Diese Feststellung folgt allerdings nicht aus der Überlegung, daß Klassizismus und Romantik komplementäre Bewegungen in Reaktion auf die historischen Umbrüche seien, sondern mit dem Argument, „they evolved simultaneously out of the interaction between those who espoused the Franco-Roman neoclassical code and those who upheld the ancient Germanic idea of establishing law by precedent.“ (Ebd., 288f.)

393 Zur Differenzierung von Klassizismus und Romantik vgl. auch Krämer: „Vokalmusik gilt daher [wegen der gebundenen Sinnlichkeit] als der Instrumentalmusik überlegen; dies bildet einen Differenzpunkt zwischen klassizistischen und romantischen Positionen.“ (Krämer, S. 772)

394 Krämer, S. 771.

„Der ‚Mythos Musik’ entsteht, in dem Musik nun nicht mehr als Sprache der Empfindungen verstanden wird, sondern als Medium ‚unendlicher Sehnsucht’. (...) Dies kann die Musik gerade wegen ihrer Selbstreferenz leisten: Aus der Gefühlsästhetik der Empfindsamkeit wird so eine Art Strukturästhetik. Dafür aber steht nun in erster Linie die Instrumentalmusik; die Oper verliert ihren dominanten Rang. Damit ist auch ein Wechsel in der Kommunikationsstruktur verbunden: aus der geselligen Rezeption des Musiktheaters wird in der romantischen Theorie die isolierte Kontemplation im ‚Geisterreich der Töne’.“395 Krämers Formulierung, die Oper verliere ihren dominanten Rang, bedeutet nicht, daß sie im ästhetischen und poetologischen Diskurs unbedeutend würde. Viel zu einfach gezeichnet ist allerdings Krämers Verweis auf die Kommunikationsstruktur, deren Veränderung von der geselligen zur einsamen Rezeption – von der Oper zur Musik – erstens keineswegs erst eine Sache der romantischen Musikästhetik war; das hat die Studie von Laurenz Lütteken zum Monologischen als Denkform in der Musik in den 1760er bis 1780er Jahren gezeigt. Und zum zweiten behandelt auch die romantische Literatur, die sich auf Modelle des Musikalischen beruft, gesellige Kommunikationsstrukturen, man denke nur an Erzählzyklen wie E.T.A.

Hoffmanns Serapionsbrüder und Tiecks Phantasus oder, im Vergleich dazu, Goethes Unterhaltungen mit dem Märchen als Schlußstück und den Wilhelm Meister. Der von Jörg Krämer bezeichnete „Wechsel“ ist wohl eher als eine Frage des Mediums zu beschreiben, als ein Wechsel von der Musik(theater)praxis zur dichterischen Imagination, die ihrerseits zunehmend mit Musik- und Opernszenen durchsetzt wird.

Im ästhetikgeschichtlichen Teil der Studie zeichnet Krämer vier Stationen nach, die von der

„Kritischen Poetik“ Gottscheds über empfindsame Positionen und deren Radikalisierungen hin zur „Individualität“ schließlich zur „Ästhetischen Autonomie“ der Klassik führten. Dabei handele es sich angesichts des vielgestaltigen, differenzierten, nicht-zentralistischen deutschen Kulturraums keinesfalls um einen geradlinigen Ablösungsprozeß.396 Vielmehr weist die Theoriebildung eine hohe Komplexität und Widersprüchlichkeit auf, der Krämer durch die Analyse von „dominanten Positionen“397 Rechnung trägt. Man muß von einer zunehmend vielfältigeren und verzweigteren theoretischen Debatte ausgehen, in der ältere und neuere Positionen spannungsvoll nebeneinander existieren. Die vierte Stufe ist den Positionen der 1790er Jahre vorbehalten, die explizit als „minoritäre“ bezeichnet werden.

Sie integrieren die Oper oder operieren sogar mit Oper als ästhetischem Modell:

„In den 1790er Jahren schließlich zeigen sich verschiedene (minoritäre) Versuche, neue poetologische Ansätze zu entwickeln, die die Defizite und Probleme der älteren Poetik lösen könnten (Weimarer Klassik, Frühromantiker); dabei wird die Oper jeweils integriert, erhält z.T. auch eine ausdrückliche Vorbildrolle zugesprochen.“398

395 Ebd., S. 771.

396 „Denn zum einen verläuft die historische Entwicklung nicht geradlinig im Sinne von Ablösung älterer Positionen durch neuere – schon gar nicht in einem teleologischen Sinne, in dem die ältere Forschung meist das ganze 18. Jahrhundert als ‚Vorbereitung’ auf die Weimarer Klassik zulaufen ließ, die dann alle älteren Positionen ‚überwunden’ hätte.“ (Ebd., S. 601.)

397 Ebd., S. 601.

398 Ebd.

Trotz einer gewissen Überbetonung der klassischen Autonomieästhetik stellt Krämer klar, daß es sich um einen “Paradigmenwechsel” auch innerhalb der romantischen Ästhetik Kunstströmungen handelt, ist doch die beiden gemeinsame Absetzbewegung gegen die älteren Ästhetiken des 18. Jahrhunderts gerichtet:

„Mit dem Paradigmenwechsel aber, der sich um 1800 in der klassischen und der romantischen Musikästhetik vollzieht, werden die älteren Konzeptionen des 18.

Jahrhunderts zum Antityp; sie werden zunehmend weniger verstanden.“399

Krämers Thesen weisen dem deutschsprachigen Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts die prominente Rolle bei der Formulierung und Erprobung von nachaufklärerischer Subjektivität zu. Noch vor dem Roman und der „bürgerlichen“ Sprechdramatik bildet das deutsche Musiktheater ab den 1770er Jahren das „breiteste, massenwirksamste Forum, auf dem ein neues Verständnis von Subjektivität sich konstituiert und diskutiert wird.“400 Auch für die primär literaturwissenschaftliche Perspektive erweist sich das Musik theater als ein

„Phänomen von hoher Bedeutung; die meisten Autoren der Zeit bemühten sich um diese Gattung, die aufgrund der engen praktischen Verflechtung mit dem Sprechtheater auch die literarische Produktion erheblich beeinflußte. Als faktische Realität wirkte sich das Musiktheater auf die weitere Entwicklung des deutschen Dramas weit stärker aus, als in der Fachperspektive meist bewußt ist.“401

Die enge Berührung zwischen Musiktheater und Literaturtheorie der Zeit mag schon wegen der personellen Verflechtung nicht überraschen. Umso mehr verwundert, so Krämer, die

„Vernachlässigung des gesamten Problemkreises seitens der literaturwissenschaftlichen Forschung.“402 In diesem Zusammenhang mache sich die Problematik des Kanons bemerkbar. Für den Bereich Singspiel/deutsches Musiktheater hat die Literaturwissenschaft bis jetzt praktisch nur die Libretti von Goethe einigermaßen eingehend untersucht.403 Der für das deutsche Drama im 18. Jahrhundert hochbedeutende Pietro Metastasio, Wiener Hofpoet und europaweit meistgespielter Librettist, wird von der Literaturwissenschaft praktisch gänzlich ignoriert. „Geschichtsklitterung“404 herrsche auch in der Musikwissenschaft vor, in der Gluck als Wegbereiter Wagners stilisiert wird,405 die

„unreine“ Gattung Oper sich ohnehin nur schwer vor der als „autonom postulierten

399 Ebd., S. 775. – Es muß aber betont werden, daß die Gefühls- und Ausdrucksästhetik des 18.

Jahrhunderts nie ganz verschwand, sie ist bis heute im Musikdiskurs aktuell – und das nicht nur in der Populärästhetik.

400 Ebd., S. 7.

401 Ebd.

402 Ebd., S. 8.

403 „Ähnlich wie in der Musikwissenschaft können hier lediglich die ‚großen’ Autoren als gut erforscht gelten, d.h. in diesem Zusammenhang ausschließlich Goethe.“ (Ebd., S. 50.)

404 Ebd., S. 45.

405 Vgl. ebd., S. 49.

Kompositionsgeschichte“ behaupten kann und bis heute eine „spürbare Abneigung gegen sogenannte ‚Kleinmeister’“ zu verzeichnen ist.406

Das deutsche Musiktheater weist auch insofern eine große Nähe zum Sprechtheater auf, als es sich organisatorisch im Umkreis der Wanderbühnen entfaltete und nicht als Ableger der italienischen Opernkultur, sondern als „Teil einer lebendigen Theaterkultur“407 entsteht.

Der Zeitrahmen, den Krämer untersucht, erstreckt sich dabei vom Ende der 1760er Jahre (Weiße/Hiller) bis zu den 1790er Jahren und endet mit der erfolgreichen Durchsetzung von Mozarts gattungsmischender Zauberflöte (UA 1791). Man kann mit Krämer das reine Sprechtheater im 18. Jahrhundert regelrecht als eine „Chimäre“408 bezeichnen. In der Produktionspraxis der Wanderbühnen vermischten sich Musik- und Sprechtheater derart, daß man hier gar nicht von einem reinem Sprechtheater reden kann:

„Fast alle Theaterformen sind in der Praxis mit Musik durchsetzt. Das deutsche Musiktheater und das deutsche Sprechtheater bilden im 18. Jahrhundert weitgehend eine Einheit – nicht nur im Bereich der Distribution, sondern auch in Produktion und Rezeption sowie in einer gegenseitigen, inhaltlichen wie strukturellen Beeinflussung und Abstoßung.“409

Dieser Zusammenhang von Musik- und Sprechtheater ist eine wichtige Prämisse für die Einordnung der Funktionen des Modells Oper. Das gilt speziell für den Bereich der Dramentexte mit opernhaften Elementen, da über den regulären Faktor Schauspielmusik die Musik ohnehin einen Anteil auch am Sprechtheater hat; die Übergänge zwischen Sprech- und Musiktheater werden schon aus gattungsgeschichtlichen Gründen fließend.

Die Verbindung von Musik - und Sprechtheater und der insgesamt hohe Anteil von Opern aller Art am Theaterrepertoire, der gerade in den 1790er Jahren einen Höhepunkt erlebte, stellen außerdem ein wichtiges Element für den Erfahrungshorizont der zur Diskussion stehenden Autoren dar. Reinhart Meyer, der den Anteil des deutschen Musiktheaters am Repertoire der deutschen Bühnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts untersucht, stellt eine enorme Steigerung seit den 1770er Jahren fest, die – abgesehen von den erklärbaren großen Schwankungen an den einzelnen Spielort-Typen (Residenzen oder Bürgerstädte) – insgesamt in einer allgemeinen Dominanz des Musiktheaters in den 1790er Jahren mündet:

406 Ebd., S. 46 – Ein typisches Beispiel für die abschätzige Einstufung der „Kleinmeister“ stellt der für die ält ere Librettoforschung einschlägige, wenngleich arg gönnerhaft und populistisch formulierte Generalüberblick von Kurt Honolka dar: „Daß beide [Libretti von Wieland, S.L.] von einem unbedeutenden Komponisten, dem Kapellmeister Anton Schweitzer vertont wurden, fällt weniger ins Gewicht als der gewaltige Erfolg der Alceste und die Tatsache, daß zum erstenmal seit über hundert Jahren ein großer deutscher Dichter sich der deutschen Oper angenommen hatte.“ (Kurt Honolka: Opern. Dichter. Operndichter. Eine Geschichte des Librettos. Stuttgart 1962, S. 32.)

407 Krämer, S. 11.

408 Ebd., S. 29.

409 Ebd. Dazu gehört auch die Identität von Sängern und Schauspielern im Bereich der Wanderbühnen, ähnlich auch für die Hoftheater (vgl. ebd., S. 30). – Vergleichbares stellt Flaherty fest: „(...) many Sturm und Drang writers became as interested in regenerating German musical drama as they were in revolutionizing German spoken drama. Their interest benefited both. It led to the creation of theatrical works that purposeley dissolved the boundaries between the two.“ (Flaherty, S. 287.)