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Modell Oper heute: Operntheoretische Positionen von Bie bis Adorno und Lindenberger

2. Modell Oper (I) : Bedingungen und Systematik

2.1. Modell Oper heute: Operntheoretische Positionen von Bie bis Adorno und Lindenberger

So sehr sich die Kontexte unterscheiden, aus denen heraus Partei für die Oper ergriffen wird, so bemerkenswert ist die Emphase, die selbst durch nüchterne wissenschaftliche Texte hindurchscheint. Sie korrespondiert mit einer auffallend häufigen Übereinstimmung in den Argumentationen für die Überlegenheit der Kunstform Oper, etwa als Ideal für die Vereinigung der Künste oder aufgrund ihrer paradigmatischen Artifizialität. Immer wieder scheinen Exkurse und ganze Abhandlungen zu einer Theorie der Oper gleichsam als Rechtfertigung ihrer paradoxen Existenz für notwendig erachtet zu werden, oft verbunden mit der Vorstellung eines Kunstideals, dem gerade das Musiktheater in all seiner Widersprüchlichkeit am nächsten komme – auch und gerade wenn die Diskrepanz zwischen Opernwirklichkeit und Ideal artikuliert wird. Wenn dieses Kunstideal nicht in seiner Erscheinung auf den Opernbühnen zu finden ist, so doch in seiner diskursiven Modellierung,

die die Oper seit ihrer Erfindung am Ende des sechzehnten Jahrhunderts begleitet. So verstanden ist ‚Oper’ ein diskursiver Ort, der vielfältig beschworene Traum vom vollkommenen Kunstwerk, ein Mythos. ‚Oper’ steht für eine nur in der Kunst – in dieser Kunstform – denkbare Utopie von Welt.

Anknüpfend an die Überlegungen zu Beginn der Einleitung lassen sich an dieser Stelle einige weitere Aspekte zum Zusammenhang von Film und Modell Oper ausführen. Ein bestimmter Argumentationsstrang im Operndiskurs spricht vom Film (oder bestimmten Filmgattungen) als der Fortsetzung der Oper mit anderen Mitteln, nämlich den technisch neusten Errungenschaften93, oder, wie es der Regisseur George Lucas formuliert, als „ein Ableger der Tradition der Oper“94. Man kann von einer Aktualisierung des ästhetischen Konzeptes Oper für die Kunstform Film in mehrerer Hinsicht sprechen. Zum einen in Bezug auf zwei Kategorien, die beim Vergleich von Oper und Film immer wieder zur Sprache kommen: die Kategorie der kulturellen Funktion und die der ästhetischen und strukturellen Parallelen (hier wäre besonders nach den Funktionen der Filmmusik zu fragen, aber auch nach Erzähltechniken und dramaturgischen Besonderheiten). Insoweit die Oper dem Film zeitlich vorausgeht, beinhalten die beiden Kategorien eine Konzeption der Oper als Modell für den Film. Zusätzlich kann für die Sachebene der Entwicklung des Films ein (impliziter) ästhetischer und struktureller Rekurs auf die Oper als historisches Vorbild konstatiert werden sowie in den aktuellen Zuschreibungen von ‚Opernhaftigkeit’ in Filmen eine Ausprägung des Modells Oper gesehen werden.

Der Vergleich von Oper und Film, bei dem der Film an den Kategorien der Oper gemessen wird, ist so selbstverständlich, daß er häufig und gerne im Feuilleton aufgegriffen wird. In einem Artikel zum „Fantasy Film Festival 2002“ beispielsweise werden eine Fülle von ästhetischen und strukturellen Aspekten wie Expressivität und Unwahrscheinlichkeit, die besondere Rolle der Musik, Artifizialität und Stilisierung, aber auch (technisches) Spektakel benannt, die das Genre des Fantasy Films mit der Oper teilt:

„Die große emotionale Wirkung guter Fantasyfilme ist mit der Oper zu vergleichen. Die Musik, die oft bis an die Grenze der Erschöpfung singenden Menschen schaffen eine Ästhetik, die nichts mehr mit der Abbildung von Alltag zu tun hat. Oper ist Ausdruck überlebensgroßer Gefühle, sie packt ihr Publikum direkt an den psychischen Urbildern von Sehnsucht, Angst, Liebe und Hass. Kein

93 Vgl. auch die These von K. Ludwig Pfeiffer zum Film als Nachfolger der Oper, die sich auf den technischen Aufwand beider Kunstformen bezieht: „Wenn Opernaufführungen von Anfang an (und natürlich erst recht in den mythologisierenden Gesamtkunstwerken Wagners) nicht ohne massive Technologisierung (‚Maschinerien’) denkbar sind, dann macht es, dies nebenbei, Sinn, den Film als den anthropologisch-medialen Nachfolger der Oper anzusehen – ein Vergleich, der bereits häufig, auch von Adorno, gezogen worden ist.“ (K. Ludwig Pfeiffer: Die (Neu-)Inszenierung des Anthropologischen. Zur Funktionsgeschichte von Theater und Oper. In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. II (1992), S. 7-30, hier S. 15.)

94 George Lucas im Interview mit der Frankfurter Rundschau (wie in Kap. 1, Anm. 2). – Übrigens läßt sich schon bald nach Erfindung des Films auch das umgekehrte Phänomen beobachten: die Rezeption der Oper nach Maßgaben des Films. So wurde beispielsweise Puccinis Tosca von Oskar Bie als zu „filmisch“ kritisiert und von Joseph Kerman als „schäbiger Schocker“ bezeichnet (Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene, Bd. 3/I: Das 20. Jahrhundert I. Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus. Kassel, Basel 2000, S. 351).

Wunder, daß viele Opern – zum Beispiel das gesamte Werk Richard Wagners95 – auf Stoffen beruhen, aus denen sich prächtige Fantasyfilme drehen lassen würden. Die Oper und das Kino des Übernatürlichen haben viele Gemeinsamkeiten. (...) Die Faszination für Fantasy zieht sich als zentraler Punkt durch die Kulturgeschichte. (...) Die Effekte waren in allen Fällen stilisiert, rote Fäden sollten Blut darstellen. Aber das Publikum hatte gelernt, diese theatralen Zeichen zu dechiffrieren, ohne darüber nachdenken zu müssen, es reagierte, als handele es sich um echtes Blut.96

Die Chiffre ‚Oper’ als kulturelles Paradigma wird umbenannt in ‚Fantasy’, die inhaltlichen Konzepte, die dessen modellhaften Status begründen, sind diejenigen, die bereits um 1800 an der Oper entwickelt wurden.

Reinhard Strohm bezieht sich bei seinem Vergleich von Oper und Film, den er in der Einleitung seiner grundlegenden Arbeit Die italienische Oper des 18. Jahrhunderts zieht, vor allem auf die sozialen Funktionen und vertritt, wie auch Herbert Lindenberger97 und andere, die These von der Ablösung der Oper durch den Film als vitaler Großform. Die heutige Oper erfülle nicht mehr dieselbe Rolle wie im 18. Jahrhundert, eine Parallele zu der damals als „Kulturfaktor“98 kaum zu überschätzenden Oper könne heute vielmehr in Film und Fernsehen gesucht werden. Dabei macht Strohm die Funktionalitäten nicht zuletzt an dem äußerlich Sichtbaren, der „architektonische Selbstständigkeit“99 der Opernhäuser, fest und weist darauf hin, daß in den alten Theaterbauten in italienischen Städten heutzutage nicht selten in Betrieb befindliche Kinos untergebracht sind.

Die Anlehnung in bestimmten Filmgenres an das Modell Oper beschreibt Joseph Früchtl in seinem Beitrag Der Schein der Wahrheit. Adorno, die Oper und das Bürgertum in dem Band Ästhetik der Inszenierung. Früchtl erweitert das von Adorno untersuchte Genre des Westerns um das der ‚Weltraumoper’ und der großen Melodramen und ruft dabei einige klassische Kategorien des Operndiskurses wie Sinnlichkeit und Erhabenheit, Spektakel und Expressivität auf:

„Kein Western hat sein Genre mehr zur Schau gestellt als dieser [gemeint ist Spiel mir das Lied vom Tod, S.L.], keiner sich in seiner sinnlichen Opulenz und

95 Und ohne Frage wäre Richard Wagner heutigen Tages Filmregisseur und -produzent geworden.

Wäre er der erste Regisseur einer Verfilmung der Herr der Ringe-Trilogie von J.R.R. Tolkien geworden, die in Ästhetik, Mythologie-Bezug und epischer Breite Wagners Ring gleicht? Folgende Meldung könnte das nahe legen: „Der Tenor Placido Domingo, der auch Chef der Oper in Los Angeles ist, will für eine Aufführung von Wagners Ring des Nibelungen George Lucas verpflichten.

Der Science Fiction-Regisseur der erfolgreichen Filmreihe Star Wars habe eine ‚ungeheure mystische Fantasie’, sagte der Sänger. Wenn Richard Wagner noch lebte, würde er Lucas für seinen Ring engagieren, meinte Domingo.“ (dpa-Meldung vom 29. August 2002.)

96 Stefan Keim: Die Ehrlichkeit der Fantasy. In: Frankfurter Rundschau vom 07. August 2002, S. 20.

97 Herbert Lindenberger: Opera. The extravagant art. Ithaca and London 1984., S. 16

98 Reinhard Strohm: Die italienische Oper im 18. Jahrhundert. Wilhelmshaven 1979, S. 12. – Noch deutlicher formulieren Herbert Schneider und Reinhard Wiesend den grundsätzlichen Wandel in der Bedeutung der Oper: „Denn infolge einer in der Kulturgeschichte in diesem Ausmaß selten anzutreffenden Werte- und Akzeptanzverschiebung muß sich der moderne Betrachter stets auf Neue die besondere und grandiose Rolle der Gattung Oper im 18. Jahrhundert ins Gedächtnis zurückrufen.“ (Herbert Schneider u. Reinhard Wiesend: Die Oper im 18. Jahrhundert. Laaber 2001 (Handbuch der musikalischen Gattungen; 12), S. 9.

99 Strohm, S. 10.

Erhabenheit mehr der Oper genähert. Und das gilt in noch größerem Maße von anderen Genres, vom Melodram bis zum Science-Fiction-Film, von den imposanten Spektakeln aus dem Krieg der Sterne und den berauschenden Gefühlsaufwallungen in Technicolor aus Vom Winde verweht.”100

In dieser Art der Bezugnahme auf die Oper als ästhetisches Modell für den Film schwingen noch die rationalistischen Kategorien der Opernkritik des 18. Jahrhunderts mit, vor allem im Konzept des ‚Scheins’, der für Früchtl eine zentrale Kategorie darstellt.

Über Konzepte von Oper als Modell für andere Künste hinaus erscheint das Kulturphänomen Oper heute nicht nur als ästhetisches Modell, sondern vielfach auch als eine Projektionsfläche für das ‚Andere’ und für ‚Ausgegrenztes’, als ein wie auch immer geartetes Gegenmodell. Zum Modell für das Ästhetische schlechthin und für die Literatur wird sie von Oskar Bie erklärt, dessen Vorstellung von der Oper als „unmögliches Kunstwerk“101 zum Topos avancierte, in Karl Ludwig Pfeiffers medialer Anthropologie der Oper, in Matthias Meyers Literaturgeschichte über die Oper als „künstlicher Naturzustand“

oder in der vielbeachteten Studie über die Oper als „the Extravagant Art“ von Herbert Lindenberger, der zufolge die Oper „the last remaining refuge of the high style“102 ist (ausführlich zu diesen Arbeiten siehe unten).

Erwähnt seien einige weitere Beispiele, in denen die Oper als die außergewöhnlichste Kunstform und als Projektionsfläche für das ‚Andere’ erscheint. Der Musikjournalist Michael Walsh läßt in seinem enthusiastisch verfaßten Buch für Operneinsteiger Who’s Afraid of Opera? kaum ein Klischee des Operndiskurses aus und erklärt die Oper schlicht zur

„großartigsten Kunstform, die die Menschheit je erfunden hat“.103 Auch Ansätze aus feministischer und ‚schwuler’ Perspektive sind hier zu nennen. Catherine Clément analysiert in Die Frau in der Oper diese Kunstform als ein Residuum für anthropologisch-archetypische Gesellschaftsformationen104. Elisabeth Bronfen versteht sie in ihrer Studie zur Hysterie als Ausdrucksform für tiefenpsychologische Strukturen105. Zum Fetisch für das homoerotische männliche Begehren werden bei Wayne Koestenbaum die Oper, die Stimme der Diva, die Schallplatte mit den Opernarien und dem Loch in der Mitte.106

100 Josef Früchtl: Der Schein der Wahrheit. Adorno, die Oper und das Bürgertum. In: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens.

Hg. v. dems. u. Jörg Zimmermann. Frankfurt a. M. 2001, S. 164-182, hier S. 179.

101 Bie, S. 9.

102 Lindenberger: S. 15. Lindenberger macht diese Vorstellung von Oper zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, verweist jedoch nicht auf deren Herkunft. Die Formulierung stammt von W. H.

Auden, der auf die Frage, warum er Libretti schreibe, (nicht unbedingt ironiefrei) geantwortet haben soll, er tue dies, „because opera was the last refuge of the high style.“ Vgl. Gary Schmidgall: Literature as Opera, New York 1977, S. 10.

103 Michael Walsh: Keine Angst vor Opern [Who’s Afraid of Opera?, 1994]. München 1997, S. 13.

104 Catherine Clément: Die Frau in der Oper. Besiegt, verraten und verkauft [L’opéra ou la défaite des femmes, 1979]. München 1994.

105 Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998. Bronfen bezieht sich auch auf Cléments Buch; vgl. die Abschnitte zur Zauberflöte und zu Wagner bei Bronfen.

106 Wayne Koestenbaum: Königin der Nacht. Oper, Homosexualität und Begehren [The Queen’s Throat. Opera, Homosexuality and the Mystery of Desire, 1993]. Stuttgart 1996.

An diesen Beispielen aus dem Randbereich des Modells Oper zeigt sich besonders deutlich die Umwertung des Kulturphänomens Oper von einer gesellschaftlichen Konvention, die über die progressiv ausgerichtete Funktionalisierung der Oper als ästhetisches Modell um 1800 bis zu der heutigen Bandbreite an kulturellen Vorstellungen von der Oper als

‚Aufbewahrungsort’ und Darstellungsform für gesellschaftlich Ausgegrenztes reicht – immer mit der Ambivalenz versehen, daß die Oper auch und zugleich die repräsentative gesellschaftliche Großform schlechthin darstellt. Möglicherweise liegt dieser Ambivalenz eine Art Paradigmenwechsel in Folge der romantischen Ästhetik zugrunde. Mit der Subversion traditioneller Identitätsgewißheiten zumal bei der kulturell führenden Schicht wechselt die Oper vom repräsentativen, ‚alten’ Affirmationsmodus zu einem ‚neuen’

kritischen Utopie- und Modellmodus. Konzepte wie die von Koestenbaum, der den Bereich des Ästhetischen mit dem des Sexuellen107 verknüpft, lassen sich in diesem Kontext, der Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Gesellschaft, die sich bei der Analyse des Modells Oper zwangsläufig stellt, als eine programmatische Verschränkung von Privatheit, Ästhetik und Öffentlichkeit auffassen, die nicht zuletzt direkt an die Doppeldynamik von Öffentlichem und Privatem in der Opernloge anknüpft. Solche Modell-Konzeptionen der Oper selbst im Unterhaltungssektor sind Resultat eines Opernverständnisses, dessen Diskursivierung sich bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgen läßt und dessen Prämissen man aus der Lektüre operntheoretischer Schriften des 20. Jahrhunderts gut herauspräparieren kann. Im folgenden werden fünf solcher Schriften vorgestellt, an denen sich exemplarisch die verschiedenen Ausprägungen des Modells Oper heute aufzeigen lassen.

Oskar Bie, der vielleicht emphatischste Verfechter der Oper als Modell alles Ästhetischen, bringt in seiner schlicht Die Oper betitelten Operngeschichte von 1913 die auch in anderen Texten zu beobachtende Überspielung der Grenzen zwischen Analyse der Oper und Aneignung des Gegenstandes als Modell nicht zuletzt für die eigene Schreibpraxis auf den Punkt: „Die Wissenschaft bleibt ihrem Stoff gegenüber keusch, die Kunst verheiratet sich mit ihm. Ich möchte künstlerisch begreifen, also über die Oper opernmäßig schreiben.“108 Neben Oskar Bie werden die folgenden kulturwissenschaftlichen Texte zur Oper, in denen die Konzeptionierung der Oper als ästhetisches Modell durchscheint oder sogar zum Programm erhoben ist, detaillierter vorgestellt: von Herbert Lindenberger eine Studie zur Oper als „extravagante Kunst“109, in der er – gestützt vor allem auf die Oper des 19.

Jahrhundert – die Modellhaftigkeit dieser ‚außergewöhnlichen Kunstform’ für die Kultur expliziert und für den Einfluß des Phänomens Oper auf die Literatur, der für ihn von besonderem Interesse ist, die Kategorie ‚operatic’ (‚opernhaft’) einführt; von Mathias Mayer der erst unlängst erschienene Aufsatz über die Modellhaftigkeit der Oper als

107 Zum Verhältnis von Oper und Erotik als Idee, Inhalt und gesellschaftliche Praxis vgl. Günther Schauenberg: Stereotype Bauformen und stoffliche Schemata der Oper. Nürnberg 1975, bes. das letzte Kap. „Die Stellung des Geschlechtlichen in der Oper“.

108 Bie, S. 12.

109 Vgl. den Titel von Lindenberger.

Künstlicher Naturzustand,110 in der er den Einfluß der Oper auf die Literaturgeschichte untersucht und dem die vorliegende Studie einige Anregungen verdankt; ein Aufsatz von K.

Ludwig Pfeiffer über die Oper als (Neu-) Inszenierung des Anthropologischen,111 dessen Beschreibung der Funktionalisierung von Oper und Theater eine Konzeption der Oper als ästhetisches Modell durchscheinen läßt; schließlich Adornos Reflexionen über die Bürgerliche Oper,112 in denen die Oper, trotz aller Kritik an dieser Kunstform, in den Status eines ästhetischen Modells für Adornos Dialektik von Mythos und Aufklärung gelangt.

Bies Operngeschichte stellt im Hinblick auf die Frage nach dem Modell Oper heute das wohl markanteste Beispiel für eine Konzeption der Oper als Modell für alles Ästhetische, ja sogar für die Kunst als Modell für das Leben dar. Sein Einfluß auf den Operndiskurs war für Generationen von Opernästhetikern prägend.113 Bies Text bildet ein wichtiges Scharnier zwischen romantischer Ästhetik und dem Beginn der Moderne des 20. Jahrhunderts. Sein paradigmatisches Modell der Oper ist aus dem Geist der Romantik, die der Musik einen besonderen Stellenwert im System der Künste zuspricht, heraus geschrieben und weist zugleich, als selbstbewußte und elegant verfaßte Operntheorie, in die heutige Zeit voraus.

Ganz offensichtlich erfüllt sich in der Formulierung „unmögliches Kunstwerk“ das Bedürfnis nach einer absoluten Artifizialität, die in der Oper paradigmatisch verwirklicht zu sein scheint. Damit steht Oper nie nur für sich, sondern immer auch als Modell für ein bestimmtes Kunstkonzept, das durch seine antirationalistischen Tendenzen den höheren Wahrheitsgehalt beansprucht.

Mit der paradoxen Feststellung „Die Oper ist ein unmögliches Kunstwerk“ leitet Bie seinen Essay „Die Paradoxie der Oper“, der das erste Kapitel von Die Oper darstellt, ein. Diese Formulierung avancierte im opernkritischen Schrifttum zum Topos, unzählige Autoren rekurrieren bis heute darauf – und sei es in der Form einer Verneinung dieses Paradoxons.

Der Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer gab seiner 1991 erschienenen Sammlung von Beiträgen zur Operngeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts den Titel „Oper – Das mögliche Kunstwerk“. Er sei die ironische Umkehrung von Bies ebenso ironischer Apostrophierung des von ihm geliebten Gegenstandes, wie Fischer im Vorwort anmerkt.114 Mit einer Ausweitung der ästhetischen zu einer sozialgeschichtlichen Fragestellung reflektiert Michael Walter in der Einleitung zu seiner Darstellung der Sozialgeschichte der Oper im neunzehnten Jahrhundert noch in jüngster Zeit Oskar Bies Formulierung vom

„unmöglichen Kunstwerk“:

„Es ist heute fast schon ein Topos, eine größere Darstellung der Operngeschichte mit Oskar Bies berühmt gewordenem ersten Satz seines Buches über die Oper von

110 Mathias Mayer: Künstlicher Naturzustand. Zur Literaturgeschichte der Oper. In: IASL 20, 2/1995, S. 155-172.

111 Wie Anm. 93.

112 Theodor W. Adorno: Bürgerliche Oper. In: Gesammelte Schriften, Bd. 16: Musikalische Schriften I-III. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1978, S. 25-39.

113 Von dem anhaltenden Interesse an Bies Opernbuch zeugen auch die vielfachen Neuauflagen einschließlich des sehr schön gestalteten Reprints von 1980 (wie Anm. 92).

114 Jens Malte Fischer: Oper – das mögliche Kunstwerk. Beiträge zur Operngeschichte des 19. und 20. Jahrhundert. Anif/Salzburg 1991, S. V.

1913 einzuleiten, der lautet: ‘Die Oper ist ein unmögliches Kunstwerk.’ Dieser Satz scheint zwanglos mit der – ebenfalls häufig zitierten – Behauptung korrelierbar zu sein, nach der das Theater ein Irrenhaus und die Oper die Abteilung für Unheilbare sei.“115

Kurt Honolka – um ein letztes Beispiel anzuführen – spielt in einer kritischen Bilanz des deutschen Musiktheaters auf Bies Diktum an. So viele „ästhetisch oder gesellschaftlich bedingte Krisen“ diese ‚unmögliche Kunstform’ bereits glücklich bewältigt habe, die

„gegenwärtige Opernkrise“ [der Achtziger Jahre] trägt für Honolka „keine produktiven, selbsterneuernden Züge mehr“.116

Das Paradoxon, daß Oper als „unmöglich“ begriffen wird, während sie zugleich existiert und in einer Operngeschichte, die Bie ja selbst schreibt, dargestellt werden kann, hebt die Einzigartigkeit der Oper und deren Führungsanspruch im Bereich des Ästhetischen hervor.

Im ersten Teil seines Buches, das mit „Die Paradoxie der Oper“ überschrieben ist, führt Bie sieben, wie er es nennt, „Widersprüche“ aus, wegen derer die Oper eigentlich gar nicht existieren dürfte. Nichtsdestoweniger schreibt Bie im Hauptteil von Die Oper (S. 97-555) einen Abriß der Operngeschichte, den er in einer Wagner-Apotheose münden läßt. Wagners Werk legt Bie als Erscheinenlassen der Paradoxie der Oper aus und löst damit auf sehr eigenwillige Weise die Differenz zwischen realem Werk und dem ästhetischen Ideal, das die Oper verkörpert, sozusagen in einer Potenz auf: „Wagner ist die Paradoxie der Oper als Erlebnis.“117

In Oskar Bies emphatischer Beschreibung der „Paradoxie“ der Oper ergreift diese selbst das Wort und präsentiert sich als Diva, die ihrem Publikum, ihrem Schreiber „diese Kußhand“

zuwirft. In geradezu barocker Allegorisierung erscheint die Oper als Diva, als Figur der Inszeniertheit an sich, als Verkörperung der reinen Künstlichkeit; diese Figur ist zugleich aber nur als Illusion existent, die „Oper bleibt ein Begriff, ein Wunsch, ein Ideal, um so heißer ersehnt, als die bunte Sinnlichkeit ihres geschichtlichen Lebens uns zum Gla uben an ihre Macht verführt“118. Bie formuliert anhand der Oper, der er sich durch die dialektische Figur der „Widersprüche“, in deren Spannungsfeld sie sich konstituiert, zu nähern versucht, die äußerste denkbare Position des Ästhetischen und erhebt sie dabei zum Ideal für alle Künste:

„Also habe ich das Wesen der Oper in einer Reihe von inneren Widersprüchen gefunden, die sie am Leben erhalten und die ihr Leben so reizvoll, so schwankend, so romantisch gestaltet haben. Sie ist die Kunst der Widersprüche, mehr als irgendeine andere. Ja, es ist ihr Problem, widersprechende Künste aufeinander zu führen, um sie in ihren letzten Spannungen zu erproben, und da es im Grunde nur eine einzige Ästhetik gibt, nämlich die des Widerspruchs von Kunst

115 Michael Walter: Die Oper ist ein Irrenhaus. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1997, S. 1.

116 Kurt Honolka: Die Oper ist tot – die Oper lebt. Kritische Bilanz des deutschen Musiktheaters.

Stuttgart 1986, S. 7. Zu Honolkas Arbeiten für das Musiktheater zählt auch die breit rezipierte Darstellung der Geschichte des Librettos, die einige Hinweise auf opernhafte Stelle in literarischen Werken, etwa bei Goethe, enthält (Kurt Honolka: Opern, Dichter, Operndichter.

Eine Geschichte des Librettos. Stuttgart 1962).

117 Bie, S. 421.

118 Ebd., S. 10.

und Leben und von Kunst zu Kunst, so ist sie eine leibhaftige Lehre alles Ästhetischen geworden, das wir an ihr mit lächelndem Munde ablesen. Sie ist der große Kriegsruf der Künste, die große Illusion ihrer Verwandtschaft, die wunderbarste Enttäuschung und das ungelöste Problem – ein ewig Werdendes, das im Spiel der Kräfte sich erhält und sich vergnügt.“119

Hinter Oskar Bies Konzeption der Oper als Figuration eines übersteigerten Ästhetizismus zeichnet sich deutlich die Tradition der romantischen Ästhetik ab. Mit der Figur des „ewig Werdenden“ aktualisiert Bie für die Oper die romantische Figur der unendlichen Annährung. Die Sehnsucht nach dem sich unendlich potenzierenden Kunstwerk, die sich im Paradoxon der Oper manifestiert, erinnert an Friedrich Schlegels Konzeption der romantischen Poesie als eine „progressive Universalpoesie“, die alle „getrennte Gattungen der Poesie“, alle Künste und Lebensbereiche vereinigen soll:

„Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. (...) Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“120

Was bei Schlegel „Universalpoesie“ heißt, ist bei Bie die Oper, die zum Modell für alles Ästhetische avanciert.

Herbert Lindenberger schreibt der „extravaganten Kunstform“ Oper eine einzigartige Position innerhalb ihres kulturellen Kontextes zu, die mit Bies Konzept des „unmöglichen Kunstwerks“ vergleichbar ist: „Opera occupies a unique position in our culture.“121 Auch wenn Lindenbergers literaturwissenschaftlich geschulte Methodik denkbar weit von Oskar Bies ästhetizistischem Essayismus entfernt ist, geben beide in ihren Darstellungen der Oper eine modellhafte Kontur. Lindenberger stellt nicht nur Ästhetik und Geschichte der Oper dar, sondern erprobt an seiner Darstellung der Oper eine Multiperspektivität, die er von den strukturellen Gegebenheiten der Oper selbst ableitet. Im Vordergrund seiner Studie stehen allgemeine Ideen und Problemstellungen, die im Zeichen der Oper aufgeworfen werden und weit über ihre musiktheatralische Existenz hinausweisen. Aufgrund ihrer singulären kulturellen Position sei die „außergewöhnliche Kunstform Oper“ schon immer mehr als nur die Summe einzelner Werke gewesen. Sie ist vielmehr ein Phänomen, so Lindenberger, das in einzigartiger Weise Fragestellungen unserer Kultur verhandelt und eine anhaltende Tradition im System der Künste und der Kulturgeschichte darstelle:

119 Ebd., S. 13. Vgl. Bies Formulierung von der Oper als „leibhaftige Lehre alles Ästhetischen“ mit Walter Paters vielzitierter analogen Formulierung zur Musik: „All art constantly aspires towards the condition of music” (1877, zitiert nach Wolf: The Musicalization of Fiction, S. 101).

120 Friedrich Schlegel: 116. Athenäums-Fragment. In: Ders.: Kritische und theoretische Schriften.

Hg. v. Andreas Huyssen. Stuttgart 1978, S. 90f. Zur romantischen Ästhetik und dem Modell Oper bei Schlegel vgl. unten Kap. 5.2.

121 Lindenberger, S. 16.